Ein neues Lexikon erschließt das kontinentale Subgenre des Fußballfilms.
Der Platz ist die Leinwand, auf der ein Drama in wide-screen sich abspielt, das seine choreographischen Gedächtnisspuren auf dem Rasen hinterlässt. Zwischen den Ecken des Spielfelds herrscht universelle Deutbarkeit. Viele Leser werden beim Blättern zwischen den Titeleinträgen dieses voluminösen Lexikons das Gefühl haben, einen anderen Kontinent zu betreten, den man zwar von Namen, Nachrichtenmeldungen und Abbildungen her kennt, kaum aber aus den Erzählungen und kuriosen Plotkonstruktionen, den Portraits, Fan-Dokumentationen und Milieustudien in Filmform.
Hier findet man ein Subgenre in seiner vollen Breite entfaltet: nach dem chronologisch ersten Nachweis Football (1897) folgte ein Jahr darauf der erste dokumentarische Spielausschnitt von fünf Minuten aus der britischen ersten Liga Blackburn Rovers vs West Bromwich. Die Partie endete 4:0 für die Heimmannschaft. Der Kameramann hatte seinen Apparat leicht erhöht hinter einem Tor positioniert und drehte in beiden Halbzeiten vom gleichen Standpunkt aus. 1942 gibt es mit Das große Spiel (R. A. Stemmle) den Quantensprung in der Aufnahme des Spiels mit einer Spielfeldtotale von einer turmhohen Plattform aus, im Stadion allerdings eine verrückte Mischung aus Nationalspielern und Mitgliedern des Künstlerclubs. Zu Stummfilmzeiten hat man gern das Spannungsmoment des gekidnappten Starspielers einer Mannschaft eingebaut, der im letzten Moment befreit wird und zum Anpfiff wieder auflaufen kann.
Film kann Fußball nicht „verfilmen“, weil Fußball selbst schon „Film“ ist, beziehungsweise jede Filmerwartung schlägt. Der Fan favorisiert das eigentliche Sportereignis, bei dem man nicht weiß, was rauskommt. Die verfremdende Fiktion mit ihren durchschaubaren dramaturgischen Regeln ist da nur Beiwerk: Liebe, Kriminalität, Milieu, neuerdings auch Affären, Geheimnisse und Leidenschaften um die Spielerfrauen – alles jenseits des Platzes – werden zugesetzt, oder man kreiert gleich ein Dream Team, so der Serientitel, eine gänzlich fiktive Elf in einer fiktiven Stadt in der Premier League.
Es gibt wenig gelungene Spielfilme, die sich um Fußball drehen, obwohl Fußball und Kino als plebejische Jahrmarktsspektakel geboren wurden und sich früh in der Massengunst gegen Theater und Turnen durchgesetzt haben, game of the working classes. Die meisten filmographischen Daten kommen aus Deutschland und Großbritannien, die Anzahl expliziter Fußballfilme liegt seit 1998 bei zwanzig bis dreißig Titel pro Jahr. Jan Tilman Schwab hat diesen Kontinent im Laufe mehrjähriger Arbeit ausgiebig und zur Gänze erforscht und kartographiert, die Filme sehr akribisch beschrieben, Presseresonanzen festgehalten, und ausgiebig bibliographische Hinweise geliefert.
Man wünschte sich, die zahlreich nachgewiesenen Porträts (von Spielerlegenden wie Pelé und Garrincha, Luis Cesar Menotti, Günther Netzer, Michel Platini, Michael Laudrup, George Best, unvermeidlich Beckenbauer) wären einmal zugänglich, Mannschaftsporträts und Lehrfilme, oder auch die Beobachtung von Fans in der harten Phase, die jetzt auf viele Anhänger zukommt. Immerhin wird Hollywood seine Blockbuster in Europa zurückhalten bis zur Nach-WM-Phase. Der Ball ist ein Sauhund, so der Titel eines Films, in dem Werner Herzog auf „Riegel-Rudi“ Gutendorf trifft.