ray Filmmagazin » Filmkritiken » Für die Vielen – Die Arbeiterkammer Wien

Filmstart

Für die Vielen – Die Arbeiterkammer Wien

| Jakob Dibold |
Institutionelles Innenleben

Manche der Vielen wirken entspannt, manche sind genervt, manchen ist sichtlich bange. Ihnen allen wird, so gut es geht, geholfen werden, das vermitteln schon die geduldigen Stimmen bei der Anmeldung, die die Ankommenden in die nächsten Bereiche lotsen. So der Anfang dieses in der Tradition des Direct Cinema ohne Off-Kommentar und ohne extra inszenierte Frage-Antwort-Sequenzen hochfunktionale Porträt der Arbeiterkammer und ihres Hauptsitzes in Wien, der Institution, an die sich Menschen wenden können, wenn sie in welcher Form auch immer von ihrem Arbeitgeber vor Probleme gestellt werden, aber auch nur solche, die Beratung suchen.

Für die Vielen taucht tief in alltägliche Arbeitskämpfe ein, von fehlenden Lohnzetteln bis hin zu überhaupt fehlender Bezahlung, die eingemahnt oder notfalls eingeklagt werden muss, und diversen anderen glasklar illegalen Handlungen ist alles dabei. Die Menschen und ihre Schicksale sind divers, es werden verschiedene Sprachen gesprochen, oft wird übersetzt, und sei es simultan in und von Gebärdensprache. Im Laufe des Films verschiebt sich der Fokus aber deutlich, weg von den Vielen hin zu einigen Schlüsselpersonen, die die AK am Leben und Laufen halten und sich den Anfang der 2020er Jahre sicherlich anders vorgestellt haben …

Denn der Vorstellung des aufwändig gestalteten Spots zur Jubiläums-Kampagne „100 Jahre Gerechtigkeit“, der wir in einem Besprechungsraum hautnah beiwohnen können, folgen rasch unerwartet riesige neue Herausforderungen: Wie es der Zufall wollte, rüttelt hundert Jahre nach der Gründung eine Pandemie an allen Ecken und Enden des Sozial- und Arbeitslebens. Und durch diesen Zufall ist Für die Vielen nicht nur ein gutes Stück Institutionsgeschichte, sondern auch ein Film über die Covid-19-Krise geworden. Die Kamera bleibt anwesend, wenn sich das große Haus nach und nach leert, laufend über neue Schritte beraten wird und sich Meetings oft in den digitalen Raum verlegen. Durchaus ein faszinierender Einblick darin, wie ein großer Dienstleister und auch Arbeitgeber – der die AK ja selbst auch ist – die ersten Phasen der Pandemie handhabt. Und dabei auch sehr aktiv auftritt, auf Pressekonferenzen sowie in aufdeckender, beinahe ermittelnder Funktion, so im Falle der nicht nur arbeitsrechtlichen Missstände rund um die Firma Hygiene Austria.

Garantiert ist ein vielschichtiger und ungewöhnlicher Kinobesuch, wobei einen die zwei Stunden Laufzeit nicht abschrecken sollten. Denn in der Arbeiterkammer gibt es immer etwas zu sehen und zu hören, sogar so viel, dass manche einen der Verdienste des Films vielleicht als Makel wahrnehmen: Mitunter fühlt man sich fast so, als würde man selbst gerade an einem Arbeitstreffen teilnehmen.