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Soshun (Früher Frühling, 1955)
Soshun (Früher Frühling, 1955)

Früher Frühling

Auf weißem Grund

| Jörg Becker |

Der Autor, Filmhistoriker und Verleger Helmut Färber widmet sich mit seinem neuen Buch auf eindrucksvolle Weise „Soshun (Früher Frühling)“ von Ozu Yasujiro

Man kennt die eigenartigen Einstellungen ohne Personen aus den Filmen des japanischen Großmeisters Ozu Yasujiro, mitunter so genannte „Stillleben“, in welchen die Zeit innehält. „Ein seltsamer Gedanke will sich einstellen: wie nun, wenn diese Zwischenstücke nicht der leere weiße Grund, auch nicht die Pausen in den Erzählungen von Ozu, auch nicht ein Aussetzen von Sprache – wie, wenn sie selbst die Erzählung dieser Filme wären, die wirkliche, die wirklichste, zu welcher die Erzählungen aus den einzelnen Menschenleben nur die begleitenden sind?“

So beschreibt Helmut Färber diese Zwischenstücke in seinem Buch Soshun von OZU Yasujiro, das eine Beschreibung der ersten 47 Einstellungen des Films innerhalb dreier Sequenzen enthält. Dazu Texte über die Erzählung im Ganzen, über Wiederholungen bestimmter Einstellungsformen, eine umfangreiche kommentierte Bibliografie zu Ozu Yasujiro sowie die Auszüge aus Ozus Kalendarien zur Zeit seiner Arbeit an Soshun (Früher Frühling, 1955). Färber hat topografische Grundrisszeichnungen angefertigt, welche die Bauform der Szenen aus Kamerawinkeln veranschaulichen. Er liefert Beobachtungstatsachen, die im nächsten Absatz in essenzielle Passagen zum Gesamtwerk Ozus übergehen. Er beschreibt die Eigenarten von Ozus Bildraum und betrachtet das Gleichgewicht zwischen sichtbarer Welt und Form. Eine nicht religiös begründete Demut gegenüber der Arbeit am Filmwerk, im Verfahren geduldiger Reihung und Sammlung, wird mit Erkenntnissen belohnt, die nicht nur den einen Film, sondern die Gesamtheit betreffen, denn Ozus Filme sind nie als einzelne entstanden und nie als einzelne gesehen worden.

Zu dem Band gehören weiters acht aufklappbare Tafeln im dreifachen DIN-A4-Format, auf denen das Szenario auf der linken Seite Färbers Filmbeschreibung und den entsprechenden Abbildungen/Fotogrammen auf der rechten gegenübergestellt ist. In dieser wechselseitigen Ergänzung liegt ein haltbares Lehrbuch vor, gedruckt auf alterungsbeständigen Papieren. Das Ganze findet sich zusammengelegt in einer Schachtel aus brauner Pappe, ein Gefäß wie für ein Archiv.

Zeichen und Signale

Einen „Sehdenker“ hat Peter Handke den Freund anlässlich der Verleihung des Petrarca-Preises im Juni 1994 genannt, auch einen „Erstbesteiger“ – „Gedanke, Bild und Gedicht werden bei diesem Wissenschaftler eins“. Der Lehrer, Forscher und – von Anfang an – Kritiker hat seinen singulären Autorenzugang seit Anfang der 60er Jahre entwickelt und durch die Jahrzehnte fortgeschrieben, ein induktives Vorgehen vom Einzelnen zum Ganzen ist für ihn charakteristisch. Filmisch gedacht: von den Elementen der Einstellung zur Bauform eines Werks zu gelangen. Und von diesem zu jenen Möglichkeiten, die die konventionelle Filmgeschichtsschreibung ausschlug: etwa gegen die Illusion gerichtete Erzählformen, gegen die Lüge der Konfliktlösung, erläutert am Ende von Färbers Buch A Corner in Wheat über diesen Ausnahmefilm im Griffith-Oeuvre: „Der Film ist einzeln geblieben. Dass er so kühn erscheint, spricht gegen die Filmgeschichte.“ Die Seele des Kinos, wenn man es so nennen will, ist jene Kinematografie, die bewahrt, wo alles Wahrnehmbare in dieser Gesellschaft sich in Zeichen und Signale verwandelt und auflöst.

Helmut Färber, geboren 1937, war von 1962 bis 1972 Autor, dann Redakteur der Zeitschrift Filmkritik, auch Filmkritiker bei der Süddeutschen Zeitung. Er produzierte zahlreiche Fernsehbeiträge über meist filmhistorische Sujets – über Bresson, Ozu und Renoir, über von Stroheim, Walt Disney und Eisenstein – für den WDR III in Köln (damals die Abteilung von Werner Dütsch, der als Redakteur auch Projekte von Hartmut Bitomsky oder Harun Farocki, von Johan van der Keuken, James Benning und Heinz Emigholz koproduzierte), darunter waren auch neun Sendungen zu Filmen von D.W. Griffith. Er ist seit 1969 als Dozent für Filmgeschichte und Filmtheorie an der HFF München tätig, seit 1980 auch an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin, später am Kunstgeschichtlichen Institut der Universität München. Helmut Färbers Lehre der Filmanschauung und -beschreibung, eine Schule des Sehens, gehörte zum Fundament der späten Filmkritik, als er dort schon nicht mehr schrieb, und bestimmte Jahrgänge von Filmstudenten. Dabei kann man an die heute so genannte Berliner Schule denken, insbesondere an Christian Petzold. Und auch weniger „sichtbare“ Filmemacher wie Wolfgang Schmidt, Karl Heil, Stefan Hayn oder Manfred Wilhelms stehen seit Ende der 80er Jahre unter seinem Einfluss. In Jean-Marie Straub und Danièle Huillets Toute révolution est un coup de dés (Jede Revolution ist ein Würfelwurf, 1977) gehört er zu den Rezitierenden auf dem Friedhof Père Lachaise in Paris; bereits 1969 gibt er als Darsteller in Wim Wenders’ Summer in the City eine Nacherzählung des John Ford-Films Three Godfathers.

Perfekte Symmetrie

„Die Geschichten, die Kinofilme erzählen, dauern eineinhalb oder zwei Stunden. In dieser Zeit könnte man keinen ganzen Roman lesen. Es gibt aber Filme, die es vermögen, in diesen eineinhalb oder zwei Stunden langsam von einem ganzen Leben zu erzählen.“ So lautet der Einstieg in die nahe Betrachtung der Drei Minuten aus einem Film von Ozu, die Helmut Färber schon 1988 für den WDR unternommen hat. In der „Ausflugssequenz“ eines jungen Paares in dem Film Banshun (Später Frühling, 1949) untersucht er die perfekte Symmetrie, über die das unvergleichliche Glück in jener Szene sich mitteilt, ein Zustand vollständiger Harmonie – scheinbar eine Vorstudie zu Färbers jetzt vorliegendem Ozu-Buch. Man könnte sagen, Helmut Färber arbeitet an einer Kartografierung der gesamten Filmgeschichte, bei der er weit vor die fotografische Technik zurückgeht – wie etwa in Baukunst und Film (1977) mit dem Untertitel Aus der Geschichte des Sehens. „Darin versucht er eine Gefühlslandschaft zu vermessen und zu beschreiben, die zwar erst im 20. Jahrhundert vom Kino beherrscht wurde, aber schon zuvor existierte. Was Färber an Quellen zu Baukunst, Gartenbau, Landschaftsmalerei, Panorama usw. zusammenstellt, ermöglicht einen Einblick in frühe Formen ästhetischer Freizeitgestaltung.“ (Bettina Klix, 2000) Oder: „Die Geschichte der Architektur – und damit des europäischen Geistes – dient dem Verfasser als ein Modell, die Vorgeschichte des Films, genauer, die allgemeine historische Bedeutung seiner Entstehung zu erkennen. Es geht darum, Filmgeschichte nicht nur als eine Folge und Ordnung individueller Werke zu schreiben, sondern sie selbst als Quelle geschichtlichen Verständnisses einzusetzen.“ (Jürgen Ebert, Filmkritik, April 1978)

Färbers Essays sind von einer Dichte und gedanklichem Potenzial, wie es den meisten Film-Monografien abgeht. In gehöriger Langsamkeit erarbeitet, ausdrucksbewusst jenseits akademischer Prätention, allergisch gegen die Sprachformen des Textes ebenso wie gegen die Darstellungsformen im Film als bloße Akzidenzien. Man wünschte sich Färbers verstreute Texte einmal zusammengefasst herausgegeben. Zum Beispiel Die Magie gefundener Entsprechungen (1998): „Eisenstein, fasziniert von den Alten Künsten, begeistert den Film ergreifend, begreifend als deren nun endlich möglich gewordene Synthese, hat niemals wahrgenommen, dass durch die (lumièrische) Kinematographie der Film, wie keine andere Kunst zuvor, Wirklichkeit in sich enthält, bewahrt, und von ihr – und durch sie – Zeugnis geben kann.“ Färber schreibt über den, obzwar „um mehrere Welten anderswo“ bestehenden Zusammenhang von Godard zu Eisenstein, über dessen Verwandtschaft mit der Romantik als „Künstler und immer zugleich Theoretiker seiner Kunst“, über Eisensteins Begeisterung für Diagramme und Schemata, Entsprechungen zwischen Licht und Farbgebung, Kamerabewegung und Einstellungskomposition skizzierend.

Mit Saikaku ichidai onna / Das Leben der Frau Oharu von Mizoguchi Kenji legte er ein unübertreffliches Monument der Filmbeschreibung vor, einer Textform, die heute – entgegen der Verfügbarkeit von Filmen – keineswegs überflüssig geworden ist, vielmehr hilfreich und Erkenntnis fördernd. Die Arbeit der Übertragung in Sprache ist das Vorher und Nachher eines Films. Es ist ein Weniger, weil das Wort die Welt im Bild nicht vollständig beschreiben kann, und es ist ein Mehr, erkenntniskristallin. Oder wie Helmut Färber 1969 in der Filmkritik schrieb: „Der Gegenstand beim Schreiben über Filme – für Filme, durch sie – ist nicht der Film selbst, sondern die Filmerinnerung. Ihre Beschaffenheit bestimmt die Intensität des Schreibens, Lesens, insgesamt der Verbindung mit einem Film.“