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Filmmuseum

La vita amara

| Jörg Schiffauer |
Das Filmmuseum widmet Vittorio De Sica eine umfassende Retrospektive. Betrachtungen zu seinem Werk am Beispiel von „Umberto D.“ (1952).

Umberto Domenico Ferrari scheint am Ende seines Weges angekommen zu sein. Der alte Herr sieht keinen anderen Ausweg mehr, als endgültig Schluss zu machen. Doch selbst jetzt hält das Leben noch eine zusätzliche Grausamkeit bereit. Denn Umberto ist es trotz aller Anstrengung nicht gelungen, einen Platz für seinen alles geliebten Hund Flaik – dem einzigen Wesen, das trotz allen Widrigkeiten immer an seiner Seite geblieben ist – zu finden. Einem kleinen Mädchen, das schon mehrmals mit Flaik gespielt hat, möchte Umberto nun Flaik überlassen, doch die Eltern wollen den Hund  – obwohl ihre Tochter ihn so gern hat – nicht einmal geschenkt haben, denn das würde ja nur Umstände machen. Eine vielleicht alltägliche Herzlosigkeit, doch für Umberto die letzte Demonstration, wie kalt die Welt um ihn herum geworden ist. Also nimmt Umberto Domenico Ferrari seinen kleinen Freund auf den Arm und geht in Richtung der Bahngleise, wo ein heranbrausender Zug immer schneller näher kommt.

Die Stellung von Umberto D. als herausragendes Beispiel für die Arbeiten des Neorealismu und als ein Film, der sich seinen Platz als Klassiker des Weltkinos schon längst gesichert hat, ist zweifellos unbestritten. Doch einmal abgesehen davon, dass Umberto D. schlicht und einfach ein grandioser Film ist, repräsentiert er in mehrfacher Hinsicht jene Qualitäten und Facetten, die Vittorio De Sicas Schaffen als Regisseur auszeichnen, geradezu exemplarisch.

Zunächst markiert Umberto D. sowohl einen Höhe- als aber auch in gewisser Weise den Endpunkt des Neoverismo, der in den wenigen Jahren seiner Hochblüte – beginnend mit Luchino Viscontis Ossessione 1943 oder, je nach Sichtweise, mit Roberto Rossellinis Roma, città aperta (1945) – einige der einflussreichsten und bedeutendsten Werke der Filmgeschichte hervorgebracht hatte. De Sica, in den dreißiger Jahren einer der populärsten Schauspieler Italiens, zählte dabei zu den wichtigsten Regisseuren. Er hatte mit Sciuscià (Schuhputzer, 1946) und Ladri di biciclette (Fahrraddiebe, 1948) bereits zwei Meilensteine des Neorealismus gedreht, denen er 1952 mit Umberto D. einen weiteren hinzufügte. Das Drehbuch verfasste Cesare Zavattini, neben Umberto Barbaro einer der großen Theoretiker des Neoverismo, der auch schon an den Skripts von Sciuscià und Ladri di biciclette mitgewirkt hatte der und über viele Jahre weiterhin als Drehbuchautor eng mit De Sica zusammenarbeiteten sollte. Die von Barbaro postulierte Forderung, ein „wahrhaftiges Kino zu realisieren, das von menschlichen Problemen handelt statt als Traumfabrik eine Kompensation darzustellen“ wird mit Umberto D. beispielhaft erfüllt.

Umberto D., überwiegend mit Laiendarstellern besetzt, zeichnet ein Bild Italiens in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Nach den langen Jahren faschistischer Diktatur und dem Kriegsende erlebt das Land die Hinwendung zur modernen Welt – politisch und ökonomisch. Doch diese gewaltigen Umbrüche hinterlassen – zurückhaltend formuliert – Spuren im sozialen Leben. Die Auswirkungen bekommt die titelgebende Figur Umberto Domenico Ferrari schmerzhaft zu spüren. Umberto ist ein freundlicher, kultivierter älterer Herr, der als pensionierter Beamter eigentlich seinen Ruhestand genießen sollte. Doch die enorm hohe Inflationsrate hat zur Folge, dass seine Rente einfach nicht mehr zum (Über-)Leben reicht. Dabei ist Umberto ohnehin schon mehr als bescheiden geworden, seit mehr als zwanzig Jahren begnügt er sich mit einem schlichten Untermietzimmer. Als seine Pension selbst dafür nicht mehr ausreicht, droht seine Vermieterin, ihn einfach auf die Straße zu setzen. Eine Sequenz zu Beginn des Films verdeutlicht, dass es sich dabei um keinen Einzelfall handelt, mit hunderten anderen Pensionären demonstriert Umberto gegen diese unhaltbaren Zustände. Doch als sich der Demonstrationszug dem verantwortlichen Ministerium nähert, greift die Polizei mit unangemessen drastischen Mitteln ein und löst die Versammlung abrupt auf. Als den Demonstranten sogar die Verhaftung droht – für die älteren Herrschaften eine Ungeheuerlichkeit –, ist es mit der
Solidarität schnell vorbei, etliche Teilnehmer kritisieren nun nicht mehr die für die sozialen Zustände Verantwortlichen, sondern die Organisatoren der Protestaktion und denken nur noch daran, unbehelligt wegzukommen. Das Phänomen der Entsolidarisierung ist allgegenwärtig in Umberto D.: Solange man noch jemanden findet, dem es noch schlechter geht und auf dem man bei Bedarf herumtrampeln kann, findet man die eigene
Lage noch erträglich und vermeint, zumindest seine eigene Haut in gerettet zu haben.

Die Personifizierung dieses unseligen Prinzips, dass gesellschaftliche Veränderungen verhindert, findet sich in der Gestalt von Umbertos Vermieterin: Diese, eine ehemalige Sängerin mittleren Alters, versucht krampfhaft, sich als Dame der „besseren Gesellschaft“ zu gerieren. Eine Fassade, die sie wohl nur für sich selbst aufrechterhalten kann, vermietet sie doch die Zimmer ihres Hauses bevorzugt stundenweise für amouröse Aktivitäten, die – Scheidungen wurden in Italien bekanntlich erst 1970 legalisiert – im Verborgenen ablaufen müssen. Ihre vermeintlich gehobene Position definiert die gar nicht feine Dame vor allem dadurch, dass sie die ärmsten Teufel kujoniert: Umberto, den sie ungeachtet all seiner Bemühungen, die Mietrückstände zu begleichen, kaltherzig vor die Tür setzen möchte, und Maria, ihr Hausmädchen, die von ihr wie eine Leibeigene behandelt wird. Bezeichnenderweise erweist sich Maria, aufgrund ihrer illegitimen Schwangerschaft im bigotten Italien selbst vom sozialen Abseits bedroht, als der einzige Mensch, der Empathie für Umberto entwickelt.

Vittorio De Sica setzt Umberto D. ohne große, einschneidende Katastrophe im dramaturgischen Sinn in Szene. Doch gerade durch die präzise Beobachtung von Situationen, die längst zum tristen Alltag des Protagonisten gehören und dabei doch seine fortschreitende Entfremdung demonstrieren, bezieht der Film seine Eindringlichkeit. Denn es ist vor allem die Gleichgültigkeit, mit der fast alle Menschen Umberto in seiner Not gegenübertreten – besonders deutlich wird das anhand der Begegnungen mit ehemaligen Kollegen aus dem Ministerium –, die De Sica in erschreckender, schmerzhafter  Klarheit vor Augen führt. Mit Umbero D. erfährt Roland Barthes’ Bezeichnung des Neorealismus als „moralischen Begriff“, der „genau das als Wirklichkeit darstellt, was die bürgerliche Gesellschaft sich bemüht zu verbergen“ seine Gültigkeit. Die Vertreter besagter bürgerlicher Gesellschaft rühren nämlich keinen Finger, um Umberto Domenico Ferrari, den einstmals respektierten Ministerialsbeamten, vor dem Sturz ins Nichts zu bewahren. Man vermeint dabei jenen Egoismus zu erkennen, der in jüngerer Vergangenheit von neoliberalen Proponenten zum Lebensprinzip erhoben wurde, was die Allgemeingültigkeit, aber auch die Aktualität von
Umberto D. noch unterstreicht.

Vittorio De Sica zeichnet ein Bild Italiens der Nachkriegsjahre abseits jeglicher Klischeevorstellungen. Rom ist hier keine vitale Stadt voller Lebensfreude, sondern ein Ort grauer Fassaden, an denen die Fensterläden geschlossen bleiben, gleichsam als Symbol für eine abweisende Haltung seiner Bewohner. Zwar entwickelt De Sica in Umberto D. nicht jene gnadenlose Direktheit, mit der Pasolini in Accattone (1961) auf soziale Realitäten verweist, denn trotz aller Deutlichkeit zeigt sich mit Umberto D. auch jenes Maß an Emotionalität, das im Kino des Vittorio De Sica Platz greift und eine poetische Dimension einbringt. Dass De Sica auch außerhalb des Neorealismus melodramatische Elemente stilsicher vor einem zeitgeschichtlichen Hintergrund einzusetzen verstand, zeigt sich in späteren Arbeiten wie La ciociara (Und dennoch leben sie, 1960), I girasoli (Sonnenblumen, 1970), und dem elegischen ll giardino dei Finzi-Contini (Der Garten der Finzi Contini, 1970), der eines der dunkelsten Kapitel in der Geschichte Italiens thematisiert. Dabei darf man jedoch Sentiment keinesfalls mit Sentimentalität verwechseln. So hat ein zentrales Motiv in Umberto D., nämlich die Beziehung des Protagonisten zu seinem Hund, nichts mit jenem zur Verkitschung tendierenden, dramaturgischen Einsatz von Tieren gemein, auf den im Spielfilm gern zurückgegriffen wird um die emotionale Orgel anzuwerfen.

Hier wird diese Beziehung als Gegenbild zu einer kalten Welt eingesetzt, deren Bewohner (Mit-)Gefühl im Kampf ums materielle Überleben abhanden gekommen ist. Der kleine Hund ist – abgesehen von Maria – nicht nur das einzige Wesen, das eine emotionale Bindung zu Umberto hat, Flaik ist vielmehr auch der Einzige, dem die Versuche des alten Herren, Nähe herzustellen, auch etwas bedeuten. Es ist ein wenig schmeichelhaftes Bild der Spezies Mensch, das  Vittorio De Sica hier zeichnet. Wie weit die seelische Verrohung fortgeschritten ist, macht De Sica in einer der berührendsten Sequenzen des Films deutlich: Als Umberto nach einem Spitalsaufenthalt nach Hause kommt, muss er erfahren, dass seine Vermieterin absichtlich – wieder eine ihrer Gemeinheiten – die Tür offen ließ, damit Flaik wegläuft. Der verzweifelte Umberto findet seinen Freund in einer der Tötungsstationen, in die man herrenlose Hunde bringt. Gerade noch rechtzeitig kann er Flaik das Schicksal jener Hunde ersparen, deren Besitzer nicht die paar tausend Lire aufbringen, die verlangt werden, um das Tier auszulösen. Die Geringschätzung, die dabei dem Leben entgegengebracht wird – symbolisiert von Hunden, doch die Assoziation zum Umgang mit Umberto ist evident – verdeutlicht hier wie unter einem Brennglas den Zustand einer Gesellschaft, die primär in materialistischen Dimensionen denkt.

Doch Vittorio De Sicas Umberto D. ist bei aller Sichtbarmachung sozialer und menschlicher Unzulänglichkeiten nicht nur eine Anklage gegen unhaltbare Zustände, sondern auch ein zutiefst berührendes Plädoyer für menschliche Würde. Die behält nämlich Signore Umberto Domenico Ferrari trotz der Demütigungen und Gleichgültigkeit, die alles zu sein scheinen, was das Leben für ihn noch bereithält. Der Entschluss, seinem Dasein ein Ende zu setzen, scheint ein klassischer Fall von Bilanzselbstmord zu sein. Doch Umberto zählt nicht zu jenen, die nur auf sich selbst fixiert sind, er empfindet auch Verantwortung für das einzige Wesen, dem er noch etwas bedeutet. Und so besinnt sich Umberto im letzten Moment, tritt nicht auf die Schienen und lässt den Zug vorbeirasen. Er hat sich entschieden, doch noch weiterzumachen. Es mag eine ungewisse Zukunft sein, in die Umberto D. am Schluss den alten Herrn und seinen Hund Flaik entlässt. Doch es ist immerhin ein Stückchen Hoffnung, das uns Vittorio De Sica lässt, und gerade das verleiht Umberto D. jene Größe, die den Film so einzigartig macht.