Das Hin-und-zurück zwischen dem Reich der Lebenden und der Toten kennzeichnet Jean Cocteaus Filme von „orphischer Identität“ – Notizen zu einer Edition, die den ersten und den letzten Film des „Cinéaste poète“ vereint.
„Betrachten Sie sich ihr Leben lang im Spiegel, und Sie sehen den Tod arbeiten wie Bienen in einem gläsernen Bienenstock.“ (Orphée, 1950) Zu denken an das Wort vom „Tod bei der Arbeit“, dem man zusähe, wenn man Film betrachte. Film indessen ist eine Konserve. Wenn die Zeit in ihrem unumkehrbaren Verlauf zum Stillstand gekommen ist, „in der Ruhe des Todes kann sich das Poetische ganz entfalten“ (Cocteau). – „Für Jean Cocteau begann alles mit dem Schritt durch den Spiegel“ – »la traversée d’un mirroir« –, verkündet der Trailer zu Le Testament und zeigt die Szene aus Cocteaus Debütfilm Le Sang d’un poète. Der Dichter hat den Spiegel im Film durchquerbar gemacht, und die Kinoleinwand zum Spiegel. „Man spricht dort mit einem Bild und dieses Bild spricht.“ Hinter den Spiegeln findet sich eine „Zone“ zwischen Leben und Tod, eine „Innenseite des Lebens“, zu denken an Primärprozesse, wo das Freudsche Es in seinen Wirkmechanismen – Verschiebung, Verknüpfung, Verdichtung, Bündelung – jenseits von Zeit und Ort, Logik und Kausalität herrscht.
Mit Bildern von einer dunklen Nachkriegslandschaft endet Orphée, und Le Testament scheint an dieses Zwischenreich anzuschließen. Der Dichter/Cocteau irrt durch die „Zeitfalten“ der Moderne, in einem Zigeunerlager findet er die Fetzen eines zerrissenen Bildes des Dichters Cégeste, die er ins Meer wirft, aus dem dieser, als ganzer Mensch, mit einer Hibiskusblüte (Cocteaus „Star“ des Films) in der Hand, auftaucht. Das Meer – als Spiegel – wirft die Fragmente des Bildes als leibhaftigen Körper ans Meeresklippenufer. Was ein Bild war, ist jetzt Wirklichkeit.
„Der Dichter muss mehrere Tode sterben, um geboren zu werden.“ (Cocteau im Prolog zu Orphée). Die Rede ist von „Phoenixologie“, gleichsam visualisiert im Rücklauf eines aufgenommenen Filmmaterials, es ist dieses Wunder möglicher Reversibilität allen Geschehens, die es dem Dichter seit Le Sang d’un poète offenbar angetan hatte: Indem sich eine Blüte, deren Zerpflücken die Kamera aufgenommen hat, aus ihren Blättern unter gleichsam magischen Händen zu etwas Ganzem zusammenfügt, demonstriert sich das Verfahren in einer von Cocteaus poetischen Versuchsanordnungen; die erstaunliche Wiederherstellung eines Bildes von Naturschönheit ergibt sich lediglich aus dem Richtungswechsel der Filmvorführung.
Cégeste, der Avantgarde-Poet aus Orphée, begleitet Cocteau im Testament zu einer Prozessverhandlung, wo die aus jenem Film vertraute Prinzessin und ihr Chauffeur Heurtebise über den Dichter zu Gericht sitzen, der sich schuldig gemacht habe, „die vierte mysteriöse Mauer durchdringen zu wollen, auf die die Menschen ihre Liebe und Träume schreiben …“. – „Was verstehen Sie unter Film?“ fragt man Cocteau im Verhör: „Ein Film ist ein Mittel zur Intensivierung/Verewigung der Gedanken. Er gibt toten Handlungen neues Leben. Ein Film verleiht dem Irrealen die Berechtigungsform des Realen.“ Schuldig gesprochen, wird Cocteau schließlich zur „Strafe des Lebens“ verurteilt, dann trifft Minervas Speer den Dichter hinterrücks – „Quel horreur!“ – Er verschwindet über eine antike Stein-Trümmer-Landschaft. „Tut, als weintet ihr, denn die Poeten tun nur so, als seien sie tot.“ Das Blut des Dichters wird vielfach vergossen, immer von Neuem, unter Applaus des Publikums, es bleibt ihm nur die „tödliche Langeweile der Unsterblichkeit“.
Bei Cocteau erscheint der Film, frei nach Clausewitz, wie eine Fortsetzung der Poesie mit anderen Mitteln. „Le Testament d’Orphée hat nichts mit Träumen zu tun“, so Cocteau. „Der Film borgt sich vom Traum nur den Mechanismus, das ist alles.“ Wie auf einer „Fahrt mit der Taucherglocke“ durchquere er auf einer Expedition die Tiefen seines Innern. Der „Cinéaste poète“ spricht von der „Feder des Kinematographen“ und der „Tinte des Lichts“ – „Ich bin ein Dichter, der die Kamera als Vehikel benutzt, das es allen ermöglicht, gemeinsam ein- und denselben Traum zu träumen.“ Und: „Die Dichter sind lediglich die demütigen Diener eines »Wir«, unseres Innersten, das sich tief in unserem Körper verbirgt und seine Befehle erteilt.“