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Guangzhou, 2017 © Ella Raidel
Guangzhou, 2017 © Ella Raidel

Ella Raidel

Geistergegenwart

| Andreas Ungerböck |
Ein neues Buch beleuchtet die vielfach ausgezeichnete Filmarbeit von Ella Raidel. Ein Gespräch mit der oberösterreichischen Künstlerin und Autorin, die seit gut zwei Jahrzehnten (auch) in Asien lebt.

Im Kino um die Ecke, falls es ein solches überhaupt noch gibt, wird man die Filme Ella Raidels eher nicht sehen können. Sie laufen vor allem bei Veranstaltungen im Kunst- und Architekturkontext, in Galerien, aber auch bei renommierten Filmfestivals, etwa beim Image Forum in Tokyo, in Chicago, Leipzig, Rotterdam und Kopenhagen oder, durchaus naheliegend, beim Crossing Europe Festival in Linz. In Linz hat die gebürtige Gmundnerin an der Kunstuniversität studiert; inzwischen hat sie sich als Filmemacherin, aber auch als Theoretikerin und Autorin weltweit einen Namen gemacht. 2011 erschien ihre Dissertation „Subversive Realitäten. Die Filme des Tsai Ming-liang“ in Buchform, eine überfällige Würdigung des taiwanesischen Filmemachers. Die Wahl des Subjekts ist – siehe das folgende Interview – alles andere als zufällig. Subversion findet sich auch in Raidels eigener Arbeit und sogar im Titel ihres ersten längeren Films, SUBVERSES China in Mozambique, ebenfalls aus dem Jahr 2011. Fast prophetisch – inzwischen ist dies ein Dauerthema in den Medien – beschäftigt sich der 45-minütige Film mit dem wachsenden Einfluss Chinas in Afrika, aber, ein Markenzeichen Raidels, dezidiert nicht so, wie man das in einem handelsüblichen Dokumentarfilm zu sehen bekäme.

Seit einigen Jahren arbeitet Ella Raidel an ihrem groß angelegten Rechercheprojekt „Of Haunted Spaces“, das dem nun veröffentlichten Buch den Titel gibt und in dessen Rahmen unter anderem die beiden 70-minütigen Filme Double Happiness (2014) und A Pile of Ghosts (2021) entstanden. Sie zu beschreiben, überlässt man am besten der eloquenten Künstlerin, wie sie das etwa im Begleitvideo zur Verleihung des Outstanding Artist Award für Spiel- und Dokumentarfilm des BMKOES im Herbst 2022 tut (www.youtube.com/watch?v=PV9ssT7Eh-Q). Die Würdigung, die Raidel zuteilwurde, machte auch die „Oberösterreichischen Nachrichten“ stolz, die sie als „die (Lebens)künstlerin, die Asien und Europa vereint“, feierten. Auch die Jury beim Image Forum Tokyo war 2022 von A Pile of Ghosts so beeindruckt, dass sie Ella Raidel mit dem Award for Excellence auszeichnete.

Für ein weniger professionelles Publikum mag die Durchdringung von Raidels Denk- und Arbeitsweise nicht ganz so einfach sein, mischen sich doch dokumentarische und essayistische Sequenzen mit Spielfilm-Elementen und solchen, die, mehr oder weniger klar ersichtlich, nachgestellt sind. Es seien eben, so Ella Raidel im erwähnten Video, „performative Dokumentarfilme“, und sie sei immer „auf der Suche nach innovativen Erzählformen“. Unbedingt ergänzen muss man, dass ihre Arbeiten getragen sind von einem subtilen, man könnte auch sagen: hintersinnigen Humor, mit dem Raidel die durchaus komplexen Fragestellungen ihrer Filme konterkariert.

Dabei geht sie von scheinbar „banalen“ Vorgängen aus, die aber in ihren kunstvoll montierten Filmen zu etwas „Höherem“ transformiert werden und darüber hinaus für aufmerksame Menschen, die sich nicht mit China-Klischees aus Medien und Politik abspeisen lassen wollen, einen enormen Mehrwert, oder, besser gesagt, Erkenntnisgewinn bieten. In Double Happiness ging es vordergründig um die Tatsache, dass „die Chinesen“ das schöne Alpendorf Hallstatt in der Nähe der Großstadt Shenzhen quasi 1:1 nachbauten, in A Pile of Ghosts vordergründig um ein abrissgefährdetes Hotel in der sich permanent verändernden Metropole Chongqing. Was Raidel in beiden Fällen daraus macht, das muss man buchstäblich gesehen haben.

Das vorliegende Buch ist in Singapore erschienen und wurde vom Centre for Contemporary Art der Nanyang Technological University herausgegeben, jener Universität, an der Ella Raidel seit einigen Jahren unterrichtet. Man sollte sich von dem recht sperrigen Untertitel nicht abschrecken lassen, der Band liest sich, wiewohl in Englisch, recht leicht und schnell. Großformatige Fotos aus den Filmen, aber auch aus Raidels sonstiger Recherchetätigkeit, sorgen optisch für Glanzlichter. Die drei fundierten und kenntnisreichen Essays befassen sich mit verschiedenen Aspekten von Raidels Arbeit. Dazu kommen ein umfang- und aufschlussreiches Interview, das die Herausgeberin des Buches, Ute Meta Bauer, mit Ella Raidel geführt hat, sowie eine ausführliche Filmografie und ein Verzeichnis der Locations. Nach der Lektüre ist es noch lohnender, Ella Raidels Filme zu sehen, denn wie heißt es doch in der Würdigung zur Verleihung des Outstanding Artist Award? „Die filmischen Räume bekommen durch diese Settings eine heterotopische Ausformung. Sie werden zu Bühnen und Vexierbildern, die nicht mehr eindeutig zuordenbar sind. Persönliche Erzählungen von Menschen, Kommentare und historische Referenzen verschmelzen ontologisch mit der Architektur zu einem mentalen Bild. Dabei entsteht ein neues, offenes Kino.“ Besser kann man es nicht sagen, höchstens schlichter.

Woher stammt Ihr Interesse, Ihre Faszination für den chinesischsprachigen Raum?
Ella Raidel: Die stammt aus meiner Begeisterung für das Kino. In den neunziger Jahren war ich fasziniert von den Filmen von Wong Kar Wai und später von der taiwanesischen New Wave. Zu der Zeit lebte ich in Berlin, da gab es Retrospektiven von Ang Lee und Tsai Ming-liang. Es lief gerade Tsais The River (1997) im Kino. Die Langsamkeit der Bilder hatte eine unglaubliche Sogwirkung auf mich. Es fühlte sich an wie in Trance. The River beginnt mit einer Szene, wo man minutenlang dem Vater beim Rauchen zusieht, und es passiert sonst gar nichts. Durch den Bildausschnitt zum offenen Fenster hin wird die Stadt durch ihre Geräusche suggeriert, ohne dass man sie sieht. Man hört den Bildern zu.

Ich hatte eine Reise nach Taipei geplant und wollte wissen, wie es da so ist. Erst später wurde mir klar, dass man bei den Filmen von Tsai Ming-liang fast nie etwas von der Stadt zu sehen bekommt und sich nur in kubischen Innenräumen, Durchgängen oder Passagen aufhält. Einer der wenigen Filme, in denen Taipei zu sehen ist, ist der Kurzfilm The Skywalk is Gone (2002), nach wie vor einer meiner Lieblingsfilme. Zu sehen ist Chen Shiang-chyi, wie sie nach einer Paris-Reise nach Taipei zurückkehrt und den Übergang zum Hauptbahnhof nicht mehr finden kann, weil er abgerissen wurde. Ich finde den Zustand der Desorientierung durch die rasante Urbanisierung sehr zutreffend. Im chinesischsprachigen Kino bedeutet dies nicht nur, in der Stadt verloren zu sein, sondern auch den Bezug zu Geschichte und Zugehörigkeit verloren zu haben.

In meinem Film A Pile of Ghosts geht es auch um diese Desorientierung durch die rasante Urbanisierung anhand von chinesischen Geisterstädten, also Städten, die gebaut, aber von niemandem bewohnt werden. In einer Gegend wird ein ganzer Stadtteil abgerissen, zurück bleibt ein Hotelbesitzer in seiner Ruine, der von dem Leerstand, dem gesellschaftlichen Umbruch und einem Hollywoodfilm heimgesucht wird. „Ein Haufen Geister“ bezieht sich in dem Film auf den Spuk, der sich durch die Spekulation mit der Infrastruktur ausbreitet.

Sie haben ein Buch über Tsai Ming-liang geschrieben. Wie steht Ihre Arbeit mit der seinen in Verbindung?
Ella Raidel: Tsai Ming-liang war mein Einstieg zu Taiwan und in gewisser Weise auch zu meiner Auseinandersetzung mit dem asiatischen Kino im Allgemeinen. Wie gesagt, ich fand die Filme ästhetisch interessant, die Bildkomposition, die Länge der Einstellungen, die Tongestaltung und natürlich die Themen, die sich auf vielfältige Weise mit dem Umbruch einer konfuzianisch geprägten Gesellschaft beschäftigen. Ich finde alle seine Filme großartig, und nachdem ich mich sehr intensiv mit seinen Filmen und dem Kontext des chinesischsprachigen Kinos beschäftigt habe, hat sich das sicherlich auch auf meine Filme ausgewirkt. Zum Beispiel einen Dokumentarfilm als Musical zu konzipieren, performative Szenen als Kommentare einzubauen, das Darstellen als Performance, nicht so sehr als Schauspiel zu verstehen. Eine Psychologie der Charaktere zu entwickeln in Bezug auf das urbane Umfeld, zum Beispiel durch Ruinen, Räume und Städte zu gehen. Mit dem Herumwandern einen Blick zu schärfen, der es zulässt, uns in der Gegenwart umzusehen und damit auch Gedankenräume zu eröffnen, die keiner Erklärung bedürfen, das finde ich besonders schön. Tsai Ming-liang stammt aus Malaysia, seine Familie aus Generationen von Migrationsgeschichten aus Guangzhou, heute lebt er in Taiwan. Für mich ist sein Hintergrund charakteristisch für eine Kultur, die außerhalb Chinas durch Migration entstanden ist. Deshalb hat mich wohl mein Weg über meine Recherche zum chinesischsprachigen Kino auch nach Singapur geführt, wo diverse Kulturen mit unterschiedlicher Migrationsgeschichte leben.

Sie unterrichten seit einigen Jahren an der Nanyang Technological University in Singapur. Was genau machen Sie dort, und wie nehmen Sie Ihre Arbeit mit den Studierenden wahr? Wie sieht es mit den sogenannten „kulturellen Differenzen“ aus?
Ella Raidel: Nachdem ich mich schon seit mehr als 20 Jahren in Asien aufhalte, sehe ich keine kulturelle Distanz. Aus der Distanz wurde eine Nähe, weil mir die Kultur sehr vertraut ist. Meine Recherchen und Filme beschäftigen sich alle mit diesem Teil der Welt. Ich unterrichte Film und erweiterte Filmformate, die sich zwischen Fiktion und Dokument bewegen – performative Interventionen als Methode, Filmemachen als künstlerische Forschung – und denke über die Zukunft des Kinos nach. Derzeit arbeite ich an neuen audiovisuellen Formaten, immersiven Geschichtenerzählungen, 360-Grad-Film und dem Einsatz neuer Technologien. Die Zukunft des Kinos charakterisiert sich durch eine Verschiebung vom traditionellen Kino hin zu einer breiten Palette neuer und experimenteller Praktiken, die seine eigene Zukunft in der Bild-Erzählkunst bedeuten. Begleitet von den jüngsten technologischen Fortschritten und dem sich verändernden Medienumfeld transformiert sich das Kino der Zukunft von einfachem Filmeschauen zu einer Erfahrung des „Berührens“, „Hörens“, „Teilnehmens“, „Engagierens“, „Performens“ und „Teilens“ des Bildinhalts, was einen alternativen sensorischen Modus schafft. Das Kino der Zukunft weist auch darauf hin, dass Filme nicht mehr nur in Kinos gezeigt werden, sondern an verschiedenen Orten zu finden sind: auf Computerbildschirmen, bei Ausstellungen in Galerien, im immersiven Theater, in Konzertsälen, mit VR-Brillen, auf öffentlichen Plätzen und sogar im eigenen Wohnzimmer – dies wiederum bestimmt die sozialen Beziehungen innerhalb der Zuschauergemeinschaften. Die Entwicklung der bewegten Bild-Erzählkunst verändert unsere Art zu sehen und zu leben.

Wie kam es, dass Sie sich schon sehr früh, nämlich 2010, mit dem chinesischen Einfluss in Afrika beschäftigt haben, der ja heute ein großes Thema in den Medien ist?
Ella Raidel: Mein Interesse für ein Thema oder Land beginnt immer mit dem Kino, zum Beispiel für Mozambique. Ich war mit einer Gruppe von Filmschaffenden vom IFFR Internationalen Filmfestival in Rotterdam eingeladen auf eine Recherche-Reise in die Sub-Sahara für ein Programm mit dem Titel Forget Africa. Ich habe mich für Mozambique entschieden, weil ich gelesen hatte, dass Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville dort in den siebziger Jahren an ihrem Sonimage-Projekt gearbeitet haben. Dieser Spur bin ich gefolgt, habe mich aber dann im Verlauf der Reise auf andere Themen konzentriert, nämlich die chinesischen Infrastrukturprojekte in Maputo. Die wirtschaftlichen und infrastrukturellen Maßnahmen von China in Afrika wurden so zum Thema meines Films SUBVERSES China in Mozambique.

„Sub-Verses“ ist sowohl ein Wortspiel mit dem Begriff „Vers“ – dem der Slam-Poesie, die aufgeführt wird – als auch mit dem subversiven Effekt seiner Aufführung. Während meiner Arbeit an Slam Video Maputo (2009) sah ich chinesische Bauarbeiter auf den Straßen, von denen Einheimische sagten, sie seien Gefangene aus China. Später kehrte ich für einen zweiten Besuch zurück, um SUBVERSES China in Mozambique zu erforschen und zu drehen. Diesmal untersuchte ich das wirtschaftliche Engagement und die Präsenz Chinas in Afrika, die sich in Infrastrukturprojekten manifestierte, wie einem neuen Flughafen in Maputo, Regierungsgebäuden, einem Fußballstadion sowie Brücken und Straßen. In diesem Film begann ich, Poesie, Lieder und Werbetexte als Sub-Verse zu den dominierenden Erzählungen einzubeziehen. Ich kombinierte beobachtende Aufnahmen und Dokumentation, die durch performative Handlungen unterbrochen und durchkreuzt wurden.

Es gibt in gängigen Diskussionen und auch in der Politik eine seltsame Mischung aus Faszination und Abscheu, was die Volksrepublik China betrifft. Wie sehen Sie das?
Ella Raidel: China ist die große Unbekannte. Es fällt mir bei den Fragen nach meinen Filmvorführungen oft auf, dass es wenig Wissen über das Land gibt und viele Vorurteile. China hat es in den letzten Jahrzehnten geschafft, sich von einer Agrargesellschaft zu einer urbanen Gesellschaft zu wandeln. Bei einer Milliarden-Bevölkerung ist dieser Prozess gewaltig und hat sich in dem Urbanisierungsprozess abgezeichnet, der mich interessiert. Die Infrastrukturprojekte haben auch Arbeitsplätze geschaffen und die Wirtschaft angekurbelt, und in Folge ist eine Überproduktion an Infrastruktur entstanden. Es wurden zahllose Städte gebaut, die niemals bewohnt werden. Das sind für mich die „Haunted Spaces“, die spukenden Orte, in denen das Kapital seine eigene Wirkung ausübt. Das Bild der leeren Stadtruinen mag faszinierend sein und alarmierend, da wir uns rasant auf einen Kollaps des ökologischen Systems zubewegen, wozu auch die Verstädterung, noch dazu eine nutzlose, beigetragen hat.

Es gibt in Ihrem Buch zwei Begriffe, die mir sehr gut geeignet scheinen, Ihre Filme zu beschreiben: „reality fiction“ und „documentary melodrama“. Können Sie damit etwas anfangen und wenn ja, sie ein bisschen erklären?
Ella Raidel: In meinen Filmen suche ich stets nach neuen Erzählweisen. Referenzen kommen dabei oft aus der Popkultur, Hollywood oder Medien im Allgemeinen. Zum Beispiel verwende ich in meinem ersten Film Slam Video Maputo Slam Poetry als Kommentare, und das Making-of von Musikvideos als selbstreferenzielle Erzählform. Das habe ich in allen anderen Filmen weiterentwickelt. Ich blicke oft hinter die Kulissen von Filmproduktionen als Kommentar zu unserer Zeit, in der alles medial manipuliert wird. Wir leben in einer „reality fiction“, in der unsere Rollen wie Filmskripts vorgeschrieben sind. Das Melodrama kam hinzu als Hinweis darauf, wie stark das Hollywood-Kino auf unsere Realität einwirkt. Im Falle von China waren es alte Hollywoodfilme wie Sound Of Music (1965), Casablanca (1942) oder Waterloo Bridge (1940) und die melodramatischen Plots, die den Zugang zum Westen eröffneten. Daher habe ich meine Filme in Anlehnung oder als Zitate an diese Filme konzipiert. Meine Dokumentarfilme lassen sich als angedeutete Melodramen lesen, weil es bei den Immobilien auch immer um Wunschtraum und Trauma des Zusammenlebens geht.

Stimmt der Eindruck, dass sich Ihre Arbeit zunehmend vom Dokumentarfilm in Richtung Spielfilm bewegt? Welche Rolle spielt das Fiktionale in Ihren Überlegungen?
Ella Raidel: Ich habe mich nie als Dokumentarfilmemacherin gesehen, schon gar nicht „klassisch“. Denn die Erzählungen im Dokumentarfilm habe ich immer in Frage gestellt. Am Ende ist es auch nur ein Film, der durch eine Montage gebaut wurde. Ich komme eher aus der bildenden Kunst bzw. der Medienkunst, meine Filme sind dokumentarisch, performativ, hybrid. Vor allem möchte ich mit meinen Filmen einen Denkraum eröffnen, der über Bild und Ton eigenes Denken zulässt. Dokumentarfilm ist ein großartiges Format, das viele künstlerische Freiheiten zulässt. Es ist für mich aber vor allem ein Denkwerkzeug, um dem Film entlang zu denken. Es geht darum, ein Thema filmisch zu erforschen, in meinem Fall sind es die chinesischen Geisterstädte oder die Urbanisierung Chinas im Allgemeinen. Ich nähere mich dem Thema Schritt für Schritt an, ich betrachte meine Filme als Forschung.

Dem Fiktionalen kommt dabei ein Spiel mit der Realität zu. Ich habe in A Pile of Ghosts einen Protagonisten namens Charles. Er lebt in einer Ruine in Chongqing und wäre gerne Schauspieler. Er spielt sich also selbst in einer selbst erwählten Rolle. Mit ihm gehen wir auf die Straße, drehen dabei mit, wie er mit Passanten interagiert. Ich arrangiere auf der Straße ein dokumentarisches Theater. So begreife ich das Inszenieren für den Dokumentarfilm als Spiel mit der Realität. Am Ende ist es weder ein Dokumentar- noch ein Spielfilm. Das ist das Schöne am Spielen, es dient dazu, etwas auszuprobieren.

Für ein „ungeübtes“ Publikum ist es möglicherweise schwierig, auseinanderzuhalten, was dokumentarisch und was fiktional ist. Ist das für Sie ein Thema, oder sollen die Leute „gefordert“ werden?
Ella Raidel: Für ein „ungeübtes“ Publikum sind auch die Filme von Tsai Ming-liang eine Zumutung. Man kann es nicht allen recht machen, und doch gefällt es vielen anderen. Da meine Filme meist bei Filmfestivals oder Ausstellungen laufen, findet sich meistens ein Publikum ein, dass zumindest einen Zugang zu diesem hybriden Format wagt.

Ein Punkt, auf den im Buch zu Recht hingewiesen wird, ist die Präzision Ihrer Arbeit und Ihrer Bilder. Wie bereiten Sie sich vor und wie drehen Sie? Gibt es ein fixes Konzept, oder weichen Sie auch einmal ab, wenn Sie etwas Interessantes wahrnehmen, was nicht geplant ist?
Ella Raidel: Ich sehe mich als Fotografin und habe mich immer für Architektur und Architekturfotografie interessiert. Bei meinen Recherchereisen fotografiere und drehe ich selbst. So entstehen die ersten Bilder, und da ich das alleine mache, habe ich mir angewöhnt, immer ein Stativ zu verwenden. Daher sehen meine Bilder von der Bildkomposition her sehr präzise aus und meine Filme wie fotografische Tableaus. Ich reise dann meistens in Gegenden, die mir komplett neu sind. Und wie gesagt: Der Film entsteht entlang der Recherche, als Forschung, die auch einer Suche nach dem Filmskript gleichkommt. Ich kann gar nicht alles voraussehen und planen, was ich drehen werde, und es kommt vieles auf den Zufall vor Ort an. Ich habe dazu einige Techniken der Improvisation entwickelt. Wie vorhin erwähnt das Spiel mit der Realität als Theater in situ. In dem Buch gibt es viele Fotos, die auf diesen Recherchereisen entstanden sind und nicht in den Filmen zu sehen sind, daher freue ich mich, dass ich sie nun veröffentlicht habe.

Was hat es mit dem Projekt „Of Haunted Spaces“ auf sich? Können Sie schon absehen, wie es weitergeht bzw. gibt es so etwas wie ein „Endziel“?
Ella Raidel: „Of Haunted Spaces“ basiert auf meinem Interesse an Urbanisierung und Infrastrukturprojekten in China und über die Grenzen Chinas hinaus. Ich habe unzählige Gegenden in ganz China besucht, verlassene Ferienorte an der Ostküste der Provinz Shandong oder das Neue Lanzhou-Gebiet in der Provinz Gansu, dem Beginn der alten Seidenstraße, wo Hunderte von Bergen eingeebnet wurden, um eine neue Stadt zu bauen. Jedes dieser neu entwickelten Gebiete verfügt über einen Themenpark, die das Bauprojekt bewerben. Die Repliken aus allen Teilen der Welt stehen als Monumente der Spekulation, beschleunigt durch den globalen Kapitalismus. China hat seine Präsenz und seinen Einfluss von Afrika aus auf viele andere Länder über das Seidenstraßen-Projekt ausgeweitet, und viele dieser Länder sind hochverschuldet. Die gesamte Immobilienbranche in China ist zusammengebrochen, es konnte gar nicht anders sein bei diesen gigantischen Dimensionen, bei einem derart massiven Eingriff in Natur und Umwelt. Das Buch dokumentiert meine Arbeit an diesem Thema und an den drei Filmen, die entstanden sind. China hat sein Territorium global erweitert, und daher ist abzuwarten, wie es weitergeht. Das Buch markiert daher einen Abschnitt.

Ganz praktisch gesehen: Wie wird es mit dem Bauboom in China weitergehen? Ist da, auch in Anbetracht der jüngsten Immobilienkrise, eine Änderung in Sicht?
Ella Raidel: In vielen meiner Gespräche mit Expertinnen und Experten wurde bezweifelt, dass es je zu einer Immobilienkrise kommen könne. Es wurde erwartet, dass sich China innerhalb seines Systems tragen kann. Aber wenn man genau hingesehen hat, und das zeigt ja mein Buch auf, dann konnte es gar nicht anders kommen. „Of Haunted Spaces“ sind die spukenden Orte der Spekulation, in denen den Menschen mit Werbeslogans ein Versprechen auf Profit und eine prosperierende Zukunft vorgegaukelt wurde. In China, Afrika und entlang der Neuen Seidenstraße gibt es nun unzählige private Verschuldete und ganze Staaten, die durch diese Investitionen geblendet wurden.