Der Norweger Joachim Trier hat mit „Der schlimmste Mensch der Welt“ einen Film über die großen existenziellen Fragen gedreht und als herrlich leichtfüßige und trotzdem lebensnahe moderne Großstadtdramödie verpackt. Im Interview spricht er über die Liebe, seine tolle Hauptdarstellerin und das Geheimnis des Kinos.
Um eines gleich vorweg zu nehmen: So schlimm, wie es der Titel des Films andeutet, ist Julie (Renate Reinsve) gar nicht. Aber sie hat ein Problem: Mitten im Leben weiß sie nicht so recht, wohin mit sich. Das fängt schon bei der Wahl des Studiums an: Medizin, Psychologie, Fotografie. Schließlich soll es ein Job in einer Buchhandlung sein. Doch kaum ist die Jobfrage zumindest zeitweise geklärt, wird es in der Liebe kompliziert. Als sie den etwas älteren Aksel (Anders Danielsen Lie) kennenlernt, scheint die Beziehung perfekt. Aber auch das genügt Julie bald nicht mehr, was sie merkt, als ihr Eivind (Herbert Nordrum) über den Weg läuft. Dabei hatte es Aksel, der bereits die vierzig überschritten hat, eigentlich vorausgesagt. Der Altersunterschied sei zu groß und sie noch zur sehr auf der Suche nach sich selbst, hatte er sie gewarnt. Aber Julie muss ihre eigenen Erfahrungen machen – und wir mit ihr. Der norwegische Regisseur Joachim Trier erzählt in seinem neuen, zweifach Oscar-nominierten Film Der schlimmste Mensch der Welt davon, dass das Erwachsenwerden manchmal erst mit dreißig beginnt. Und er lenkt mit Renate Reinsve die Aufmerksamkeit auf eine junge Hauptdarstellerin, die ihre Berufung spätestens mit dieser Rolle gefunden zu haben scheint.
Herr Trier, warum ringen wir stets mit der Liebe, egal wie alt wir sind?
Joachim Trier: Ich weiß es nicht, verraten Sie es mir. Aber ich denke, dass insbesondere dieser Meilenstein im Leben, dreißig zu werden, ein spannender Knackpunkt ist. Ich habe das schon früher in meinen Filmen angesprochen, diese Idee, dass man weiß, dass man jetzt erwachsen ist, aber sich gleichzeitig noch nicht wirklich reif dafür fühlt. Und es scheint eine interessante Diskrepanz zu geben zwischen der Vorstellung, wie unser Leben sein sollte, und dem, was daraus geworden ist. Das macht uns unsicher.
Eigentlich sind es Allerweltsprobleme, die in Ihrem Film verhandelt werden, oder?
Das kann man sicherlich so sagen. Was will ich, mit wem möchte ich zusammen sein, wo finde ich mein Glück und meine Liebe – das sind natürlich für viele nicht die einzigen Sorgen im Leben, aber doch sehr essenzielle Fragen, die jeder kennt. Im Grunde beschreiben sie nichts anderes als den Prozess des Erwachsenwerdens. Früher hätte man eine Geschichte wie unsere vermutlich mit einem Teenager erzählt. Aber heutzutage habe ich das Gefühl, dass viele Menschen diese sogenannten Coming-of-Age-Erfahrungen eben erst in ihren Dreißigern durchmachen.
Sie haben sich für eine Protagonistin entschieden. Erleben Männer und Frauen diese Dinge auf ähnliche Weise?
Ich kann nicht für alle sprechen und will den Film auch nicht als Statement über eine Generation verstanden wissen. Aber sicherlich gibt es viele Fragen, vor denen Männer wie Frauen gleichermaßen stehen. Allein schon die Überlegung, ob man heiraten sollte, betrifft uns alle. Wo ich aufgewachsen bin, ist es zwar nicht so wichtig. Man kann auch ohne Ehering gut in einer langjährigen Partnerschaft leben, ohne Druck von außen zu verspüren. Aber vielleicht ist das ein skandinavisches Phänomen. Julie packt vor allem das Gefühl, der schlechteste Mensch der Welt zu sein, weil sie an einem der privilegiertesten Orte der Welt groß geworden ist, wo ihr eigentlich alle Möglichkeiten offen stehen und sie diese trotzdem irgendwie nicht nutzt. Inklusive der Tatsache, dass sie noch kein Kind hat oder will. Und zumindest Letzteres ist vielleicht eine an sie herangetragene Erwartung, vor der Frauen früher stehen als Männer.
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Vielleicht hören Frauen in ihren Dreißigern ihre biologische Uhr noch nicht unbedingt ticken?
Das könnte der Punkt sein. Aber speziell in Julies Fall habe ich schon das Gefühl, dass sie es spürt, denn darum geht es in der Geschichte: Es geht um die inneren Argumente, die wir bekämpfen, die Erwartungen, die wir an uns selbst haben. Auf der anderen Seite spielen viele verschiedene Faktoren in ihr Verhalten hinein. Es ist nicht nur die Frage, ob man Kinder haben soll oder nicht. Das ist nur ein Aspekt.
Der Film steht und fällt mit der Hauptdarstellerin Renate Reinsve. Sie ist eine echte Entdeckung.
Ja, ich kannte sie allerdings schon ein bisschen. Denn sie spielte eine kleine Rolle in meinem Film Oslo, 31. August. Damals hatte sie eigentlich nur einen Satz, aber weil ich besessen davon war, das perfekte Licht in Oslo einzufangen, drehten wir an der Szene neun Tage. Seither wollte ich wieder mit Renate arbeiten, aber sie spielte vor allem Theater. Bis ich Der schlimmste Mensch der Welt mit ihr im Hinterkopf schrieb.
Was macht sie zur idealen Hauptdarstellerin?
Diese Frage beantwortet sich von selbst, wenn man den Film sieht, oder? Sie ist einfach umwerfend, und ich bin wirklich stolz darauf, was sie in dieser Rolle leistet. Für diese seltsame Version einer romantischen Komödie kam niemand anderes in Frage, weil sie in ihrem Spiel problemlos das Dramatische mit Humor und Leichtigkeit verbindet. Und sie bringt eine ungewöhnliche Körperlichkeit mit. Von ihrem Gesicht über ihren Körper bis hin zum Raum um sie herum bleibt nichts für ihr Spiel ungenutzt.
Haben Sie die Figur mehr oder weniger gemeinsam entwickelt?
Ich arbeite immer sehr eng mit meinen Schauspielern zusammen. Es gibt ein Drehbuch und einen Rahmen, und ich habe eine ungefähre Vorstellung davon, in welche Richtung es gehen soll. Aber ich plane immer auch ziemlich lange Probenphasen mit ein, in denen wir viel Zeit damit verbringen, zu reden und die Szenen zu lesen. Renate hatte viele Ideen zu ihrer Rolle, was ich toll fand. Denn so selbstbewusst ich in meiner Vision für meine Filme bin, so sehr hatte ich auch die Sorge, als Mann bei einer weiblichen Protagonistin vielleicht doch mal in die Klischeefalle zu tappen. Gerade was die Sexszenen, weibliche Lust und auch die Macken der Figur angeht, hatte Renate großen Einfluss auf das Drehbuch und die Umsetzung.
Kann der Film auch als romantische Komödie gesehen werden?
Definitiv. Die Screwball-Komödien von Regisseuren wie George Cukor haben mich zum Beispiel sehr beeinflusst. Natürlich nicht nur mit Blick darauf, dass Katharine Hepburn in The Philadelpia Story mit der Entscheidung zwischen zwei Männern auch darüber entscheidet, welches Leben sie führen wird. Der Gedanke, dass eine Frau im Leben überhaupt einen Mann braucht, ist schließlich fürchterlich altmodisch. Aber dass sie sich durch die Begegnung mit verschiedenen möglichen Partnern darüber klar wird, wer sie eigentlich ist und was sie will, das macht The Philadelpia Story für mich zu einem reizvollen weil existentialistischen Film. Und auch Notting Hill gehört meiner Meinung nach in diese Kategorie. Darin geht es um das Problem der Idealisierung von Menschen. Und in einer Leistungsgesellschaft, in der jeder großartig und erfolgreich sein soll, ist das ein wichtiges Thema, auch wenn der Film auf den ersten Blick als romantische Komödie daherkommt. Man darf sich als Zuschauer nicht von solchen formelhaften Genredefinitionen täuschen lassen – das ist das Geheimnis des Kinos.
Würden Sie sagen, dass die Existenzsuche ein Thema ist, das sich durch die gesamte Filmgeschichte zieht?
Ja, und man sieht es auch in der Literatur, zum Beispiel in den Werken von Edith Wharton oder Henry James aus dem späten 19. Jahrhundert, wo ein großer Teil der englischen und amerikanischen Gesellschaft einen Befreiungsschlag erlebt und es zum ersten Mal auch viele moderne Frauen gibt. Oft handeln die Geschichten aus dieser Zeit von Frauen, die aus wirtschaftlichen oder anderen Gründen nicht unbedingt heiraten mussten. Aber auch als Mann habe ich mich immer mit ihnen identifiziert. Und im Kino wie in der Literatur gibt es diese Tradition, die Liebe als Spiegel des Existenziellen zu sehen. Es geht um Liebe und Tod, ums Ganze eben. Und jetzt, in meinem fünften Film, hatte ich irgendwie das Gefühl, bereit zu sein, diese großen Themen anzugehen.
War Ingmar Bergman in irgendeiner Weise eine Inspiration?
Ich denke, es ist auf jeden Fall etwas dran an Bergmans No-Bullshit-Ansatz, sich genau anzusehen, wie die Menschen wirklich sind, und ihnen verdammt nah unter die Haut zu gehen.
Und ihnen dabei etwas Mitgefühl entgegen zu bringen, oder finden Sie nicht?
Ich finde, dass sein Mitgefühl unterschiedlich zu bewerten ist. Früher fand ich immer, dass es im Kino zu viel Mitgefühl gibt – ich war in meinen jungen Jahren ein ziemlich radikaler Typ. Jetzt spüre ich in mir selbst ein Gefühl von Verletzlichkeit. Ich brauche auch Geschichten, die Hoffnung machen, und ich möchte sie erzählen. Und in der Hinsicht hat auch Bergman verschiedene Phase durchlebt. Einige seiner Filme sind wunderschön hoffnungslos, und das respektiere ich sehr.
Warum haben Sie sich entschieden, die Geschichte in zwölf Kapiteln zu erzählen?
Ich erinnerte mich daran, dass Vivre sa Vie von Godard auch zwölf Kapitel hat, und ich dachte, dann mache ich das auch. Nein, im Ernst, ich habe versucht, ein Melodrama zu kreieren, und im Kino braucht man meiner Meinung nach einen Kontrast, man braucht eine bestimmte Dynamik. Die literarische Form, in Kapiteln zu erzählen, lässt Interpretationsspielräume. Sie lässt das Publikum atmen. Man könnte auch sagen, die Kapitel befreien die Geschichte.
Woher kam die Idee für die Sequenz, in der die ganze Stadt plötzlich still steht?
In Ferris Bueller’s Day Off von John Hughes gibt es eine Szene, in der Ferris mitten in Chicago anfängt, ein Lied zu singen, und alle um ihn herum tanzen. Als ich den Film in meiner Jugend sah, fragte ich mich, ob das echt sei oder eine Phantasie. Aber dann war es egal, weil es Kino war. Als ich an meinem Film arbeitete, erinnerte ich mich daran. Und mal ehrlich, wünschen wir uns nicht alle manchmal, wir könnten einfach kurz die Pausetaste drücken und die Zeit anhalten, bis wir uns überlegt haben, wie es weitergehen soll, und sie dann wieder einschalten?
Der Film gilt als dritter Teil Ihrer sogenannten „Oslo-Trilogie“. War das so geplant?
Nein, es ist einfach so gekommen.
Stört es Sie, dass die Filme auf diese Weise in eine bestimmte Kategorie gesteckt werden?
Nein, weil es ja stimmt, dass wir in den Filmen die Entwicklungsgeschichte einer Stadt verfolgen. Ich möchte allerdings auch noch mehr Filme zu dem Thema machen. Vielleicht gibt es irgendwann einen vierten Teil, wenn Anders Danielsen Lie, der in allen drei Filmen mitspielt, wieder etwas älter geworden ist. Wir sprachen bereits über die Idee, dass er alle zehn Jahre eine Figur spielt, die wieder aufs Neue verwirrt ist, weil das Leben immer verwirrter und undurchsichtiger wird. Das ist eben das Schöne daran und der Fluch zugleich.