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Gerhard Lamprecht

Literatur | Interview

Gerhard Lamprecht in 3-D

| Jörg Becker |

Eine Buchedition untersucht das vielgestaltige Werk des Kinemathekenpioniers. „ray“ bat die Autoren Rolf Aurich und Wolfgang Jacobsen zum ausführlichen Gespräch.

Der Berliner Regisseur Gerhard Lamprecht (1897-1974) war seit seiner Jugend ein leidenschaftlicher Sammler von Filmen, Geräten und Dokumenten. Aus seiner Privatsammlung, die er noch zu Kaiserzeiten begonnen hatte, entstand 1963 die »Deutsche Kinemathek«. Auch in seinen eigenen Filmen legte Lamprecht das Archiv einer Welt an, ihres Alltagslebens, ihrer Gefühle und Werte, von deren Gegenwart, die er permanent im Verschwinden sah, es etwas zu bewahren galt. Eine Edition dreier außergewöhnlicher Filmbände ist nun erschienen, die Lamprecht, dem Gründungsdirektor der Deutschen Kinemathek Berlin, als Regisseur, Filmhistoriker und Sammler gewidmet ist. Jeder Band konzentriert sich auf eine der drei Tätigkeiten dieser Person. Eine gewissenhafte Erforschung, eine fundierte Würdigung, eine akribische Arbeit in vorbildlich gestalteten Büchern.

Den Nachlass Lamprechts ausgewertet und an der biographischen Linie seiner Hauptfigur den größeren Kontext der Filmsammlungs- und ersten Archivierungstendenzen über Deutschland hinaus erforscht hat Rolf Aurich. Mit seinem Band »Mosaikarbeit«, gewonnen aus Primärquellen und Zeitzeugengesprächen, gelingt dem Autor so etwas wie die Erstbesteigung eines Berges an recherchiertem Material, den er selbst angehäuft hat, über die Entstehung der Welt der Filmarchive, die frühen Sammler und ihre Motive. Gleichsam filmisch, a-chronologisch montiert, umkreist der Filmhistoriker seinen Gegenstand, erzählt in Vorgriffen und Rückblenden, überschauend und nah, von einem anwachsenden materialen Gedächtnis zum Film, den maßgeblich dazu beitragenden Akteuren, ihrer teils aus Zwang, teils aus Enthusiasmus gespeisten Besessenheit. Zu studieren sind Voraussetzungen der Filmgeschichtsschreibung seit der Zeit, als sein Gegenstand bloße Jahrmarktsattraktion war, hin zu dessen Sammlung und Erhaltung bis zur Anlage von Archiven, dem Fundament jeder Filmwissenschaft.

In rund die Hälfte der ca. siebzig verzeichneten Regiefilme Gerhard Lamprechts taucht man bei der Lektüre von Wolfgang Jacobsens Band »Zeit und Welt« ein und entdeckt einen weitgehend vergessenen Regisseur, der einmal, Mitte der zwanziger Jahre bereits, ein beachtliches  Renommee besessen hatte. Hier erscheint es, als ob Lamprechts Filme erstmalig nach ihrer Uraufführungsrezeption wieder öffentlich wahrgenommen würden. Die Beschreibung dieser Filme unterstreicht ihren Charakter als zeitgenössische Quelle, bietet eine Sammlung von Eindrücken, gewonnen aus inszenierten Bilder, ein eigenes Archiv der Welt aus persönlichem Duktus, ästhetischen Entscheidungen und Motiven erzählt. Zu lesen ist die einfühlende Annäherung an ein bislang vernachlässigtes, von Klischees, Stereotypen und abgekupferten Zuschreibungen weitgehend überdecktes Oeuvre. Der Wunsch, es noch einmal von Neuem, mit vorbehaltlosem offenen Blick zu sehen, vermittelt sich durch die Sprache des Autors, der Lamprechts Filmen nah durch Bildsequenzen folgt und sie erzählerisch zu übersetzen vermag mittels eines autoriell eigenen, ihre atmosphärisch oft auf Milieu und Arbeit gerichtete Aufmerksamkeit empfindenden Stils. In der Filmliteratur etwas Rares.

Acht Zeitzeugengespräche hat die langjährige Kuratorin des Filmarchivs der Deutschen Kinemathek, Eva Orbanz, in ihrem Band »Miteinander und gegenüber« aus über zwanzig Tonbandinterviews ausgesucht, die Gerhard Lamprecht zwischen 1954 und 1960 mit ehemaligen Mitarbeitern seiner Filme geführt hat: zwei Kameramänner (Emil Schünemann und Karl Hasselmann als wohl ergiebigste Gesprächspartner), ein Fotograf, ein Kopieranstaltsleiter, ein Produzent, ein Komponist (Giuseppe Becce, der anlässlich des 100. den Komponisten Richard Wagner in dem 1913 erschienenen Biopic Richard Wagner von William Wauer verkörperte), ein Elektriker und Beleuchter, ein Filmarchitekt und eine Filmkleberin geben neben eigenen lebensgeschichtlichen Erlebnissen eine Fülle handwerklich-praktischer Informationen aus dem Betrieb der Kollektivkunst Film.

»Lamprecht in 3-D« könnte einem als Titel für diese eure Dreier-Buchedition einfallen. Wie ist die Idee zu dieser Publikation entstanden, und wie ist es dazu gekommen, das Lamprecht-Projekt auf diese Art einzuteilen, in dieser Unterschiedlichkeit der Schreibweisen und Zugänge?
Rolf Aurich
: Ein langer Prozess. Da gab es das immer wieder geäußerte Interesse einiger Mitarbeiter des Hauses an Gerhard Lamprecht [d.h. der Mitarbeiter der Deutschen Kinemathek an dem Begründer der Sammlungen und Gründungsdirektor ihrer Institution]. Das hat aber nie dazu geführt, diese Figur einmal adäquat in den Blick zu nehmen und zu untersuchen. So etwas war immer nur in kleinsten Portionen, in einer Präsentation, oder einer Filmvorführung geschehen und stand schon lange auf der Tagesordnung, und das zweite war mein persönliches Interesse daran, die Geschichte der Filmarchivierung in Deutschland einmal anzupacken und darzustellen. Diese beiden Stränge sind zusammengekommen vor etwa vier, fünf Jahren, als dann auch klar war, dass die Kinemathek bald mal fünfzig Jahre alt werden würde, und so war der Name Lamprecht seitdem in der Diskussion. Wir haben diese beiden Dinge zusammengeführt. Letztendlich ist es dann im Wesentlichen bei dem Buchprojekt geblieben, und wir haben ziemlich lange geknobelt, wie wir das eigentlich angehen können. Dieses Thema des sogenannten dritten Bandes, die Interviews [»Miteinander und Gegenüber. Gerhardt Lamprecht und seine Zeitzeugengespräche«, von Eva Orbanz], die waren nicht gleich am Anfang im Spiel, sondern kamen erst im Lauf der Zeit hinzu, bis uns dann klar geworden ist: das sind drei so verschiedene Dinge, dass man sie ohne Probleme voneinander trennen kann, ohne die Figur Lamprecht sozusagen künstlich aufzugliedern.

Das erscheint ja als die Besonderheit dieser dreibändigen Edition, dass man in ihr methodisch drei völlig unterschiedliche literarische bzw. historische Ansätze vorfindet. Da gibt es einmal durch die Erzählform in »Zeit und Welt. Gerhard Lamprecht und seine Film« diese genau hinschauende einfühlende Art, auf die einzelnen Filme einzugehen, sehr detailliert und nah nachzeichnend. Es gibt die »Mosaikarbeit«, das ist der historiographische Ansatz, und ein Art Geschichtsschreibung der Filmgeschichtsschreibung, vom Beginn erster Sammlungsideen zum Film bis in die Gegenwart zu schreiben, also eine scheinbar trockene Materie an Lamprechts Vita, aber auch über einen schier unendlichen Personenkreis zu verfolgen, und schließlich als Drittes die Auswahl aus den von Lamprecht durchgeführten Interviews mit Zeitzeugen, »Miteinander und Gegenüber« – Schlagwort: Oral History, eine subjektive Ansammlung zahlreicher Fakten aus der Produktionsgeschichte des frühen Films.
Wolfgang Jacobsen
: Also das war ursprünglich so nicht geplant, es gab zwischendurch mal die Überlegung, dass es so etwas wie eine klassische Monographie werden sollte, also ein durchgeschriebener Lebensentwurf sozusagen. Wir haben das lange Zeit verfolgt und überlegt, wie man diese verschiedenen Interessen in einer solchen Textform hätte bewältigen und darstellen können. Uns ist aber zunehmend klar geworden, dass es in der thematischen Herausforderung Konkurrenzen gibt, wenn man diese Strecken verfolgt, die einer Gesamtdarstellung nicht gut tun würden und ein Bild von Lamprecht und seinem ja nun zu differenzierenden Gesamtoeuvre und Interesse eher zerstören würde. Es würde so ein ‚Kuddelmuddel‘ werden, haben wir manchmal gedacht, und mit dieser Erkenntnis haben wir dann überlegt, kann man das nicht voneinander trennen, und die Herausforderung war an alle, also an die drei beteiligten Autoren, also an Eva Orbanz, die Herausgeberin dieser Auswahl der Zeitzeugengespräche, an Rolf Aurich, mit der Aufgabe, den Sammler Gerhard Lamprecht in Erinnerung zu bringen und ihn in einem Gesamtzusammenhang des Sammelns von Filmen und filmrelevanten Materialien, aber auch mit internationalen Beziehungen darzustellen, und auch an mich, mich diesen Filmen von Gerhard Lamprecht, die so missachtet und eigentlich auch unbekannt sind, zu stellen – dass das ganz individueller Zugänge auch des Erzählens und Darstellens bedarf. Und jeder hat dann für sich versucht, eine Textform zu finden, die seinem Gegenstand adäquat ist: Bei Rolf Aurich war das diese große Aufgabe, aus diesen vielen kleinen Erkenntnissen – hier ein Sammler, dort ein weiteres Sammlerleben, erster Zusammenschluss, Verstaatlichung und Sammelideen, und dann immer auch diese Strecke Gerhard Lamprecht … – das irgendwie so zusammenzufügen, dass eine große Darstellung daraus wird, die man auch liest und nachvollziehen kann, und ein Bild des Entstehens des Schreibens von Filmgeschichte letztendlich auch herauskommt, und bei Frau Orbanz, eine Entscheidung zu treffen aus den 25 Interviews: welche wählen wir aus, welche transkribieren wir, welcher Form editorischer Begleitung bedarf es, und bei mir mit der Aufgabe, sich auf die Filme von Lamprecht zu konzentrieren: wie erzähle ich von diesen Filmen, die dem Publikum eigentlich nicht bekannt sind, wenn man mal davon absieht, dass es sechs Filme gibt, die sich hier ein bisschen eingegraben haben ins filmische Gedächtnis, allen voran natürlich Emil und die Detektive [1931], aber das Gesamtwerk an sich ist überhaupt nicht präsent, und ich habe mich dann auch zu diesem sehr persönlichen Ton entschlossen, weil ich gedacht habe, ich muss auch klar machen: das bin ich, der diese Filme vielleicht zum allerersten Mal, oder nach vielen, vielen Jahren zum ersten Mal wieder sieht, und ich muss den Leuten auch eine Hilfestellung geben in der Darstellung, diese Filme lesend im Bild zu haben. Dann ist diese Herangehensweise so entstanden – sehr individuell die Handschriften, die sich in diesen drei Bänden hier letztendlich zeigen.

R.A.: Es ist ja auch gar nicht abzusehen, dass so ein Band wie der von Wolfgang Jacobsen geschriebene dazu führt, dass die Filme, von denen du sagst, sie seien unbekannt, nun bekannter werden würden. Dem gegenüber würde ich erstmal keinen großen Hoffnungen Ausdruck verleihen, weil die gesamte Sichtung des Werks praktisch nicht wiederholbar ist. Denn etliche Filme liegen ja gar nicht in einer Materialität vor, die es erlauben würde, sie im Kino zu zeigen. Es bedürfte also eines großen Aufwands, um, sagen wir mal, so etwas wie eine Lamprecht-Retrospektive zu machen.

SICHTUNGSERFAHRUNGEN UND ÜBERKOMMENE ZUSCHREIBUNGEN

Wo kamen die Filme her?
R. A.:
Aus verschiedensten Quellen, im Wesentlichen aber aus dem Bundesarchiv. Über den Daumen gab es mal so zehn Sichtungssitzungen, zum Teil über mehrere Tage, sodass die Kopien dann in verschiedenen Fassungen vorgelegen haben. Es bleibt trotz dieser wunderbaren Darstellung von Wolfgang, was das Werk angeht, immer noch ein unfertiges Werk, was die Präsentationsmöglichkeit betrifft. Die Chance hat niemand nutzen können oder wollen. Jetzt in diesem Rahmen, wo man sich so sehr auf Lamprecht konzentriert zu sagen: also dann zeigen wir mal die Filme in den bestmöglichen Kopien. Das wird auch nicht aufgefangen durch diese vereinzelte Erscheinungsweise auf DVD, das sind nur bestimmte Perspektiven, die auf kleine Teile des Werkes geworfen werden.

W. J.: Diese singuläre Kinoerfahrung des gemeinsamen Sichtens ist für mich eine ganz wesentliche Erfahrung gewesen, um mich diesen Filmen überhaupt zu stellen. Mir hat sich gezeigt, dass die Personen, die bei der Sichtung anwesend waren, auf sehr unterschiedliche, teilweise auf fast extremistische Art und Weise auf die Vorführungen reagiert haben. Man muss sich ja nur den »Cinegraph«[Lexikon zum deutschsprachigen Film]-Eintrag anschauen über Gerhard Lamprecht, an dem ich in meiner Erinnerung sogar mitgewerkelt habe, in Unkenntnis des Gesamtwerks – es gibt so pauschalisierte Zuschreibungen – also für die Zeit 1933 bis 1945 für Lamprecht gilt einfach: irgendwie ist er durch die Zeit gekommen, indem er Genre-Adaptionen gemacht hat und Literaturverfilmungen. Das ist sozusagen eine Kategorisierung, die sich herleitet aus den Zuschreibungen des »Illustrierten Film-Kuriers«, und nicht aus der Kenntnis der Filme, wenn ich das zugespitzt formuliere. Diese Filme jetzt zu sehen bzw. damals gesehen zu haben bei diesen Sichtungen, offenbarte, dass diese Genrezuschreibungen völlig unzureichend sind. Sondern dass diese Filme in einer Kontinuität des Erzählens, dass Lamprecht eigen ist, eine Fortschreibung dessen beinhalten, was er auch schon Mitte der zwanziger Jahre, etwa an Alltagsbeobachtung, in seinen Filmen zeigt. In der Zeit 1933-45 ist in sehr vielen Filmen eben nationalsozialistischer Alltag aufgehoben und zu erkennen, und das herauszufiltern war schon ein Erkenntniswert. Das Problem aber, das, was ich eben meinte mit zum Teil extremistischen Äußerungen bei denen, die diese Filme mitgesehen haben, war, dass ich zu meiner Überraschung nur eine sehr geringe Bereitschaft bei einigen fand, sich auf diese Filme überhaupt einzulassen, sondern dass das Vorurteil, das in der bisherigen Bewertung von Lamprechts Filmen und Werk allgemein herrschte: »na ja, Handwerker, mäßig interessant«, um es mal ganz vorsichtig zu formulieren, oder: »langweilig« – das ist ja ein Begriff, den ich problematisiere in meiner Darstellung -, dass dieses Vorurteil in den Köpfen meiner Mitseher so manifest war, dass sie davon nach meinem Eindruck auch nicht los kamen. Das Stöhnen beim Anschauen war geradezu aufreizend, und es gab so wenig erkennbare Bereitschaft, sich da einmal zu öffnen und zu sagen: alles weg, was ich bisher weiß von Lamprecht, und jetzt gucken wir mal auf diese Bilder, wir lassen uns mal darauf ein und versuchen nachzuvollziehen, mit welchem Temperament er erzählt und was sein Interesse des Erzählens überhaupt sein könnte. Das hat mich so verwundert, und ich habe das dann auch für mich problematisieren müssen in meiner Darstellung. Da war eine innere Aufregung, denn ich habe mich ja auch dazu bereiterklären müssen, mich von diesen Vorbewertungen frei zu machen und mir zu sagen: ich gucke mir das jetzt einfach mal an. Ich bin neugierig, ich bin Kind, ich bin unschuldig und naiv, ich möchte jetzt sozusagen neu sehen. Und es gab, natürlich, mit Rolf Aurich, der nicht so viele gesehen hat, immer wieder sehr lange Gespräche, etwas, das bei uns sehr wichtig ist, dieser gemeinsame Austausch, morgens noch in Hut und Mantel, eine Idee zu haben und gleich loszuplappern, etwas zu entfalten und um zwölf Uhr jetzt auf einmal zu sagen, oh, ich muss ja auch noch etwas anderes tun. Diese Gespräche sind sehr wichtig.

R.A.: Den Hut hast du, ich nicht.

W. J.: Du hast immer die Mütze auf. Ich hätte mir manchmal gewünscht, dass die Konferenz von Ideen und Eindrücken offener ist, mit mehr Teilnehmern. Das habe ich so nicht vorgefunden, das war für mich ein Problem, weil ich mich natürlich auch gefragt habe: bist du jetzt so blöde und naiv und willst den Lamprecht einfach liebhaben und verstellst dir durch eine vorgefasste Zuneigung den Blick auf die Filme? Das hat mich übers ganze Schreiben und auch den Prozess des Bedenkens vor dem Schreiben immer wieder innehalten lassen und überlegen: wohin treibt jetzt die Geschichte, die du notieren wolltest, oder die Beobachtung, die du gemacht hast in diesen Filmen. Das gehört mit zu diesem Buch, darum taucht dann auch ganz überraschend für manche Leserinnen und Leser das Wort »Ich« auf –

Was nach herkömmlichen Maßstäben in einem Sachbuch angeblich nichts zu suchen habe, und das macht den Charakter Deines Buches ja auch deutlich. Für mich ist gerade anhand der illustrierenden Einstellungspassagen, die ich sehr gut ins Buch eingebaut finde, als Sequenzen, die in Abbildungen vorhanden sind parallel zu deiner Bildbeschreibung, schon deutlich geworden, was den besonderen Charakter von Lamprechts Filmarbeit ausmacht: die Rhythmik, die Langsamkeit, die vermeintliche Langeweile, das Augenmerk auf die Schilderung von alltäglichem Geschehen, von Tätigkeiten – das kann man sehr gut nachvollziehen. Man bräuchte dann wohl doch einen möglichst wenig vorgeprägten Blick auf einen Film der Zeit, der eigentlich Bildquellen zeigt, einerseits etwas, das gefunden ist, Beobachtungen des Alltagslebens, zeitgenössisch, auf der anderen Seite den Charakter eines Regisseurs, über den man sprechen kann – welche künstlerischen Ambitionen und Fähigkeiten man dem zuschreibt oder auch nicht. Er ist kein Fritz Lang, ist aber doch ein ernst zu nehmender Filmregisseur.
W. J.:
Zu bedenken war eben auch der Begriff der Autorschaft, die Frage: war Lamprecht Autorenfilmer – ein Begriff, der auch in einem dieser wenigen Gespräche fiel. Ich denke schon, dass man zuweilen Momente in seinen Filmen findet, die mit einem solchen terminus technicus zu belegen wären. Ich würde nie so weit gehen, ihn als Autorenfilmer zu bezeichnen, das ist er glaube ich nicht. Zunächst ist da so ein Grundverständnis von Kunst, so eine Zuneigung zu diesem Medium Film vorhanden,  und eine Begabung des Erzählens und des Übersetzens von Alltagsgeschichten in eine Fiktion, in einen erzählerischen Zusammenhang im weitesten Sinne, aber es bleibt in der Aufbereitung so etwas wie im besten Sinne etwas Kunsthandwerkliches, also man kann die Mittel auch als die Grundausstattung eines Filmregisseurs beschreiben. Dieses Vermögen hat er in hohem Maße, und dann gibt es immer wieder, was für mich aufregend war zu entdecken, in diesem Erzählfluss, der so dahingleitet, plötzlich sozusagen eine Zuspitzung: plötzlich hat er ein unglaubliches Interesse an einem Bild, einem Schattenriss, an dem muss er den ganzen Tag gepfriemelt haben, an diesem Bild verdichtet sich ein solches Interesse, in der Ausarbeitung einer Sequenz, wie zum Beispiel dieser großen Brandszene, die es in Die Verrufenen [1925] gibt. Da übersetzt er dann in das Filmische hinein eine gedankliche, thematische Konstruktion und findet ein kongeniales Zusammengehen dieser beiden Interessen. Diese Einzelbilder, die manchmal wie isoliert in seinen Filmen auch stehen, die haben mich natürlich außerordentlich interessiert, weil ich sie immer als eine Form der Verdichtung, der Zuspitzung eines Bildes im Fluss der Bilder wahrgenommen habe.

LANDSCHAFT DER SAMMLER UND ARCHIVE

Ich habe mich gefragt, was das »Alleinstellungsmerkmal«, was das Spezifische von Lamprecht unter Regisseuren und unter Sammlern seiner Zeit gewesen sein könnte. Er war ja immer beides: unter den Sammlern war er der Macher, und unter den Regisseuren auch noch der mit dieser Schwäche fürs Kino von Kinderzeiten an. Hat ihn das ausgemacht, war diese Doppelung immer da?

R. A.: Die Doppelung hat ihn biographisch begleitet. Das Sammeln war ja sogar noch vor dem selber Inszenieren und vor dem Schreiben von Drehbüchern da, trotzdem ist das Besondere, würde ich eher sagen, wenn es sich in der Person vereint, eigentlich gewesen, dass in der Öffentlichkeit, und ein Filmregisseur steht ja nun mal in der Öffentlichkeit, es praktisch überhaupt keine Rolle gespielt hat. Es war ja im Gegenteil praktisch gar nicht bekannt, dass hinter dieser Person sich auch ein Sammler verbirgt. Die Branche hat das wohl gewusst, aber man muss berücksichtigen: das Sammeln von Filmen hat in den Zwanzigern bis in die fünfziger Jahre eigentlich keine größere Bedeutung, das hat man vielleicht als Spleen abgetan oder ähnliches. Dass er aber gleichzeitig über die Jahrzehnte in dieser sehr kleinen Landschaft der Sammler und der langsam entstehenden Archive wiederum eine große Rolle spielt, das ist ein ganz eigenes Thema. Im Grunde genommen entspricht die Teilung dieser Person mit ihren Fähigkeiten und Interessen auf verschiedene Bände schon eigentlich der Realität in Lamprechts Leben, denn das hatte nur für ihn persönlich alles miteinander zu tun, Man kann auch so weit gehen zu sagen, es gibt in den Filmen etwas, was man für das Sammeln beschreiben könnte, eben dieses Versammeln von bestimmten Interessen, Motiven, speziell Berliner Motiven – da drückt sich eine Persönlichkeit sicherlich schon aus. Aber was den praktischen Alltag angeht, würde ich es so beschreiben, dass sein Sammeln, das kostenintensiv gewesen ist, nur möglich war dadurch, dass er eben als Filmregisseur in einer privilegierten sozialen Lage war, nämlich ganz ordentlich Geld verdienen zu können, und in dem Moment, als das dann abbröckelt in den fünfziger Jahren und er auch nicht mehr Filme machen kann, die seinen Ansprüchen genügen, weil die Filmwirtschaft andere Interessen verfolgt, da ist dann auch das Ende gekommen, und er muss in diesem Moment überlegen: wie kann ich aber, wenn ich schon als Regisseur nicht mehr arbeite, wie kann ich dann noch das Sammeln fortsetzen. Da ist dann eben der Moment gekommen, wo er zwar nicht allein, aber unter tätiger Mithilfe von anderen Berliner Kulturpersonen auf die Idee kommt, da muss eine Institution her, das kann ein einzelner gar nicht leisten, nicht generieren, sondern da braucht es eine tragfähige Grundlage, die in dem Fall das Land Berlin am besten schaffen muss. Es ist eine lange Entwicklung dahin, aber während dieser Entwicklung gab es eben immer diese Parallelität des praktischen Filmemachens und Schreibens und Produzierens auf der einen Seite, und auf der anderen dieses häusliche Sammeln, könnte man fast sagen. Er hatte nicht so etwas wie ein Außenlager, es spielte sich tatsächlich in Friedenau in der Wohnung ab, die bis unter die Decke wohl gefüllt war mit gefährlichen oder weniger gefährlichen Filmmaterialien und was sich noch so alles angesammelt hatte.

Also Leben in der Sammlung –
R. A.:
– und das Haus verlassen hat er, um Filme zu inszenieren.

Um die Sammlung fortzusetzen. Er ist ja schon recht erfolgreich gestartet, als junger Mann relativ gut bezahlt und ein erfolgreicher Spielfilmregisseur.
W. J.:
Das war ein guter Start – gefördert durch Lupu Pick [1886-1931; Schauspieler, Regisseur und Autor], für den er ja Drehbücher geschrieben hat [Lamprecht schreibt bereits 1918 während eines Lazarettaufenthalts Filmmanuskripte, verkauft eines an Pick, dessen »Rex-Film« ihn 1918-1920 als Dramaturgen beschäftigt], auch schauspielerisch hat er sich in dessen Filmen bewegt, und vorher bekam er ja auch eine Förderung, die ihm den Weg sicherlich geebnet hat, durch den Schauspielunterricht, den er bei der Familie Bildt, nicht nur bei Paul Bildt [1885-1957; er spielt später zahlreiche Rollen in Filmen Lamprechts], sondern auch bei dessen Frau Charlotte genommen hat, war also gut vorbereitet. Theater war eine Perspektive, die er ja auch am Rande ausgebaut hat, aber dann kam Lupu Pick mit der Aufforderung hinzu, der junge Mann möge sich doch auch in diesem Metier, in seinen Produktionen betätigen, das hat ihm sehr schnell und sehr konzentriert die handwerklichen Fähigkeiten, die man fürs Filmemachen braucht, vermittelt. Dann ist er in der Tat sehr schnell im Geschäft, weil er eben auch –  und das ist ja fast schon ein erster Höhepunkt seines Schaffens – im Film der Weimarer Republik das Soziale mitbesetzt, und das auch geschickterweise tut in einer Zusammenarbeit oder einer Bekanntschaft mit einer so prominenten Figur wie Heinrich Zille. Und in der Tat ist es so, dass diese Filme in ihrer Zeit nicht nur in Deutschland gezeigt worden sind, sondern mit großem Erfolg zum Beispiel auch in Frankreich oder in New York. Also findet man in der ‚New York Times‘ auch Rezensionen über Die Verrufenen (Der fünfte Stand; 1925), und die Aufmerksamkeit auf diese Filme aus Deutschland ist durchaus groß. Daraus hätte auch ein internationales Renommee erwachsen können – das ist so nicht passiert. Das hängt sicherlich auch mit den politischen Entwicklungen in Deutschland zusammen, mit dem Einschnitt 1933, aber er war ein etablierter Regisseur, und dieses Etabliertsein hat sich dann ungebrochen 1933 bis 1945 fortgesetzt. Er gehörte sicherlich in der Zeit des Nationalsozialismus nicht zur ersten Reihe, nicht zu den herausgehobenen Regisseuren, die einen Dauervertrag hatten, sondern er war ein Regisseur mit Einzelvertrag, aber im oberen Drittel der Honorierung – also schon in einer sehr gefestigten Position, und die Kontinuität seines Schaffens in dieser Zeit ist ja wirklich ungebrochen, es gibt eine ganz hohe Produktivität, die er auch in den Jahren der Diktatur zeigen kann und die ihm erlaubt ist.

KONTINUIERLICHE FILMARBEIT IN DEUTSCHLAND

Das besondere Merkmal Lamprechts aus der Überschau scheint für mich, dass er eigentlich durchgängig filmen konnte. Ein deutscher Regisseur, der gleich nach dem ersten Weltkrieg anfängt, im Stummfilm schon seinen eigenen Ausdruck findet, man könnte denken, er habe durch diesen sozialen Schwerpunkt um Filme wie Die Verrufenen etc. schon eine eigene Linie gefunden, und in der Nazizeit kann er weiterproduzieren, sammelt aber in unterschiedlichen Genres die unterschiedlichsten Stoffe. Sind die ihm offeriert worden?
W. J.:
Das ist schwer zu rekonstruieren. Seine eigene Autorschaft für das Drehbuch ist nicht mehr so deutlich wie in den Filmen der zwanziger Jahre, es sind vornehmlich Bücher anderer Autoren, obwohl wir zum Beispiel aus einem Bericht von dem Schriftsteller Frank Thiess wissen, dem Drehbuchautor zu Diesel [1942], dass Lamprecht, der dort auch im Drehbuch nicht ausgewiesen ist, sich immer auch in die Arbeit des Schreibens der Autoren eingemischt hat. Er muss wohl präsent gewesen sein, aber es sind die Drehbücher anderer Autoren, und insofern ist es auch sehr schwer auszumachen, ob das, was sich zu erkennen gibt als doch NS-affin in diesen Geschichten, eine Vorgabe war, die im Drehbuch angelegt ist und die er einfach nachvollzogen hat, oder ob da auch eigenes Wollen, so zu erzählen, wie es sich in diesen Filmen dann darstellt, verantwortlich ist. Das ist schwer auseinanderzuhalten, und ich habe ja auch versucht, das mit der nötigen Zurückhaltung auszudifferenzieren – wo kommt welches NS-nahe Bild wirklich her, wie ist es in diesen Film reingekommen. Es fällt in der Tat auf, dass er einer der wenigen Regisseure überhaupt ist, die in dieser Kontinuität beginnend nach dem ersten Weltkrieg durch die Weimarer Republik hindurch im Dritten Reich die Arbeit fortsetzen können, und dann auch gleich 1946 wiederum einen Anschluss finden. Es scheint so, als ob die Filme, die er 1933 bis 1945 gedreht hat und die ja nicht alle ganz unproblematisch sind, nach 45 überhaupt keine Rolle gespielt haben. Vielleicht waren sie gar nicht bekannt, oder der Aufbruch war ein ganz anderer, so dass diese Filme für einen Moment in der Zeitgeschichte und der Lebensgeschichte auch gar keine Rolle spielten. Lamprecht ist da schon eine herausgehobene Person, aber es gibt da auch andere, und das empfinde ich nach wie vor auch als ein Manko unserer Form des Nachdenkens über Film und das Schreiben von Filmgeschichte. Es ist ja jüngst als Publikation des Filmarchivs Austria diese umfassende Darstellung von Horst Claus über Steinhoff erschienen [Horst Claus: »Filmen für Hitler. Die Karriere des NS-Starregisseurs Hans Steinhoff«. Wien 2012]. Hans Steinhoff nehmen wir also immer wahr als einen herausgehobenen Repräsentanten des nationalsozialistischen Films. Dass er vor 1933 genau wie Lamprecht, wenn auch in einem anderen Genre, einem anderen erzählerischen Temperament, genauso erfolgreich in der Weimarer Republik tätig war, fällt völlig raus, auch in der Wahrnehmung dieses Buches, wie ich finde, ungerechterweise. Man konzentriert sich auf die Propagandafilme von Steinhoff und übersieht, aus welcher Tradition was kommt, wo überhaupt der Bruch mit der Tradition ist, und was sich möglicherweise im Werk fortsetzt, was der Autor Claus sehr wohl im Blick hat. Das ist auch dessen große Leistung, dass er das ungehobene Werk zum ersten Mal schreibend sichtbar macht, aber wir nehmen diese Gesamtkomposition von Leben und Werk so nicht wahr, sondern Autoren haben immer eine Zuschreibung für eine bestimmte Dekade, und dafür stehen sie – punctum, fertig, aus. Mich lässt das seit längerem unbefriedigt, und bei Lamprecht bot sich eben auch die Chance zu erzählen, wie einer sein Interesse und seine künstlerische Handschrift in verschiedenen Systemen wahrt, und es war zu befragen, überschreitet er eine Grenze oder schrammt er diese Grenze nur, wie gehe ich heute mit dem Wissen um, was politisch geschehen ist in jener Zeit. Mache ich ihn einfach zu einem NS-Regisseur und sage: Genre stimmt nicht, ist doch Propagandafilm. Ich halte mich und denke, Rolf Aurich geht das auch so, an den Einzelfall, uns interessiert das Individuum, es ist auszudifferenzieren – die Haltungen sind nicht eindeutig.

R. A.: Es gibt ja sogar eine Art Spiegelung zwischen dem Band zu Hans Steinhoff und deinem Band über Lamprecht. Wenn Horst Claus die Weimarer Zeit, die ja bisher kaum eine Rolle gespielt hat, ganz ausführlich darstellt, ist es in deinem Band möglich, die NS-Filme von Lamprecht auch zu revisionieren, wie die Österreicher vielleicht sagen würden, also mit erhöhter Genauigkeit im Blick auf ein Werk, gesteigerten Differenzierungsmöglichkeiten, wird es in beiden Fällen aller Voraussicht nach nicht dazu kommen, dass die Figuren Steinhoff und Lamprecht künftig in der Öffentlichkeit anders behandelt werden. Das sind wiederum individuelle Anstrengungen, die vermutlich zu wenig führen werden. Das ist meine Vermutung. Lamprecht hat sich ja erkennbar nicht aus dem Fenster gehängt, er wird nicht mit Harlan und Riefenstahl u. a. in einer Liga abgehandelt, aber dieses Inszenieren unter einer Decke sozusagen, das hat ihm natürlich nach dem Krieg geholfen. Er galt eben nicht als einer aus dieser Liga, sondern er war unverfänglich, aber auch andere, Artur Maria Rabenalt zum Beispiel, sein Film …reitet für Deutschland (1941) spielte offenkundig keine Rolle, und er ist bei der DEFA beschäftigt worden. Das kann man nicht so schematisch sehen, da spielte sehr viel Zeitgenossenschaft eine Rolle, es war eine besondere Situation nach dem zweiten Weltkrieg. Man wollte Filme machen, man hatte nicht unbegrenzt Personal zur Verfügung, und es spielten sicherlich persönliche Beziehungen eine Rolle, wenn ich so sehe, wie eng Lamprecht und Kurt Maetzig [gehört 1945 dem auf Initiative der »Zentralverwaltung für Volksbildung« begründeten »Film-Aktiv« zur Vorbereitung einer deutschen Filmproduktion an, 1946 dem Gründungskonsortium der DEFA, 1954 wird er Gründungsrektor der »Deutschen Hochschule für Filmkunst« in Potsdam-Babelsberg] miteinander befreundet waren in den ersten Jahren. Maetzig ist eindeutig die Person, die Lamprecht zur DEFA holt, da gibt es einen frühen Brief, der zeigt, er verehrt ihn. Lamprecht ist schon ein Mann aus der Vergangenheit, und Maetzig verehrt ihn, ohne einen Filmtitel zu nennen, sagt nicht, die Weimarer Filme finde ich toll, oder Die Geliebte [1939] besonders interessant, sondern der ist für ihn eine Instanz, eine richtige Autorität, und der Tenor dieses Briefes lautet sinngemäß so: wir würden ja einen Riesenfehler machen, wenn wir gerade Sie nicht zur DEFA holten, die zu dem Zeitpunkt noch gar keine Namen gehabt hat, es war 1945 im Spätsommer, da gab es schon Kontakt. Das kam ja nicht von ungefähr. Maetzigs Vater besaß ja ein Kopierwerk, das wiederum hatte Filmlager, im heutigen Brandenburg, oder auch jenseits der Oder, im heutigen Polen, und in einem dieser Filmlager hat Lamprecht seine Filme, seine Nitrofilme gelagert, die sind dort durch Bomben zerstört worden, durch Kriegshandlung. Das ist jetzt die Zuspitzung deren Bekanntschaft, sowohl kannte Lamprecht den Vater von Maetzig als auch den jungen Kurt, der ja auch kein Novize mehr war, sondern schon hochversiert im Bereich Kopierwerkstechnik, darüber hat er seine Chemiker-Dissertation geschrieben und war bereits 1939 Mitglied in der kinotechnischen Gesellschaft, also schon ein eingeführter Mensch in der Branche, der aber noch nicht als Regisseur tätig war, sondern vorerst als Techniker, als Kundiger. Gleichzeitig war er aber auch im Widerstand tätig, für die KPD. Das hat wiederum Lamprecht mit Sicherheit nicht gewusst. Ist ja normal, dass man nicht weiß, wenn einer konspirativ arbeitet. Aber das ist eine ganz tief wurzelnde Beziehung zwischen den beiden.

»ALLEN GERECHT WERDEN« –DER UMGÄNGLICHE REGISSEUR

Trotzdem ist es ja so, dass sie bei aller Wertschätzung angesichts der Verschiedenheit der politischen Haltung keine große Zukunft haben konnte, aber eine gewisse Zeit lang konnte Lamprecht sich ja doch auf die DEFA einlassen. Könnt ihr genauer bestimmen, wo der Abzweiger war?
R. A.:
Das lässt sich genauer sagen. Ich habe versucht – das ist die einzige Stelle in meinem Band, an der es auch mal um Filme geht – eine Art Triade zu eröffnen: Lamprecht – Maetzig – Günter Reisch [beginnt 1946 eine Ausbildung im DEFA-Nachwuchsstudio; seit 1956 DEFA-Spielfilmregisseur]. Die haben alle miteinander zu tun gehabt. Reisch als jüngster war zunächst Assistent bei Lamprecht, hat dessen Denken und Inszenieren, überhaupt Filmemachen kennengelernt, und ist dann zu Maetzig, der dann noch wichtiger wurde für ihn, übergewechselt, und im Moment dieses Wechsels, etwa 1949, weg von Lamprecht hin zu Maetzig, das ist auch programmatisch zu nehmen. Da hat der Kommunist Maetzig dem jungen Reisch eine bessere Zukunft geboten, auch geistig, und in dem Moment ist auch Reisch schon klar gewesen, dass Lamprecht eher die Vergangenheit repräsentiert, also ein Filmemachen, das nicht so offensiv nach vorne blickt, um eine neue Gesellschaft aufzubauen, sondern – er drückt das ja so wunderbar in einer e-mail an mich aus – »Er stand für eine Vergangenheit,  die er dann in seiner Kinemathek so unnachahmlich auch dokumentiert hat«. Das ist dann nach Quartett zu fünft [1949], als Lamprecht klar geworden sein dürfte, dass er bei der DEFA jetzt keine praktische Verwendbarkeit mehr haben wird, obwohl einzelne Figuren der DEFA noch sehr viel später Lamprecht als einen der ihren bezeichnet haben. Aber das bezog sich glaube ich schon einmal auf die Frühzeit und dann eben auch auf den Menschen – ich glaube, Lamprecht konnte, wenn man so will, mit vielen, zwar nicht mit jedem, aber er war ein umgänglicher Mensch, mit dem man sicherlich schon reden konnte, zu der Zeit zumindest.

Das teilt sich über das Buch unbedingt mit. Es gab offenbar auch keine Scheuklappen aufgrund seines bürgerlichen Standpunktes. Da findet sich ja diese Beschreibung eines Porträtfotos von Lamprecht aus dem Jahr 1930, der Versuch, aus der Wirkung des Gesichts auf den Charakter zu schließen. Daneben hat man als Leser und Betrachter einen ebenso offenen, fast sympathisierenden Zugang zu dem Protagonisten. Da fällt es gar nicht so ins Gewicht, dass bestimmte Kontakte nicht zustande kommen, wenn es etwa heißt, Lamprecht konnte den zunächst ja aufklärerischen Impuls der sozialistischen frühen DEFA einfach nicht mitvollziehen.
R. A.:
Das wäre auch unecht gewesen, wenn er sich nur rangehängt hätte im Osten Deutschlands an eine immer deutlicher werdende stalinistische Richtung.

W. J.: Diese Beschränkung hat er ja auch selber wahrgenommen und in einem Gespräch mit unserem Kollegen Gero Gandert [1963 Initiator und Mitbegründer der »Freunde der deutschen Kinemathek« (seit 1.11.2008: Arsenal – Institut für Film und Videokunst e.V.); seit 1964 Mitarbeiter der Deutschen Kinemathek, Berlin], das in den sechziger Jahren zwischen den beiden geführt wurde, problematisiert. Da geht es noch mal um diese sogenannten ‚Zille-Filme‘ [insb. Die Verrufenen (1925), Menschen untereinander (1926)], und Lamprecht sagt von sich aus, aus der Retrospektive: ein politisch denkender Mensch oder ein politischer Regisseur, gleichsam mit einer ideologischen Vorgabe, wie zu inszenieren wäre, bin ich nie gewesen. Dann fällt ein sehr selbstkritischer Nachsatz in diesem Gespräch – »Vielleicht habe ich da einen Fehler gemacht«, heißt es sinngemäß. In der Rückschau auf Leben und Werk erkennt er vielleicht doch, dass er sich in der Zeit hätte vielleicht stärker in die Pflicht nehmen müssen, für etwas einzustehen, aber, und das ist ja ein Kennzeichen, er bleibt immer in einer beobachtenden, wenn auch nicht objektiv beobachtenden Rolle. Er ist nicht derjenige, der sich einmischt, plakativ nach vorne tritt und sagt: das ist also jetzt die Quintessenz, was ich euch erzählen will. Die Form des Erzählens bleibt immer ganz offen, und sie lässt verschiedene Interpretationen zu, aber in sie eingewebt ist immer auch ein politisches, zeitgenössisches Element, und diese Unbefangenheit, eine Sympathie für das Gegenüber zu haben, zu denen, mit denen er Filme macht, wie auch zu Gesprächspartnern, die kommt ihm immer wieder sehr entgegen, wenn er mit so unterschiedlichen Personen, in den sechziger Jahren vor allem, beginnt, diese Zeitzeugengespräche zu führen, die Eva Orbanz ediert hat, wo man eben auch einen ganz wesentlichen Charakterzug von Lamprecht entdeckt, der auch zu beschreiben wäre mit »allen gerecht werden«. Diese Gespräche sind ja in einer besonderen Art und Weise vorbereitet, sie sind ja nicht »live«, sondern vor dem »live« sind da ganz viele Probenbesprechungen. Die Fragen werden vorher diskutiert: wie werden sie gestellt, was wird er antworten – und das merkt man ja beim Abhören der Gespräche im Original noch sehr viel deutlicher als in der Transkription, wo ja eine Verdichtung notwendigerweise erreicht werden musste. Man merkt, wenn seine Gesprächspartner Hänger haben und sich nicht erinnern können an das, was er abfragt, dann weiß er, Lamprecht, der Frager, die Antwort und souffliert sozusagen. Er tut das aber nicht mit dem Finger, keine Schelte, sondern das ist immer eine Hilfestellung. So wie der Regisseur einem Schauspieler gegenüber eine Hilfestellung gibt. Es gibt ja nur wenige Beschreibungen, die etwas über seine Form des Inszenierens und seine Arbeit mit Schauspielern mitteilen. Er wusste schon sehr genau, was er erreichen wollte, er hatte schon so etwas wie sein inneres Storyboard und das fertige Bild im Kopf, und nicht jeder Schauspieler hat das sofort geliefert.  Er konnte auch insistierend bei der Probenarbeit sein, aber er hat nie gesagt: das ist falsch, das musst du so machen, sondern er hat sie motiviert, den Dialog nochmal zu sprechen, zu spielen mit dem Hinweis: da hinten ist ein Teller runtergefallen oder jetzt ist gerade da dieses Licht ausgefallen, tut mir echt leid, aber das müssen wir jetzt technisch richten, und dann bitte das ganze nochmal. Also sehr zugewandt, und immer daran interessiert, das Gegenüber, sei es der Gesprächspartner oder die Leute, mit denen er beim Film zusammenarbeitete, nicht zu beschädigen in ihrem Selbstgefühl, ihrem Selbstwert, sondern sie auf andere Art und Weise dazu zu bringen, das zu erzählen bzw. das zu spielen, was seiner Vorstellung für den Film oder eben der Aufzeichnung eines filmhistorischen Gegenstands entspricht.

Hat er dafür Sympathien genossen?
R. A.:
Oh ja. Ich habe keine einzige Stelle gefunden, die im Nachhinein kritisch über Lamprecht, von den Schauspielern, geäußert worden wäre, im Gegenteil, die Besetzungen sind ja oft hochklassig. Dass die Filme dann nicht so diesen Status erreicht haben, ist eine ganz andere Frage. Aber die haben wirklich gern unter Lamprecht gearbeitet. Ich glaube, es gibt eine Schauspielerin, die sagte »Es war mit Ihnen immer so …«, als wollte sie sagen: »gemütlich«, es war so nett. Er hat offenbar das Vermögen gehabt, psychologisch zu arbeiten und ihnen das vielleicht gar nicht mehr als Arbeit erscheinen zu lassen, und doch dabei mit dem Gefühl, trotzdem mit einem ordentlichen Honorar nach Hause zu gehen.

‚Unangestrengt‘ würde mir dazu einfallen – ohne Stress, könnte man heute auch sagen.
R. A.:
Er hat wohl eine Atmosphäre schaffen können, die das Arbeiten nicht mehr unmittelbar als Arbeit hat erscheinen lassen.

Es ist ja auch schon ein interessantes Kennzeichen, wenn einer in Irgendwo in Berlin (1946), Lamprechts erstem Nachkriegsfilm für die DEFA, so gut mit Kindern umgehen kann, das heißt so viel zulassen kann, leicht lenken, nie diktatorisch zu werden.
R. A.:
Es gibt ja dieses kleine Beispiel von Inge Landgut, als sie in den siebziger Jahren mal dem SFB [Sender Freies Berlin] berichtet hat über die Dreharbeiten zum Emil und die Detektive-Film [1931]. Da erzählt sie, wie sie beim Drehen es nicht geschafft hat, »Emil und die ‚Detektive‘« zu sagen, sondern »Dedektive« sagt sie ständig. Irgendwann nach der dritten Aufnahme sagt Lamprecht: »Komm Inge, sprich so, wie du willst, dann ist’s gut«. Ein freundlicher Umgang mit den Kindern; interessant, dass er keine Kinder hatte.

EIN MOSAIK AUS SAMMLUNGEN UND ARCHIVEN

Wenn man in deiner »Mosaikarbeit« zu Lamprecht, dem Sammeln und den Archiven in den Anhang schaut und das Personenregister durchblättert, stellt man fest, es dürften zwischen 700 und 800 Namen sein, die da aufgelistet sind. Einen derart überbordenden Anhang hat man schon in geschichtswissenschaftlichen Büchern nicht so oft. Dann wird einem ja auch klar, wie diese Methode funktioniert: des Sammelns und des Nachzeichnens von Sammlerbeziehungen, und man sagt sich, dass es doch viele Jahre dauern muss, bis man auf einen solchen Wissensstand kommt, diese immense personelle Vernetzung überhaupt herzustellen zu können.
R. A.:
Das war es, was ich eingangs gesagt habe, es ist nicht eine Arbeit, die jetzt die letzten zwei Jahren erfordert hätte; die dauert länger. Meine Maßgabe war, pro Seite zwanzig Namen zu nennen (Gelächter). Das hat tatsächlich mit dieser Interessenslage, die sich ja dann leicht verändert hat, zu tun, ich will mal sagen, vor zehn, elf Jahren habe ich angefangen, über das Reichsfilmarchiv zu recherchieren, und daraus hat es sich entwickelt. Es ist ja auch möglich gewesen, meine Dienstreise zu diesem Thema anzutreten und für eine knappe Woche nach Marbach ins Deutsche Literaturarchiv zu fahren und dort zu notieren, welche Beziehungen es  zwischen Enno Patalas und Siegfried Kracauer und Kracauer und Kurt Pinthus und Pinthus und Lotte Eisner usw. gegeben hat. Das konnte man dann alles erkennen, aber das heißt dann auch, diese Aufzeichnungen liegen da erst einmal Jahre lang ungenutzt und wurden für diesen Zweck wieder ans Licht gefördert. So kam das. Es ist tatsächlich, wenn man so will, meine Mosaikarbeit.

Was beim Lesen deutlich wird: Es ist ein komplett neues, kaum auch nur ansatzweise  beackertes Gebiet, reines Recherchen- und Forschungsergebnis.
R. A.:
Literatur selbst habe ich weniger verwendet, das stimmt. Da ist viel entstanden aus einer richtigen Recherche, die sich in den Archiven abgespielt hat.

Und dieses personelle Netzwerk ist doch wohl etwas, das sich erst einmal ablagern muss, damit man es überhaupt erkennt. Wie etwa Korrespondenzen zustande kommen zwischen diesen Hunderten von Personen.
R. A.:
Ja, das stimmt, aber es sind ja auch oft dieselben, es fallen unendlich viele Namen – Gero Gandert, Henri Langlois natürlich [1935 Mitgründer der Cinémathèque Française], Lotte Eisner [1945-75 Chefkonservatorin der Cinémathèque Française; eine der ersten Filmkritikerinnen] auch – aber eben auch Leute, die zeitgenössisch mit Lamprecht sehr viel zu tun hatten wie Walter Jerven [1889-1945, begründete als Filmsammler 1923 ein eigenes Archiv].

AGREEMENTS UNTER SAMMLERTYPEN – BESCHEIDENHEIT, DIE AUF REICHTUM GRÜNDET

Geheime, teils gänzlich unbekannte Protagonisten scheint es da zu geben, zentrale Figuren, etwa Eduard Andrés [1900-1972; Sammler und Filmautor, der nach dem zweiten Weltkrieg ein privates »filmgeschichtliches Institut« aufbaute. Nachlass im Archiv der Deutschen Kinemathek], dem Du ein Kapitel widmest.
R. A.:
Das war noch so eine Entdeckung im Lauf der Schreibarbeit, dass wir irgendwann festgestellt haben, diese Figur, die vollends vergessen ist, spielt für Lamprecht eher die Rolle der Abgrenzung, also – die mochten sich nicht. Aber in der historischen Filmvermittlung, beim Thema Filmausstellung in Deutschland war das eine wichtige Figur, und zu unserer Überraschung stellte sich dann noch heraus, dass dieses Haus den Nachlass von besagtem Andrés besitzt. Das hat natürlich die Möglichkeit eröffnet, da noch etwas genauer hinzuschauen, und so spielt diese Figur im Hintergrund immer ein wenig, in bestimmten Passagen des Buches eine gewichtige Rolle. Dieses Buch hat auch viel mit den Beständen des Hauses, Deutsche Kinemathek, zu tun. Das ist bei den beiden anderen Bänden genauso, aber bei der »Mosaikarbeit« besonders deshalb, weil ja der Nachlass Lamprecht auch wiederum bei uns sich befindet, der ist so eine Art Grundlage gewesen, eine Art Ausgangspunkt. Insofern greift das Thema des Buches zwar über Lamprecht und die Kinemathek hinaus, aber der Ausgangspunkt ist eigentlich doch wieder dieses Haus. Und ich hoffe, dass die nachwachsenden Mitarbeiter sich besonders dafür interessieren, denn bevor das Buch erschien, gab es oft Fragen zur Geschichte des Hauses, und da konnte man ihnen immer nur eine Chronik geben, die die Kollegin Helga Belach einmal angefertigt hat vor etwa zwanzig Jahren, das war’s eigentlich. Aber erst mit dem Buch ist es jetzt möglich geworden, Lamprecht auch in seinen Kontexten und die Entstehungsgeschichte des Hauses mit den gegebenen Problemen mal nachzulesen, das gab’s so auch noch nicht.

W. J.: Man könnte es sogar noch ein bisschen zugespitzter formulieren. Ich finde, dass alle drei Bände, so unterschiedlich sie in ihrem Gegenstand und so nah sie einander doch auch sind, letztlich ein Bekenntnis zum Grundgedanken einer Kinemathek darstellen, zu dem, was die Kinemathek heute auch noch in einer Präambel sozusagen formuliert, und ich glaube schon, dass sowohl Eva Orbanz, Rolf Aurich als auch mich interessiert und auch angetrieben hat, noch mal zu fassen, was über diesen Gründungsdirektor Lamprecht und diese vielfältige Aktivität im Bereich Film an Grundvoraussetzungen einerseits für das Haus geschaffen worden ist und woraus sich eben auch Zukunftsfragen ableiten. Ich beharre schon sehr darauf, dass dieser Gedanke der Vermittlung von Filmgeschichte, und vornehmlich ist es nun mal deutsche Filmgeschichte, was natürlich mit den Sammlungsbeständen zu tun hat, dass das der Ausgangspunkt unseres Nachdenkens und unserer Arbeit in der Kinemathek ist. Dieser Beharrungsgedanke, den wir auch bei Lamprecht im Versammeln und Sammeln festgestellt haben, der spielt bei uns selber auch eine große Rolle. Nochmal sich auch rückzuversichern in einer Perspektive und auch in einer Bescheidenheit, die auf Reichtum gründet. Die Nachlässe und Sammlungsbestände dieses Hauses, die wesentlich zusammengetragen worden sind von Gero Gandert und Werner Sudendorf [Leiter der Sammlungen der Deutschen Kinemathek], das sind ja die bestimmenden Figuren, und davor Gerhard Lamprecht, sind so reich und so ungehoben, dass man eigentlich täglich ein neues Thema entwickeln könnte, das auf etwas gründet, das in diesem Haus vorhanden ist. Hier war jetzt eben auch so eine Konzentration auf Fragen der Rekonstruktion dessen, was die Lamprecht-Sammlung beinhaltet hat, also dessen, was als persönlicher Kern der Sammlung Lamprecht aufgehoben ist; alles an Filmprogrammen und sonstigen Dingen, ist ja nicht mehr als Sammlung Lamprecht aufgehoben, sondern ist der Grundstock der Deutschen Kinemathek, des Archivs. Wenn man das also nochmal in einer konzentrierten Form schriftlich darzustellen versucht, so dass man darauf fußend weiterdenken kann, dann kommt eben so eine Nebenfigur wie Andrés etwa ins Spiel, die in der Darstellung von Rolf Aurich so ein Profil entwickelt, und die auch eine Grenze für Lamprecht markiert, da, wo er denkt, das die Unseriosität in seinem Sinne beginnt. Darauf lässt er sich nicht ein. Wenn man die Figur Andrés dagegen in den Blick nimmt, dann ist in dieser Sammlerpersönlichkeit etwas angelegt, was heute eine ganz große Rolle spielt, nämlich eine Verbindung hin zur bildenden Kunst, denn Andrés schafft es sozusagen, in einer Spekulation, die letztendlich nicht aufgeht, aber es ist eine große Anstrengung, eine Verbindung zu ziehen von seiner Sammelleidenschaft hin zur Künstlervereinigung der Porzer, die in Berlin in den zwanziger Jahren eine große Rolle spielt. Das ist eine offene freie Künstlergemeinschaft, die eigene Ausstellungen hier in der Stadt gehabt hat, eine Galerie betrieb, auch den Versuch unternommen hat, selber Filme zu produzieren. Da stellt sich in den zwanziger Jahren plötzlich in einer völlig unbekannten Figur, die auch in einer Beziehung zu Lamprecht gestanden hat, etwas dar, was nach meinem Verständnis für die gegenwärtige Programmpolitik, die die Kolleginnen und Kollegen des »Instituts für Film und Videokunst«, sprich: »Arsenal« betreiben, heute eine ganz zentrale Ausgangslage bildet: Film und Kunst [Hervorzuheben ist in diesem Kontext das im Juni 2011 begonnene Projekt »Living Archive – Archivarbeit als künstlerische und kuratorische Praxis der Gegenwart«, welches das »Arsenal«-Filmarchiv, begleitet von öffentlichen Sichtungen, aufarbeitet und neue Zugänge zu der Filmsammlung herstellt]. Wo findet denn Film heute statt, jenseits vom Kino und jenseits vom Archiv – jetzt zunehmend in Museen, und das ist da schon angelegt. Diesen Weg geht Lamprecht aber eben auch nicht mit, das interessiert ihn überhaupt nicht, der ist ganz bei sich und, ganz puristisch, bei der Filmgeschichte, während der Andrés, nicht bewusst, aber intellektuell, so ein Tausendsassa ist …

R. A.: … ein bisschen ein Filou …

W. J.: … der spinnt diesen Faden dann auch, bricht dann auch ab, der Gedanke zerfasert sich, aber diese Parallelitäten, die man plötzlich entdeckt, und die man dann wenigstens andeuten kann, und so eben die »Mosaikarbeit« von Rolf Aurich auch weiterführen könnte – über andere Personen, auf andere Gebiete, andere Interessenlagen, über die Entwicklung von Filmgeschichte hinaus.

R. A.: An diesen beiden Figuren kann man ganz schön die beiden großen Strategien der Sammler erkennen, nämlich: Öffentlichkeit herzustellen oder Verschluss herzustellen, also nicht-öffentlich. Lamprecht ist eindeutig, er sammelt zwar, will dieses gesammelte Gut aber nicht öffentlich machen oder wenn, dann nur an hochseriöse Einzelforscher, die ihm wahrscheinlich eine Filmkopie als Geschenk mitbringen oder zum Tausch. Das ist der klassische Sammler, der stolz ist auf das, was er hat. Er tauscht auch, aber er plant frühestens Ende der fünfziger Jahre, dass es mal öffentlich wird, nämlich da, wo der Institutionengedanke eine Rolle zu spielen beginnt. Eduard Andrés ist ein Protagonist der Gegenseite, der macht Ausstellungen, der hält Vorträge, der geht sogar an die Kriegsfront in Norwegen und erzählt den Soldaten da etwas über Film und Filmgeschichte, also jemand, der ohne Öffentlichkeit gar nicht leben könnte, und genau so eine Figur ist zum Beispiel Walter Jerven. Die Besonderheit bei Jerven und weiteren ist ja, dass sie auch Filme sammeln, dass sie diese Filme sogar pflegen, restaurieren, ausbessern, dass sie versuchen, Filme aus der Frühzeit auf dreißig Jahre späteren Maschinen spielen zu können, dazu muss man das Material ja umarbeiten und die Apparate verändern, dass sie aber all dies nicht aus Selbstzweck betreiben, so wie der Sammler, sondern sie müssen davon leben. Sie sind praktisch Ein-Mann-Unternehmer. Fahren durchs ganze Land, durch Europa, machen Tourneen, werden hier und da mal eingeladen für eine Woche – das ist das komplette Gegenteil, und das Schöne ist aber: trotz dieser unterschiedlichen Ausrichtung haben Lamprecht und Jerven einen ganz intensiven Kontakt in den Dreißigern miteinander, und witzigerweise ist es Jerven, der in ganz Europa, speziell Südeuropa, Filme sucht und immer wieder Lamprecht per Brief danach fragt: Was könnte das für’n Film sein? Hier spielt Conrad Veidt mit, hier Lil Dagover – Harakiri [1919] zum Beispiel, aber den Titel nennt er gar nicht, sonst wäre er ja auf Fritz Lang gekommen. Er gibt dem Lamprecht immer Hinweise – ist das was, und was könnte das überhaupt für’n Film sein und von wann? Er fragt das natürlich, weil er weiß, Lamprecht hat Aufzeichnungen, nicht nur viel im Kopf abgespeichert, sondern er hat schon so etwas wie Vorarbeiten zu seinem Stummfilmlexikon [Gerhard Lamprecht: Deutsche Stummfilme. 10 Bände. Berlin/West: Deutsche Kinemathek 1967-1970. Mit ausführlichen filmographischen Daten zu einzelnen Filmen]. Er hat eine Kartei erarbeitet, wo er nachschlagen kann. Die Rollen waren auch klar verteilt, mitten im Krieg zum Teil, zwischen diesen beiden im Besonderen, das ist auch ein interessantes Verhältnis, öffentlich und nichtöffentlich, und trotzdem gibt’s einen intensiven Austausch zwischen ihnen.

Film ist die gemeinsame Bühne, das Medium, in dessen Diensten man zusammenkommt für Recherchezwecke, dem ordnet man sich unter, auch wenn es die größten Widersprüche zu überwinden gilt, die zwischen Charakteren herrschen könnten, gerade psychologischer Art. Leute mit unterschiedlichsten Ausgangspunkten konnten sich da, als leidenschaftliche Sammler, als Besessene offenbar verständigen. Das macht – so geht es aus dem Buch hervor – faszinierend den Blick auf dieses Netz und wie es immer größer wird. Einerseits kommt es einem, wenn man da an die achthundert Personen versammelt und miteinander verbunden sieht, enorm sachlich vor, andererseits ist da auch eine hochpsychologische Lektüre versteckt. Jede Person liefert eine Farbe, repräsentiert einen Ton, man erfährt etwas über ihre Herkunft, oft weil es ja die Geschichte von Lamprechts Sammlung ist, die Du erzählst, andererseits erfährt man an der Linie dieses Sammler gewissermaßen auch ‚das Ganze‘. So sieht man immer auch, wie andere zeitgenössische Filmbesessene auf Lamprecht reagieren, sich beziehen, und das ist ganz unterschiedlich, man kann daraus etwas ableiten, etwa wie Henri Langlois, wie Lotte Eisner sich zu ihm ins Benehmen setzen. Dieses zeitweilige deutsch-französische Archivprojekt, was in einigen Kapiteln der »Mosaikarbeit« virulent erscheint, ist tatsächlich spannend. Da zeigt sich der historische Konjunktiv, der ja in deinem Buch häufig eine wichtige Rolle spielt. Was wäre gewesen, wenn sich etwas zu einem bestimmten Zeitpunkt anders ergeben hätte – dieser Gedanke kommt alle paar Seiten auf. Und also auch der, dass Lamprechts Sammlung nach dem zweiten Weltkrieg auch in Paris hätte landen können …
R. A.:
Das wäre gar nicht so unwahrscheinlich gewesen, wenngleich es natürlich auch eine clevere Argumentation war, man könnte es auch so interpretieren, dass die Aktion der Cinémathèque Française erst dazu geführt hat, dass Lamprechts Archiv dann doch in Berlin blieb, weil die ja zum ersten Mal einen wirklichen Preis genannt hatten [»448.000 DM wollte Paris für die Sammlung im Herbst 1960 zahlen.« (R.A.: »Mosaikarbeit«, S. 105f.) Die von Henri Langlois, der Lamprecht als Leiter seiner technischen Museumsabteilung der Cinémathèque gewinnen wollte, in einem Brief genannte Kaufsumme bildete fortan den Maßstab], und hier in Berlin wusste kein Mensch: was ist das eigentlich wert?

Es liest sich so, als hätte das überhaupt erst ein Bewusstsein für den Wert geschaffen – und den Preis vielleicht noch hochgetrieben.
R. A.:
Das kann man so nicht sagen. Es wurde vorher kein Preis aufgerufen, da wurde immer vornehm geschwiegen. Zwar hat man jahrelang diskutiert, man müsste mal es übernehmen, in Landesobhut oder die Akademie der Künste eben, aber von Geld war noch nicht die Rede. Für Lamprecht war immer nur klar, er braucht natürlich ein Salär, und mindestens genauso wichtig für ihn: er braucht natürlich einen Etat, um das Material weiter zu pflegen, um es zu doubeln, um die Filme dann letztendlich doch öffentlich machen zu können, dass man mehr als ein Unikat hat, und für ihn war ebenso wichtig, dass er weitere Ankäufe tätigen kann. Das hatte er schon ganz klassisch perspektivisch kapiert, was es bedeutet, so ein Institut ins Leben zu rufen und es dann auch fit zu machen für Jahrzehnte. Aber der Kern liegt da tatsächlich in Paris, in einem Brief, in dem dieser Betrag genannt wird.

AUßENSEITER DER BRANCHE

Und nach Frankreich zu gehen, kam für Lamprecht offenbar nicht in Frage?
R. A.:
Nein, so wie man heute sagt: ‚nicht wirklich‘. Er hat es nicht übers Herz bringen können, er hat es wörtlich sogar als eine Form von Exil bezeichnet, gegenüber einem Wiener Brieffreund. Es kam für ihn nicht in Frage, da war er wiederum zu sehr Berliner, was man in den Filmen auch gut erkennen kann. Wenn man sieht, wie er sich eingerichtet hatte, in der Stubenrauchstraße 3 in Friedenau, mit seinen Freunden, von denen einige dann regelmäßig Dienstagmittag zum Suppeessen gekommen sind. Das hatte ja auch tatsächlich fast eine Form von Gemütlichkeit im Alltag. Das hatte seinen Ausgangspunkt in der Arbeit. Es gab einen Filmarchitekten, mit dem er oft zusammengearbeitet hat, dem es wohl finanziell nicht gut ging, und der ist dann einmal die Woche zu Lamprecht gekommen und hat sich da sattgegessen. (Das war für sie ganz in Ordnung). Lamprecht hat ja auch immer wieder notiert, wie viele Menschen aus seiner Generation, also Kolleginnen und Kollegen doch schon gestorben sind, im Lauf der fünfziger Jahre. Das ist immer ein bisschen mehr als nur eine Notiz, da steht dann tatsächlich nur ein Kreuz am Soundsovielten und der Name. Das sind alles Menschen, mit denen er viel zu tun hatte, sich ausgetauscht hatte, Interviews geführt hatte usw., die haben ihm schon was bedeutet. Es ist dann auch meistens der Tag der Beisetzung notiert, wenn‘s in Berlin war, da kommt viel zusammen.

In einem bestimmten Kapitel geht es um die Krise Lamprechts, die Mitte der fünfziger Jahre aufkommt, worauf würdest du die zurückführen? Der Gedanke an die eigene Sterblichkeit oder die Befürchtung, dass die Sammlung stirbt?
R. A.:
Das eher weniger. Er hat sich zwar an die Sammlerkollegin Lotte Eisner damit gewandt und ihr sein Herz ausgeschüttet, das wiederum hat aber mit einer starken Nähe der beiden zueinander zu tun, zu der Zeit 1953/54 waren die sich sehr einig. Mit Langlois ebenfalls, aber mit Eisner aufgrund der gemeinsamen deutschen Sprache dann noch mehr, glaube ich, und ihr gegenüber hat er sich als jemand, der in einer Krise sich befindet, geöffnet, weil er der Meinung war: Ich kann in diesem Land, in Westdeutschland, keine Filme mehr machen. Ich habe einen gewissen Anspruch, wie immer wir den heute sehen, und die Filmindustrie in Westdeutschland – sofern man davon noch reden kann, die war ja eher von den Verleihern diktiert – hat ganz andere Ansprüche. Die wollen Stoffe, wie sie mir vorschweben, überhaupt nicht mehr verfilmen und wahrscheinlich auch nicht mehr so viel Wert legen auf seriöses, solides Arbeiten. Also ob das jetzt handwerklich in Ordnung ist, ist denen vielleicht egal – das schwingt da alles mit, er hat sozusagen seine Regiekarriere am Ende gesehen. Das meine ich mit Krise. Er hat dann ja auch nur noch zwei lange Filme gemacht und einen kurzen, es hat auch nicht geholfen, dass der Film Meines Vaters Pferde (1953/54) gerade im Kino sehr erfolgreich gelaufen ist. Das war gar nicht der Punkt, er hat es wohl viel grundsätzlicher gesehen, nämlich dass da zwei Partner nicht mehr zusammenpassen, die Wirtschaft, die Branche und er. Er hat sich da offenbar auch als Außenseiter begriffen.

Das muss sich in sehr kurzer Zeit entschieden haben, dass der Wind sich gedreht hatte.
R. A.:
Das war die Zeit nach der DEFA.

Und so etwas wie der Industriefilm, da hatte er doch mal angefangen, sachbezogenen Filme zu machen?
W. J.:
Nicht Industriefilme, aber es gibt rein dokumentarische Arbeiten schon in den zwanziger Jahren, die würden wir vielleicht heute als Reisefilme bezeichnen – er fährt nach Italien, nach Sizilien, und hat eine Kamera dabei und Filmrollen. Das hat ihm alles die National-Film vorfinanziert, und er hält seine Reiseeindrücke fest, so muss man es sagen. Diese Filme sind dann tatsächlich alle, auch wenn wir es nicht nachweisen können in allen Fällen, im Kino als Vorfilme gelaufen [Taormina auf Sizilien und Am Fuße des Aetna, beide 1927], ein »Harz-Film« [Erstarrte Märchenwelt, 1928] hat auch von Hans Feld im »Film-Kurier« eine kleine pointierte Würdigung erfahren, aber auch die »Sizilienfilme« sind als Vorfilme vor anderen Filmen als Kulturfilmbeitrag, wie es halt so gewesen ist bis in die fünfziger, sechziger Jahre hinein, gelaufen und ausgewertet worden, und dann gibt es – da ist Lamprecht als Person, sowohl als Regisseur wie als Autor ungenannt, nicht vorhanden – so kleine Auftragsarbeiten, die in den fünfziger Jahren aus der Industrie kommen, aus der chemischen Industrie, aus der Brauindustrie [In kupfernen Pfannen gebraut (1951) und Farbenfrohes Handwerk (1952), Dokumentar- bzw. Werbefilme mit Spielfilmszenen, letzterer für die Henkel-Klebstoffwerke], wo er im Hintergrund wohl mitwirkt, aber nicht seinen Namen gibt. Und schließlich dreht er noch, das ist ja sein letzter Filme, eine Art Omnibus-Film, muss man vielleicht sagen, es sind kurze Kompilationen von spielfilmartig aufbereiteten Szenen, die in der Industrie spielen. »Was bedeutet der Betriebsfrieden?« und »Wie erreicht man den Betriebsfrieden?« bilden da eigentlich die zentralen Fragestellungen, die problematisiert werden anhand von einzelnen Personen, die auch einen sehr unterschiedlichen, der Nachkriegsgeschichte geschuldeten biographischen Hintergrund haben: also der Flüchtling, der Karriere macht und missgünstig beäugt wird; das Trinken, der Alkohol am Arbeitsplatz spielt eine Rolle; die Herausbildung sozusagen des Managertypus, also jemand, der ein Workoholic ist – ist das noch ein guter Vorgesetzter, oder ist der nur noch für sich da? – das sind so kleine Fragestellungen, die er in Spielszenen behandelt und zu einem Film verbunden hat: Menschen im Werk [1957]. Dahinter verbirgt sich noch mal das soziale Interesse, das sich eben schon in den zwanziger Jahren in einigen seiner Filme deutlich zeigt, was auch in den Filmen der dreißiger/vierziger Jahre, noch ganz anders formuliert, eine Rolle spielt, und dann zum Beispiel in dem Film Madonna in Ketten [1949], nach dem Krieg, über Frauen in einer Haftanstalt, von zentraler Bedeutung ist. Dieser soziale Gedanke, der ihn in vielen seiner Geschichten an- und umtreibt, ist etwas, das man biographisch verorten kann. Sein Vater war Gefängnisgeistlicher. Er hat zur Erbauung und Unterhaltung der Inhaftierten, die er zu betreuen hatte, zum Beispiel in der Strafanstalt in Berlin-Tegel, Filme gezeigt, da ist die Urmasse, aus der sich das Interesse von Lamprecht filtern lässt, er hat diesen Gefängnisalltag, weil er wohl von seinem Vater mitgenommen wurde zeitweise, mit eigenen Augen als Junge gesehen. Gleichermaßen wie die Mutter die Küche in der Schönhauser Allee, wo die Familie eine Weile lebte, manchmal ärmeren Nachbarskindern öffnete, die eben nicht die Betreuung hatten, die die Lamprechts ihren beiden Söhnen angedeihen ließen, und die durften dann eben mitessen – tätige Hilfe sozusagen. Das hat ihm das Elternhaus wohl sehr früh vermittelt, diese soziale Not, die andere Menschen im Gegensatz zum seinem Wohlsein und seinem Etabliertsein genossen, hat ihn beschäftigt. Ich hab mal eine Zuspitzung an einer Stelle meines Buches versucht, wo ich sage: manche Filme sind im Grunde genommen wie ein Hirtenbrief [Die sozialdemokratische Tageszeitung »Vorwärts« schrieb Lamprechts Film Die Verrufenen (1925) nach der Uraufführung die »Bedeutung eines Evangeliums« zu]. Die schaffen eine Situation zusammen, problematisieren diese auch, aber sie formulieren keine Lösung.

Also eine politische Perspektive gab es bei ihm nie?
R. A.:
Deswegen gibt es ja auch die harsche Kritik der kommunistischen Presse an den Zille-Filmen, das ging nicht weit genug, sondern erschöpfte sich im Zeigen dessen, was ist.

So etwa ein Gegenentwurf zur proletarischen »Prometheus«-Produktion.
R. A.:
Ohne so ausgewiesen zu sein, aus heutiger Sicht aber schon.

EINE VERGEWISSERUNG VON GEGENWART

Aufschlussreich fand ich folgenden Satz in dem Buch über Lamprechts Filme: Er habe keine Haltung zu den Dingen, ehe er sie nicht gefilmt hat. Da ließe sich fast an Godard denken, der so etwas auch unterschreiben könnte. Filme als Bewusstwerdung, als Operation, nach der man weitergekommen ist durch Fragen der Inszenierung und Darstellung, wodurch man etwas begriffen hat. Eine künstlerische Wahl, ein intellektueller Vorgang, den man erstmal schwer mit einem Regisseur wie Lamprecht in Verbindung bringen kann – eine wirklichkeitsorientierte Erzählung des Alltags auf Augenhöhe der Dinge, und sich vorzustellen, wie die sich ausprägt in einer Deutlichkeit und Langsamkeit, dass über’s Objektiv überhaupt erst eine Haltung in die Welt kommt.
W. J.:
Die Fixierung des Augenblicks als eine Vergewisserung von Gegenwart, so könnte man das auch noch umschreiben. Und dieses filmische inszenierte Bild wird dann eben als ein Erkenntnismoment von ihm weitergereicht. Es ist ja die Differenz zu jenen Kritikern, die Rolf eben benannt hat, der sozialistischen oder kommunistischen Presse, die eben die Abstraktion darauf – Geht auf die Straße, wehrt euch! – nicht nachvollzieht, da wird ein sozialer Missstand ausgebreitet, er wird filmisch festgehalten, er ist aufgeladen durch die Inszenierung, es ist ja nicht pure Dokumentation, und welcher Schluss daraus zu ziehen ist, das ist dann die bei den Zuschauern verbliebene individuelle Leistung – entweder ich gehe raus und sage »Oh Gott, oh Gott«, oder ich vergesse es sofort oder ich fühle mich unter Umständen aufgefordert, wenigstens etwas in die Sammelbüchse des Bettlers vor dem Kinoportal zu werfen oder mache einen weitergehenden Schritt, alles das ist möglich – von der Missachtung oder sich bloß Unterhalten-gefühlt-Sein bis dahin, für sich eine soziale Leistung, die man sich abfordert, ableiten zu wollen. Es geht aber nie ins Plakative. Es ist das, was er im Nachhinein, wie ich finde, interessanterweise als ein Versäumnisse nicht begriffen, aber wenigstens beschrieben oder in Erwägung gezogen hat, natürlich im Wissen um die Zeit 1933 bis 45.

R. A.: Nicht nur möglicherweise mit dem Wissen um die Diktatur, er sagt das ja gegenüber dem damals noch sehr jungen Kollegen Gero Gandert, der ja die nächste Generation repräsentierte derer, die – sagen wir mal plakativ – Öffentlichkeit auf ihre Fahnen geschrieben hatten, zusammen mit Ulrich Gregor – die beiden kann man so im Duett betrachten [beide sind 1963 Gründungsmitglieder der Deutschen Kinemathek in Berlin; Gregor leitete das 1970 von den Freunden der Deutschen Kinemathek eröffnete Kino »Arsenal«] –, und mit dieser Generation, die ganz nah an Lamprecht dran war, hatte wiederum Lamprecht auch große Probleme. Da ist dieser Generationenbruch nämlich richtig fassbar. Wenn man in Lamprechts Notizbuch schaut, dann steht da mehr als einmal: mit Gandert komme ich nicht zurecht, was wollen diese jungen Leute? Das spielt dann auch noch eine Rolle. Vielleicht wird ihm bei so einem Gespräch um 1966 mit so einem Protagonisten einer eher aus linkem Überschwang daherkommenden Generation auch noch mal klarer, das man eigentlich, vierzig, fünfzig Jahre zuvor, etwas versäumt hat.

Auch eine Frage des Charakters: Habe ich eine Haltung gehabt, wie hat die sich gezeigt, oder auch: wie konnte ich keine haben? Nun gibt es, das ist bei euch vermerkt, zwischen 1933 und 1945 keinerlei Aufzeichnungen …
R. A.:
… Zumindest keinerlei überlieferte.

Aber die ‚Kurzprosa‘ Lamprechts in der Nachkriegszeit war ja wohl interessant zu lesen, die Qualifizierung von Kinobesuchen – das fand alles erst nach 1945 statt.
W. J.:
Selbst in der Rekonstruktion seiner biographischen Vergangenheit gibt es diese Jahre 1933 bis 1945 nicht. Es finden sich so ein paar Aufzeichnungen, das deutet darauf hin, dass er wohl mal an eine Autobiographie gedacht hat, oder diese autobiographischen Notizen nutzen wollte für eine Geschichte des Films in Deutschland möglicherweise. Die hätte er sicher nicht schreiben können, dafür wäre er nicht die Person gewesen, aber es gibt ein paar Blätter, wo er Dinge notiert, wie es um 1910 im Kino war, oder wie er zu diesem und jenem Film gekommen ist, welchen Film er gesehen hat… Das ist aber alles am Anfang sozusagen seiner Geschichte, es gibt weniges, was sich bezieht auf die zwanziger Jahre, aber selbst in dieser nachträglichen Absicht, Dinge aufzuzeichnen, sind die Jahre 1933-45 einfach ein weißer Fleck. Den Versuch hat er auch in der Rekonstruktion nicht übernommen, vielleicht hat er ihn zeitgenössisch betrieben und hat’s vernichtet, vielleicht ist’s verloren gegangen. Ich vermute eher, dass er in der Zeit 1933-45 kein Tagebuch geführt hat.

R. A.: Ich vermute das auch. Wir haben ja eine ganze Menge Korrespondenz aus der Zeit – mit Sammlern, Schauspielern, Schauspielerinnen, das schon, aber darin findest du keine politischen Aussagen, soweit ich sehe, das wäre möglicherweise schon wieder gefährlich gewesen. Aber auch nach dem Krieg habe ich so etwas nicht gefunden; eine einzige Stelle, aber das ist so generell gesagt, habe ich noch in Erinnerung, dass er von dem »schlimmen Krieg« spricht, gegenüber irgendeinem Sammlerkollegen. Das war‘s dann auch. Ich glaube, er hat auch angefangen nach dem Krieg, wie es ja in Irgendwo in Berlin [1946] so deutlich wird, wieder nach vorn zu gucken. Er ist ja kein Historiker, sondern nur jemand, der die Vergangenheit erst einmal aufbewahrt, und vielleicht hat er sogar eher ein nostalgisches Verhältnis zu dem Material: Filme, Plakate usw., aber dass man sich erinnert an etwas, was man schon erlebt hat, um etwas besser zu machen nach fünfundvierzig, so hat er nicht gedacht, es war eher ein allgemeines Nach-vorn-Gucken. »Es muss ja weitergehen«, so eine Formulierung fällt dann auch, und er war ja politisch-ideologisch nicht geprägt, es war ja eigentlich unvorstellbar, dass er nun zu den Kommunisten überliefe, oder zu einer anderen Strömung sich bekennen würde, all das ist ja bei diesem Mann nicht der Fall.

Ungeprägt und unprägbar – das scheint eine Eigenschaft, die ihn die Jahrzehnte durch alle Systeme hindurchgeleitet hat wie an einer Schnur, die scheinen an ihm abzuperlen, er nimmt keinen Schaden.
R. A.:
Vielleicht können wir seine Filme aber genau deshalb, weil sich das bis ins Zelluloid sozusagen einfrisst, eben heute so gut als Dokumente sehen. Wären sie ideologischere Filme, wäre das für uns heute vielleicht gar nicht so interessant, oder nur politikgeschichtlich von Interesse, aber nicht alltagsgeschichtlich. Diese vielen Alltagsbilder, die er über die Jahrzehnte liefert, vielleicht erfordern die geradezu so eine Rücknahme.

Und dann kommt das ins Spiel, was du eben gesagt hast: Lamprecht habe diese Filmeinstellungen einfach als Festhaltenwollen, als Bild der jeweiligen Gegenwart im Bewusstsein ihrer Zeitgemäßheit konservieren wollen, und da kann man sagen, er ist vielleicht vor diesem Hintergrund ganz an den Wurzeln, am Anfang der Filmgeschichte, da scheint er wirklich bei den Lumières und bei dieser ursprünglichen emphatischen Idee, ein Archiv der Welt herzurichten aus lebenden Bildern erstmalig ab 1895 – hier ist dann auch der Regisseur Lamprecht zugleich als Archivar und Sammler präsent.
W. J.:
Ja. Da kommt das dann alles zusammen. Dieses Filmbild als ein Eindruck in die Geschichte – und das macht es für uns so interessant, weil es nicht farbig ausgetuscht ist, braun oder rot. Das ist, in dieser Grundbedeutung des Wortes: ein »Eindruck«.

EIN ZIVILIST UNTER PARTEIMENSCHEN

R. A.: Hast du das vorhin gesagt: der Fluss der Bilder, in den er manchmal so eine Art Pflock einschlägt? Er selber ist auch immer im Fluss mitgeschwommen. Ich hab noch immer die Dokumente zur Uraufführung des Films Diesel [1942] in Erinnerung, die 1942 in Augsburg stattgefunden hat. Er ist auch größtenteils in Augsburg gedreht, in den Fabrikhallen von MAN [Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg], weil Diesel da ja gewirkt hat, und der Film ist uraufgeführt worden unter Begleitung großer NSDAP-Präsenz, der Gauleiter war da und der Bürgermeister von Augsburg, ein NS-Mann usw. Da gibt es ein Foto, wo die alle, fünf, sechs Leute, nebeneinander stehen, und Lamprecht, fröhlich lachend, mitten unter diesen Männern. Ich will das gar nicht überinterpretieren, aber eigentlich gibt’s für den auch gar keinen Grund, anders als so freundlich wie immer zu schauen. Also ich glaube, der hat sich wirklich nichts dabei gedacht. Ob das jetzt jemand mit so einer blöden Hakenkreuzbinde war oder wer anders – das war ihm nicht wichtig.

W. J.: Auf diesem Bild ist er einfach ein Zivilist unter Parteimenschen. Der steht da mit seinem grauen Anzug mit der Krawatte, wie es sich gehört, ganz bürgerlich, lacht und freut sich, dass sein Film zur Aufführung kommt. Und diese Herren in Uniform, oder sie haben zumindest die Hakenkreuz-Armbinde, die sind wie aus einer anderen Welt. Der Zivilist dominiert das Bild.

R. A.: Und das hätte zu jeder anderen Zeit mit entsprechender personeller Begleitung auch so sein können.

Interessant, dass man es heute so sehen kann, dass der Zivilist als eine zeitlich weniger festgelegte Figur, allerhöchstens durch den Anzugschnitt, innerhalb dieses sichtbaren Zwölf-Jahres-Kapitels der deutschen Geschichte heute etwas Dominantes ausstrahlt in der Abbildung, im Gegensatz zu den Nazi-Schranzen.
W. J.:
Es ist auffällig, auch durch die sehr legere Körperhaltung, mit der er da steht, nicht posierend für die Kamera, keine Macht, die sich aus der Statur ableiten lassen muss, kein fixierter Blick, sondern ganz locker, ein mittelalter Mann im Kinofoyer.

R. A.: Es war ja auch eine NSDAP-Inszenierung, diese Filmaufführung. Es gibt ein anderes Foto, von der Kinofront. Da steht dann „Diesel“ als Plakat, aber es hängen eben eine ganze Menge Hakenkreuzfahnen vor dem Gebäude, speziell für die Uraufführung angebracht. Das Umfeld war komplett NSDAP-geprägt, und deswegen fällt er auf – auch in unserer erinnernden Wahrnehmung ist es ja eine Zeit, die nicht zivilistisch war.

W. J.: Im Film ist er es ja auch nicht, mindestens in seinem Vorspann nicht. Da ist es ein klassischer Propagandafilm. Aber was Lamprecht dann im Wesentlichen an diesem Film interessiert, ist die Zivilität dieses Erfinders. Dass der dann eine heroische Figur ist, der von den Nazis vereinnahmt werden soll und mit seiner Erfindung die Kriegsmaschinerie mit antreibt, alles das ist in dem Film zwar vorhanden in vorgesetzten Bildern, in einer Montage von Wochenschauaufnahmen und findet sich auch sonst abgelagert im Film, aber eigentlich geht es um jemanden, der eine Erfindung macht gegen alle Widerstände, scheitert, weiter an seiner Maschine herumbröselt, nochmals scheitert… also ein Zivilist, der sich durchsetzt in einer feindlichen Umwelt. Und so wie Diesel steht auch Gerhard Lamprecht, Diesels Regisseur, bei der Premiere im Kinofoyer in Augsburg rum.

R. A.: Das ist einer der Fälle, wo wir nicht genau wissen, wie stark die Anteile Lamprechts am Drehbuch von Frank Thiess gewesen sind. Er wird als Drehbuch-Koautor nicht genannt. Der Sohn von Diesel hat als Berater mitgewirkt, aber wir wissen aus einem etwa zehnseitigen Manuskript von Thiess, das hier in der Sammlung Lamprecht überlebt hat, wie stark sich Lamprecht in die Drehbuchbesprechungen eingemischt hat. Aber wir können aus diesem Text nicht rekonstruieren, auf welche Szenen sich das jetzt bezieht.

Der Film Diesel ist jetzt noch ein klarer Beitrag zur Kriegswirtschaft und zum NS-Film?
W. J.:
Schaut man sich die Tagebucheinträge von Goebbels an, der auf diesen Film verhältnismäßig ausführlich eingeht, dann sind diese Heroengestalten – der Film ist Ende 1942 herausgekommen – zu der Zeit gar nicht mehr erwünscht. Diese Phase des ideologisch gewollten Erzählens ist eigentlich für Goebbels abgeschlossen, das ist wie so ein Nachklapp, da ist Lamprecht sozusagen schon wieder aus der Zeit gefallen. Filmpolitisch ist inzwischen etwas anderes gewollt vom Propagandaministerium. Das erfüllt Lamprecht mit diesem Film dann nicht, aber es ist ein Film, der in vielen seiner Bilder schon auch als ein Propagandafilm für den Krieg zu lesen ist.

VISIONEN EINES ÜBERLÄUFERS

Ein anderes Filmbeispiel ist Die Brüder Noltenius [1945], mir bislang völlig unbekannt, er ist bei dir das Beispiel für einen »Film des Übergangs«. Da könnte man ja auch denken: So spät im Krieg hat jemand schon das Sensorium für die nächste Zukunft.
W. J.:
Das ist ein Film, der uns sehr beschäftigt hat in Gesprächen, weil er so viele Interpretationsmöglichkeiten offen lässt. Das ist ein Film, der eigentlich nicht zu Ende erzählt worden ist in seiner Geschichte: Die Hauptfigur ist ein Architekt, der von Willy Birgel gespielt wird, der aus Brasilien nach Deutschland zurückkommt, und es gibt eine ganz kurze Dialogsequenz, die deutlich werden lässt, dass Krieg ist, aber Bilder des zerstörten Berlin sind gar nicht zu sehen, und diese Figur verlässt Berlin dann auch und geht eher in eine Provinz, wo sein Bruder, der auch Architekt ist, einen neuen Stadtteil entwerfen soll. Das kann man einerseits natürlich interpretieren gemäss den Vorgaben nationalsozialistischer Ideologie, man kann aber auch diesen Streit zwischen den Brüdern und ihren Visionen interpretieren, als wenn es ein Vorgriff auf die Zeit ist, wenn der Krieg beendet sein wird. Der Film ist ja ein »Überläufer«, er ist erst nach dem Krieg aufgeführt worden. Man kann das als Indifferenz beschreiben einerseits, man kann das aber auch als das Vordenken von Möglichkeiten für eine Zukunft verstehen, fußend auf einer noch gegenwärtigen Erfahrung, nämlich noch größter Zerstörung in Deutschland, die aber nicht ins Bild kommt. Aber diese Zerstörung ist latent anwesend, sie ist in den Köpfen vorhanden, sie formuliert sich in kleinen Dialogsätzen, wo völlig klar ist, dass diese Leute längst in einem Nirgendwo sich befinden, und dann gibt es diese Vision sozusagen einer Neuen Stadt, und dieser Rückkehrer, der nicht dazugehört, aber seine Vision hinterlässt, um dann wieder zu verschwinden ins Ausland, hat einen solchen gigantischen Stadtentwurf schon in Brasilien, so ist der Verweis, vorgelegt. In einem Architekturwettbewerb konkurrieren nun die Brüder anonymisiert mit ihren Visionen, und der Zuschlag geht eben an den Exilanten. Also ganz widerspenstig zueinander sind diese Erzählfäden, das macht den Film zu einer aufregenden Geschichte, weil sie eben eine Möglichkeit in sich birgt, die 1944 eigentlich noch gar nicht gedacht sein dürfte. Die auf etwas vorausweist, auf eine Problematik, die 1945, wo es dann um Wiederaufbau geht, ja ganz vital ist. Aber in der Zeit der Entstehung des Films geht’s ja noch nicht um Wiederaufbau, da geht es um Verteidigung, darum, an etwas festzuhalten, das sich längst als nicht behaltenswert gezeugt hat in seinem zerstörerischen Kern.

R. A.: Da ist Lamprecht möglicherweise auch schon weiter, vielleicht ist das schon die Vorwegnahme von Irgendwo in Berlin [1946]. Es kommt ja noch etwas von der Figurenkonstellation hinzu bei diesem Film: der Architekt kehrt zurück, geht aber wieder. Das ist ja völlig ungewöhnlich in einem Film von 1944 – da kommt doch sonst niemand aus dem Ausland nach Deutschland, und wenn, dann bleibt er auch. Die Hauptfigur ist wie eine letzte Warnung, eine Mahnung nochmals, ich komm von irgendwo her und sage euch: passt auf, was geschieht, hier ist irgendwas nicht gut. Und dann geh ich wieder. Den habe ich als ganz abstrakte Figur gesehen, der hat zwar die Konkurrenz zum Bruder, das ist praktisch der Kern des Erzählens, aber eigentlich ist er für mich wie eine moralische Gestalt, die ein Stoppschild hochhält.

W. J.: Man kann die Spekulation auch begründet noch weiter führen. Wenn man’s auf die Nachkriegszeit bezieht, dann ist eben dieser, der da kommt und wieder geht, vielleicht sozusagen ein Vertreter der Alliierten. Ein Vertreter jener, die an einem restaurierten, dann demokratischen Deutschland interessiert sind. Der hinterlässt ja etwas, was von einer Mehrheit des Stadtrates ja auch als tauglich empfunden wird. Das lässt dieser Film alles zu, weil er eben auch an so einer Zeitenwende steht, 1944/45 – allen ist klar: dieser Krieg ist verloren, dieses Land ist zerstört, dieses Land braucht einen in jedweder Hinsicht neuen Aufbau, moralisch, intellektuell, geistig, aber eben auch materiell. Alles das kommt da auf eine sehr ungewöhnlich Art und Weise, die eben zum Spekulieren, vom Vordenken möglicherweise auch anregt, zusammen.

R. A.: Also: Alliierter kommt nach Deutschland und bietet den Friedensschluss an – das ist es eigentlich. Zerstörung beenden, um mit dem geplanten Wiederaufbau, vom Stadtrat sanktioniert, zu beginnen – so könnte man es vielleicht verstehen, sehr zugespitzt zwar und Lamprecht könnte es vielleicht gar nicht verstehen, aber das lässt der Film zu.

Konnte man zu der Zeit überhaupt eine Vorstellung von einem Alliierten-Plan und seiner Verkörperung haben? Wahrscheinlich schwierig. Da ich den Film nicht kenne, kommt mir die Erzählung so vor, als sei es eine irreale Kreuzungsfigur, in der unterschiedliche Zeit-Projektionen zusammenkommen, die man aus diesem niedrigen Horizont 1945 auch nur haben konnte: Es ist eine Retterfigur, es ist ein Deutscher von reinem Geblüt sozusagen, das heißt, die Rettung kommt vom Eigenen von außen, da scheint ein Paradoxon im Spiel. Es kann wohl kaum heißen, dass man die Exilanten zurückholen soll?
W. J.:
Wenn man ihn als nationalsozialistisch geprägten Film nur wahrnimmt, dann ist diese Birgel-Figur möglicherweise auch so etwas wie ein Deus ex machina des Nationalsozialismus – auch so könnte man ihn verstehen. So ist er vermutlich auch durch die Zensur gegangen.

Die Verkörperung der Wunderwaffe …
W. J.:
Aber mit einem retrospektiven Blick, der uns ja eigen ist – ich kann ja nicht so tun, als sei das jetzt 1944/45 – lässt das eben auch eine andere Möglichkeit zu, und es ist diese Offenheit der Filme, die wir so hochinteressant und spannend finden bei Lamprecht. Die sind nicht uneindeutig, aber wenn man das so bezeichnen will, dann ist das ihre Qualität.

Dass sie eigentlich nichts ‚wollen‘. Dass da keine vorgewusste Intentionalität ansetzt mit dem ersten Bild. Das macht vielleicht die Qualität des Regisseurs als Sammler und Archivar aus. Insofern hat es etwas für sich, dass er ein unbewusstes Verhältnis dazu hatte, sich nah an den Quellen aufzuhalten und möglichst wenig eingreifen zu wollen, die Hauptsache war das Behalten und Konservieren – auch wenn das so etwas betrifft wie diese eigenartige Phantasie aus Die Brüder Noltenius, vorm Phantasiehorizont einer bestimmten Zeit.

Was sich mir auch noch eingeprägt hat aus den beschriebenen Filmerzählungen war diese außerordentlich plastische Gegenüberstellung von Potsdam, der stillen Garnisonsstadt, und der modernen Metropole Berlin in dem Film Clarissa [1941] mit Sybille Schmitz, diese Vorstellung davon, wie jemand aristokratisch erscheint, diese distinguierte Person in diesem Volksgemeinschaftszusammenhang, sie hat einen Reiz, dazu müssen sich alle verhalten, die ganze Betriebsgemeinschaft spürt, dass da jemand buchstäblich apart ist, also abseits steht und dabei etwas Besonderes darstellt.
W. J.:
Da ist noch mal etwas ganz Gegensätzliches inszeniert, das ein ganz großartiges Füllmaterial bekommt durch die vielen Nebenfiguren, die sich in Berlin und in Potsdam zu den Hauptfiguren positionieren: die tüddelige Verwandtschaft in Potsdam, die mit ganz anderen Ritualen lebt und in diesen verharrt, als sie in Berlin überhaupt noch möglich wären. Die sachliche Modernität, die in Berlin durch Gustav Fröhlich eingefordert wird, ist da in Potsdam weit weg – das ist eine Welt der Kaffeewärmer, in Berlin dagegen regiert die Kaffeemaschine. Und auch da gibt es eine große Szene um einen sogenannten »Kameradschaftsabend«, der in einer Bank organisiert wird, das ist wieder so eine Momentaufnahme, die in einem Spielfilm von Lamprecht Alltag, in diesem Fall nationalsozialistischen Alltag zeigt. Diese Kantinenebene ist eben mit Hakenkreuzfahnen auf besondere Art und Weise ausstaffiert, und wie man sich dort zueinander verhält in der Ansprache, sozusagen in einer formalisierten Gleichmacherei unter »Volksgenossen«, das ist im Dialog ganz wunderbar ausgebreitet. Genau diese Szene, die so einen Punkt markiert und festmacht, dass dies eben kein Film ist, der von irgendeinem Klassengegensatz erzählt, sondern ganz genuin mit dem Zeitpunkt seines Entstehens zu tun hat – genau diese Szene ist bei einer Fernsehausstrahlung gekürzt worden. Die ist weg. Das kann man natürlich nicht zeigen im Fernsehen. Das ist in der Anmoderation, die wir dazu gesehen haben, auch völlig ausgeklammert. Da erkennt man, wie man durch den Eingriff in den Film bei nur einer Szene den Charakter des gesamten Films ändern kann und auch den Charakter des Erzählens, der Lamprecht umtreibt. Ein Nebenaspekt: Wir haben die Filmfassung und die TV-Fassung gesehen – da fällt auf, was nicht da ist.

R. A.: Das Fernsehen hat ja viele Leute beschäftigt, die solche Sachen, solche Szenen und Embleme rausgenommen haben.

»Stillschweigend«, wie man Schreibfehler korrigiert.

 

LAMPRECHTS ERBE UND DER GEIST DES FILMARCHIVS – BESCHEIDENHEIT, DIE AUF EINEM REICHTUM DER SAMMLUNG GRÜNDET

Welchen »Geist« hat Gerhard Lamprecht einer heutigen Kinemathek hinterlassen?
R. A.:
Das war ja die Frage am Ende des Buches »Mosaikarbeit«, ob er dem heutigen Archiv etwas hinterlassen hat? Ja, uns. (Gelächter.) Darüber hinaus sieht’s wohl schlecht aus. Wir haben ihn nicht erlebt, aber sicherlich ist auch von ihm und seiner Vorstellungskraft und seinem Willen, der Vergangenheit was zu entreißen, noch etwas vorhanden. Aber eigentlich ändert sich dieses Haus auch mit dem Umfeld so sehr, dass es schon wieder auffällt, dass da in Partikeln Lamprecht enthalten ist, speziell in den Sammlungen. Stell dir vor, Lamprecht würde jetzt hier stehen, der würde es wahrscheinlich gar nicht mehr begreifen, was aus seiner Gründung mal geworden ist, was hier an Veranstaltungen gemacht wird. Ich glaube, er würde eine Art ursprünglichen Umgang vermissen mit all dem Material. Der wird ja tatsächlich ein bisschen an den Rand gedrückt inzwischen. Dieser Eventcharakter, den das Ganze ja auch haben kann, wird, nicht nur bei uns, auch in anderen Häusern immer wichtiger. Andererseits – den gäbe es ja nicht ohne seine Sammlungen.

Der Kern für eine Entwicklung, die sich gegen den eigentlichen Konservierungsgedanken gewandt hat.
R. A.:
Wenn du das Stichwort »Digitalisierung« nimmst, darfst du aber trotzdem nicht vergessen, dass es diese Bestrebungen ja nicht geben könnte, wenn nicht erstmal das originale Material zuvor da gewesen wäre – das vergessen diese ganzen Ideologen ja auch leider, sie schöpfen ja nur das ab, was die Geschichte hervorgebracht hat.

W. J.: Und die Digitalisierung ist ja sozusagen die Reproduktion vom Original. Wenn du es digitalisierst, ist das Material ja nicht gerettet, sondern es ist nur dupliziert in einer anderen Form. Es bleibt die Vergänglichkeit eines Papiers, das auf eine besondere Weise, klimatisch, in speziellen Kartons usw. aufbewahrt werden muss, damit es soundsoviele Jahrzehnte möglichst überdauert, die ist zum Teil gar nicht mehr herzustellen. Die finanziellen Mittel dafür gibt es weniger, weil investiert wird in die Reproduktion und zugleich behauptet wird, mit der Reproduktion sei das Original gerettet, das stimmt aus meiner Sicht so nicht. Da gehen die Wege auseinander, die eigentlich parallel zu denken wären, aber dafür gibt es ja auch die finanzielle Ausstattung nicht. Ich hab vorhin gesagt, dass uns drei immer sehr beschäftigt hat die Bescheidenheit, die auf einem Reichtum der Sammlung gründet, es geht auch um eine Bescheidung – worauf konzentrieren wir uns und welche Formen der Darstellung nehmen wir uns vor – die haben ja auch mit den Traditionen des Hauses zu tun. Das Büchermachen war von Anfang an ein Grundgedanke, der in diesem Haus gepflegt worden ist, und es war immer ein Wunsch, das Erzählen via Bücher als eine Form der Darstellung zu betreiben. Später ist das Ausstellen dazu gekommen. Ich denke, man muss das zusammen im Blick haben und darf auch nicht unter dem Vorzeichen finanzieller Not das eine gegen das andere ausspielen; es sind zwei verschiedene Vermittlungsformen, und das Buch erweist sich trotz Fortschritt und Digitalisierungswahn als außerordentlich resistent und permanent und kontinuierlich. Das Vertrauen ins Buch kann man als ein Grundvertrauen des Bewahrens von Geschichte verstehen.

DIGITALISIERUNG VON INHALTEN ODER AUFTRITT EINES BUCHES

R. A.: Ich stelle mir gerade vor, wenn diese drei Lamprecht-Bände als e-book erscheinen sollten, was wahrscheinlich nie der Fall sein wird, dann geht doch etwas Wesentliches verloren, nämlich der Einband, die ganze Gestaltung. Mit der Idee, wir transportieren die Inhalte über Kindl und Tolino: Da fällt ja etwas völlig weg, und damit ja auch dessen Wertschätzung. Kein Mensch fragt irgendwann mehr danach, außer in Ausnahmefällen.

W. J.: Da muss man fast als post scriptum sagen, dass die Gestaltung dieser Bände uns ja auch sehr beschäftigt hat. Wir haben das ja mit zwei Graphikerinnen eines Berliner Büros mit dem schönen Namen »Otto Sauhaus«, Veronika de Haas und Sarah Lamparter, zusammen gemacht, und es hat viele Gespräche gegeben und Überlegungen, wie denn diese Bücher ihren Auftritt haben sollen, in welchem Kostüm, mit welchem Papier, wie soll der Umschlag sein –  es war immer wichtig, dass diese Bücher immer ein wenig den Charakter des Archivs bergen, etwas Rohes, diese Kartonage für diesen Umschlag, dieses Seitporträt von Lamprecht, nicht bedruckt, so wie es klassischerseits sein soll, diese Bindung, die, so kunstvoll sie ist, etwas Vorläufiges im Charakter hat. Es ging darum, ein Papier zu finden, das kein Hochglanzpapier ist, weil ich finde, diese historischen Bilder auf Hochglanzpapier besäßen ein völlig inadäquates Verhältnis zueinander, die waren etwas Anderes, waren Gebrauchsgegenstände – natürlich sind die sehr kunstvoll, aber man muss die nicht so drucken wie eine Aktphotographie von Helmut Newton. Die brauchen einen anderen Untergrund, in meiner Vorstellung. Also die Suche nach den Papieren, und wie offen die Seitengestaltung ist, wie viel Raum man sozusagen lässt, damit die Schrift eine Lesbarkeit hat, diese ganzen Fragen, die die Buchgestaltung betreffen, deren Lösungen ja alle von diesen beiden wundervollen Graphikerinnen kommen, die haben uns aber sehr umgetrieben, es war uns sehr wichtig, dass der Charakter der Gestaltung, also wie unser Gegenstand erzählerisch und in der Darstellung erscheint, dass der sich wiederfindet auch im Aussehen der Bücher.

Das Gespräch mit Rolf Aurich und Wolfgang Jacobsen fand am 15. März 2013 im Filmhaus am Potsdamer Platz in Berlin statt.

Wolfgang Jacobsen, seit 1981 Mitarbeiter der Deutschen Kinemathek, bis zu deren Auflösung Leiter des Bereichs Publikationen & Forschung, und Rolf Aurich, seit 1994 dort Redakteur und Lektor, beide Filmhistoriker und Autoren der Deutschen Kinemathek Berlin, geben zusammen die Buchreihen »Film & Schrift« (edition text+kritik, München) und »FiLit« (Verbrecher Verlag, Berlin) heraus. Gemeinsame Buchveröffentlichungen zuletzt: »Reineckerland. Der Schriftsteller Herbert Reinecker«, München 2010 (mit Niels Beckenbach); »Theo Lingen. Das Spiel mit der Maske«, Berlin 2008; »Der Sonnensucher Konrad Wolf, Berlin 2005.