Ubisofts Game „Watch Dogs“ setzt sich mit der allgegenwärtigen Überwachung und dem Zerbröseln der Privatsphäre auseinander, bezieht gerade daraus aber auch seinen Kick.
Ubisofts Open-World-Action-Adventure „Watch Dogs“ ist eines der meistdiskutierten Spiele des Jahres. Die Handlung rund um den Hacker Aiden Pearce trifft nach den Enthüllungen von Snowden, Assange und Co. den Puls der Zeit. Trotz seines zweifellos großen Unterhaltungswerts täuscht das Spiel allerdings nicht darüber hinweg, nicht viel Neues zum Thema Überwachungsstaat beizutragen, sondern greift bloß bekannte Kritikpunkte zum wiederholten Mal auf.
Somebody’s Watching You
Das hier porträtierte Chicago ist bestimmt durch das Central Operating System ctOS. Es hat Zugriff auf alle Informationsflüsse in der Stadt: auf Überwachungskameras, Telefonate, Datenbanken, persönliche Profile, ja selbst das Verkehrsnetz. Entwickelt und kontrolliert von privaten Firmen, die diese Komplettüberwachung natürlich im Sinne der Bürger argumentieren, doch dahinter dank der Daten gigantischen ökonomischen Profit lukrieren, ist ctOS die vermeintlich anonyme und von wenigen hinterfragte Allmacht in der Stadt.
Wie so viele Games der letzten Jahre eröffnet auch dieses Spiel mit einer Mission, die schiefgeht: Der Hacker Aiden Pearce und sein Team scheitern beim Versuch, ein Hotel per digitalem Geldtransfer auszurauben. Um nach dem verpatzten Coup seine Familie vor potenziellen Gegnern in Sicherheit zu bringen, fährt er sofort mit seiner Schwester und ihren Kindern aufs Land. Doch bei der Flucht wird sein Auto von einem Auftragskiller attackiert. Aiden kommt gut davon, doch seine sechsjährige Nichte fällt ins Koma und stirbt bald darauf. Knapp ein Jahr nach dem traumatischen Ereignis setzt die Handlung ein. Aiden hat sich ganz der Rache verschrieben. Er ist auf der Suche nach den Auftraggebern des Mordes und nutzt dafür nicht nur die für Action-Adventures übliche Waffengewalt, sondern auch die ihm zur Verfügung stehenden Überwachungstechnologien.
Mit einem sehr smarten Phone hat er Zugriff auf ctOS und kann dadurch in die vielen öffentlichen Überwachungskameras der Stadt einsehen, an verdächtige und unverdächtige Personen heranzoomen und in deren private Daten Einblick nehmen. Zoomt man an einen beliebigen Passanten heran, erhält man eine Texteinblendung mit Nach- und Vorname, Alter, Beruf und Jahreseinkommen. Übertitelt wird dies von einer privaten Eigenschaft, die nur einem omnipräsenten Überwachungsapparat zur Verfügung stehen kann: „Lopez, Fernando, Age: 49, Occupation: Stock Broker, Income: $ 93,600. Taking poledancing lessons.“ In der Welt von „Watch Dogs“ sind Menschen stets potenzielle Opfer der Überwachung und werden auf wenige Attribute reduziert. Diese einzublenden, bringt den Spieler zwar zum Schmunzeln, doch hier handelt es sich weder um Parodie noch kritische Dystopie, sondern um die unangenehme Entblößung heutiger Lebensrealitäten.
Auch die Beeinflussung des Straßenverkehrsnetzes durch den Spieler sorgt für großen Spaß – so kann Aiden beispielsweise während wilder Verfolgungsjagden die Ampeln von Grün auf Rot schalten und somit ein Verkehrschaos nach dem anderen gezielt gegen seine Gegner einsetzen. Die gigantische Map, auf der all das möglich ist, erinnert an die jüngeren Ausgaben von „Grand Theft Auto“, dem großen visuellen Vorbild des Open-World-Action-Adventures. Die Bewohner der Stadt sind intelligente Avatare, die oftmals die Polizei rufen, wenn sie den Spieler beispielsweise bei einem Autodiebstahl beobachten. Zahlreiche Nebenmissionen sorgen auch dafür, dass man sich lange nach dem Haupthandlungsstrang durch Chicagos virtuelle Straßen bewegen kann. Generell überzeugt „Watch Dogs“ durch seine Liebe zu narrativen wie auch grafischen Details.
Das alles Sehende
Nicht zufällig wurde Chicago als Handlungsort gewählt. Die US-Metropole hat eine der höchsten Dichten an öffentlichen Überwachungskameras weltweit. Die stetige Möglichkeit des Spielers, Mitbürger durch das Hacken dieser Kameras zu überwachen, erinnert an die Zuspitzung von Jeremy Benthams Konzept des Panopticon. Im ausgehenden 18. Jahrhundert beschrieb der britische Philosoph darin eine mögliche zukünftige Gefängnis- und Fabriksarchitektur. Im Zentrum des runden Gefängnisbaus soll ein Überwachungsturm stehen, der konstanten Einblick auf die ihn umgebenen kreisförmig angelegten Zellen hat. Durch den Lichteinfall sollen die Insassen den Wächter im Turm nie sehen können und sich so nie sicher sein, ob sie nun beobachtet werden oder nicht. Somit können hunderte Gefangene von nur einem Wächter beaufsichtigt werden. In Kuba, Spanien, England und Australien wurde das Konzept vereinzelt umgesetzt. Michel Foucault fasste es auf und entwickelte in seinem Text „Überwachen und Strafen“ den Begriff des Panoptismus (panoptes = das alles Sehende), womit er die Kontroll- und Überwachungsmechanismen der industriellen Gesellschaft näher beschreibt. Die ubiquitäre Möglichkeit der Beobachtung hat strenge Selbstkontrolle zur Folge, beim Gefängnisinsassen wie auch beim Fabrikarbeiter. Unabhängig von tatsächlich stattfindender Überwachung diszipliniert sich das Individuum dadurch selbst. Der Panoptismus ist eine Voraussetzung für Foucaults Disziplinargesellschaft und wurde bereits mehrfach hinsichtlich moderner Überwachungstechnologien, aber auch der freiwilligen Preisgabe privater Daten diskutiert. Die Welt von „Watch Dogs“ führt dem Spieler keine dystopische Zukunft vor, sondern erinnert an die Funktionsweisen der heute realen Transparenzgesellschaft, wie sie kürzlich Byung-Chul Han beschrieben hat: „Besorgniserregend ist vor allem, dass die Transparenzgesellschaft heute in eine Kontrollgesellschaft umzuschlagen droht. Die unzähligen Überwachungskameras verdächtigen jeden von uns. Das Internet erweist sich als ein digitales Panoptikum. […] Die Besonderheit des digitalen Panoptikums ist dabei, dass seine Bewohner selbst an dessen Bau und an dessen Unterhaltung aktiv mitarbeiten, indem sie sich zur Schau stellen und entblößen.“ Unsere Daten sind da draußen, sie sind in ökonomische Prozesse eingebundene Verkaufsware. Je öffentlicher private Daten werden, umso transparenter und verletzlicher sind wir – und umso stärker disziplinieren wir uns im Foucault’schen Sinne, wohl wissend, dass wir stets beobachtet werden können. Dies reflektiert „Watch Dogs“ auf zahlreichen Ebenen. Dabei wird wenig Neues erzählt oder ausgesagt – doch vielleicht ist dies auch eine Stärke des Spiels: Überwachung wird nicht einer Kritik durch ein dystopisches Setting unterzogen, sondern weitgehend anhand von Mechanismen beleuchtet, wie sie heute schon verfüg- und missbrauchbar sind.
Daten sind Macht
Ob der Spieler als Aiden Pearce das ctOS-Programm dafür nutzt, Telefongespräche mitzuhören und in weiterer Folge in Nebenmissionen Probleme von Mitbürgern zu lösen und Verbrechen zu bekämpfen, oder ob er sich in private Konten einhackt, um sich fremder Gelder zu bedienen, bleibt einem selbst überlassen. Dieser Handlungsfreiraum impliziert, dass Technologien der Überwachung nur dann zur Gefahr werden, wenn man sie unmoralisch einsetzt. Hierbei handelt es sich allerdings um eine gefährliche Argumentationslinie: Natürlich lassen sich persönliche Daten und Überwachung auch nutzen, um ausschließlich Gutes zu leisten. Eine solche Darstellung mag sogar realitätsnäher sein als die ansonsten in der jüngeren Literatur und im Film häufige Verteufelung neuer Technologien. Doch selbst der Schlussmonolog Aidens macht klar, dass Datenbesitz nicht nur cachierte Überwachung, sondern schlichtweg auch Macht und Kontrolle bedeutet: „Everything is connected, and I’ll use that to expose, to protect, and if necessary, to punish.“ Das Smartphone und sämtliche damit verbundene Assoziationen sind in „Watch Dogs“ Ursprung, aber auch Lösung allen Übels. Wer diese äußerst problematische Grundhaltung ignorieren kann, wird auf der digitalen Spielwiese Chicagos großen Spaß haben.