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Falling | Interview

Gewalt und Vorurteil

| Pamela Jahn |
In seinem allerersten Film, „The Purple Rose of Cairo“, ist Viggo Mortensen nicht einmal zu sehen, denn Woody Allen zog es vor, die Rolle herauszuschneiden. Gut dreißig Jahre und drei Oscar-Nominierungen später trat er erstmals selbst hinter die Kamera, um in einem eindringlichen Drama persönliche Erinnerungen aufzuarbeiten. Ein Gespräch über Vorbilder, Herausforderungen, Erschöpfungen und den unermüdlichen Spaß an der Sache.

Es gibt Schauspieler, auf die muss man gefasst sein. Bei denen weiß man nie, was kommt – oder besser: wie sie zum Gespräch erscheinen. Mit guter oder schlechter Laune, gestresst oder verkatert, mundfaul oder müde. Im schlimmsten Fall alles zusammen. Da hilft manchmal auch die beste Vorbereitung nichts, und das Interview ist bereits verloren, bevor man überhaupt die erste Frage gestellt hat. Viggo Mortensen, der spätestens seit seinem Auftritt als König Aragorn in Peter Jacksons Herr der Ringe-Trilogie vor fast zwanzig Jahren Superstar-Status innehat, ist genau das andere Extrem: immer freundlich, immer aufgeschlossen, überlegt und aufmerksam. Egal, wann und wie man dem heute 62-Jährigen begegnet, ist er stets die Ruhe, Kompetenz und Freundlichkeit in Person. Kein Exzentriker, kein Weltfeind, keine Diva, dafür Schauspieler, Musiker, Maler, Fotograf, Autor und Besitzer eines eigenen Verlagshauses, alles in einem. Dass er jetzt seine erste Regiearbeit vorlegt, ist jedoch nicht nur eine logische Weiterführung seines künstlerischen Schaffens, sondern ein Wunsch, den er sich gerne schon viel früher erfüllt hätte.

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Doch mit Herzlichkeit und Talent allein hat man es in Hollywood schon vor der Kamera schwer genug, weshalb der Sohn eines Dänen und einer Amerikanerin bisher alles in seine Rollen steckte, für David Cronenberg erst den Mann fürs Grobe gab (A History of Violence, Eastern Promises), dann Sigmund Freud (A Dangerous Method), der in John Hillcoats The Road gehungert hat und gefroren, und als „Captain Fantastic“ in Matt Ross gleichnamigem Film mit seinen sechs Kindern im Wald den Kampf gegen die moderne Zivilisation antrat, um schließlich feststellen zu müssen, dass ihr keiner entkommt.

Letztlich musste sich Mortensen auch ein Regiedebüt hart erkämpfen. Immer wieder brach ihm die Finanzierung weg, bis er schließlich das nötige Geld und seine Traumbesetzung zusammen hatte, um mit Falling seinen ersten Langspielfilm nach eigenem Drehbuch zu realisieren. Mortensen selbst spielt darin den offen homosexuellen John, der mit der Wut, Gewalt und Homophobie seines Vaters Willis (Lance Henriksen) ringt, seit er denken kann. Bereits früh hat er sich deshalb von der Familie abgesetzt, ist aus dem Mittleren Westen nach Kalifornien gezogen, um dort sein eigenes Leben aufzubauen. Doch im Alter kommt Willis allein nicht mehr zurecht, nachdem er längst auch seine beiden Frauen und Johns Schwester Sarah (Laura Linney) vertrieben hat. Die Demenz macht ihm zu schaffen, und so holt John ihn zu sich nach Hause – eine Gelegenheit, die sich Willis nicht nehmen lässt, um mit seiner engstirnigen, rückhaltlosen Aggressivität und Abscheulichkeit auch noch den letzten Rest von familiärer Verbundenheit zunichte zu machen. Henriksen, in natura ebenso so herzlich, sanft und einnehmend wie sein Regisseur, wandelt sich in seiner Figur zum unerbitterlichen Tyrannen, der an seiner Starrköpfigkeit und inneren Härte zu zerbrechen droht, während Mortensen als gütiger Sohn mit der eigenen Vergangenheit schwer ins Gericht geht, um die Kräfteverhältnisse zwischen Familien- und Generationsbeziehungen, Erinnerung und Vergebung, Identität und Menschlichkeit auszuloten.

Mr. Henriksen, Sie haben in über 250 Filmen mitgewirkt. Aber Ihren eigenen Aussagen zufolge war dies die schwerste Rolle, die Sie jemals gespielt haben. Wieso das?
Lance Henriksen:
Der Anspruch war extrem hoch. Viel höher, als ich es jemals zuvor erlebt habe. Das hat zum einen damit zu tun, dass der Stoff so persönlich war, vor allem für Viggo, aber auch damit, dass ich Viggo sehr schätze und ihn auf keinen Fall enttäuschen wollte. Nicht nach all den Strapazen, die ihn der Film gekostet hat. Denn eigentlich wollten wir bereits 2017 drehen, mussten dann aber doch noch zwei Jahre warten, weil die Finanzierung wackelte. Und deshalb war es mir unheimlich wichtig, mich am Ende nicht dabei ertappen zu lassen, vor der Kamera zu spielen. Ich wusste, dass das den Tod für mich und meine Figur bedeuten würde. Das wollte ich nicht riskieren, also musste ich alles geben.

Lance Henriksen hat es bereits angesprochen, „Falling“ ist inspiriert von Erinnerungen an Ihre Eltern. Wie viel steckt davon genau im Film?
Viggo Mortensen: Nicht zu viel. Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, der Film sei nicht auch ein Stück weit autobiografisch. Allerdings ist er es nicht im strengen Sinn. Die einzelnen Szenen, die Situationen sind alle erfunden. Aber es stimmt, die Grundlage für das Drehbuch waren meine Gefühle zu meinen Eltern und die Erinnerungen, die ich an sie und meine Brüder habe. Das heißt, auch wenn die Geschichte fiktional ist, sind darin verschiedene Elemente und Dynamiken enthalten, wie die zwischen Vater und Mutter oder Vater und Sohn, die auf meinen eigenen Erfahrungen beruhen.

Was hat Sie ursprünglich dazu bewogen, Lance Henriksen als Willis zu casten?
Viggo Mortensen:
Es war zunächst nur ein Bauchgefühl. Ich habe seine Arbeit immer bewundert und fand, dass er eine ganz besondere Leinwandpräsenz hat, eine tolle Stimme und Körperlichkeit. Wir trafen uns zum ersten Mal am Set von Ed Harris’ Western Appaloosa. Das war 2007. Ich beobachtete ihn bei der Arbeit, und wir plauderten in den Pausen hier und da. Ich fühlte mich zu ihm hingezogen, nicht nur, was die Schauspielerei angeht, auch als Person, aufgrund der Art, wie er auf andere Menschen wirkt und Geschichten erzählen kann. Ich habe damals nicht weiter darüber nachgedacht. Aber als ich mir ernsthaft überlegen musste, wer eventuell für die Rolle in Frage kommen würde, kam mir Lance in den Sinn. Ich hatte das Gefühl, dass er etwas Besonderes aus der Figur machen würde, auch wenn ich ihn bis dahin nicht in einer ähnlichen Rolle gesehen hatte. Ich schickte ihm das Drehbuch und hoffte auf das Beste. Man weiß ja nie. Nur weil jemand denkt, dass man in eine bestimmte Rolle passt, heißt das noch lange nicht, dass man das auch selber so sieht. Und dann lehnt man höflich ab. Das passiert ja ständig, auch mir. Aber es gefiel ihm …

Lance Henriksen: Ich kann mich noch genau an unser Gespräch erinnern, als wir endlich drehen konnten. Ich war voller Zweifel, ob ich der Rolle gewachsen sein würde, und du meintest nur trocken: „Glaubst du etwa nicht?“ Es war wie eine Herausforderung und eine Drohung zugleich.

Mr. Mortensen, Sie sind ebenfalls schon sehr lange im Geschäft, aber dies ist Ihre erste Regiearbeit. Wie groß war der Schritt für Sie persönlich, jetzt die Seiten zu wechseln?
Viggo Mortensen:
Ich war nervös, aber das geht mir immer so. Ich bin auch heute noch aufgeregt bei jeder Rolle, die ich spiele. Weil man es eben nicht vermasseln will. Der große Unterschied beim Regieführen ist, dass man für das ganze Ding verantwortlich ist. Ob der Film am Ende funktioniert oder nicht, liegt in erster Linie beim Regisseur. Aber ich bin auch als Schauspieler schon immer sehr neugierig gewesen und habe mich auch hinter der Kamera umgesehen, wie alles funktioniert. Ich habe den Regisseuren, mit denen ich gearbeitet habe, über die Schulter geschaut und mich dafür interessiert, wer was macht und warum. Diesen kollektiven Aspekt beim Filmemachen fand ich immer am spannendsten. Und ich denke, dass meist die Filme gut werden, bei denen die Atmosphäre am Set stimmt und sich alle einig sind über die Geschichte, die erzählt werden soll, und wie sie erzählt werden soll. Manchmal wird ein Film nichts, weil der Regisseur nicht offen genug ist für die Ideen anderer. Oder, weil ein Schauspieler dicht macht und einfach seine Nummer durchzieht. Das soll nicht heißen, dass nicht auch trotzdem etwas Gutes dabei entstehen kann, aber ich glaube, dass es da Grenzen gibt.

Von welchem Regisseur haben Sie Ihrer Meinung nach am meisten gelernt?
Viggo Mortensen:
Es ist eine Mischung aus den richtig guten Regisseuren, mit denen ich arbeiten durfte, und einer Reihe großartiger Filme von anderen Regisseuren, die ich nie kennengelernt habe. Aber natürlich geht nichts darüber, selber mitzuerleben, wie jemand mit der Situation am Set umgeht. Und da gibt es einige, die mir imponiert haben. Es fällt mir immer schwer, einzelne Namen zu nennen, aber David Cronenberg ist so jemand, der einfach exemplarisch ist im Hinblick darauf, wie gut er vorbereitet ist, und wie ruhig und gelassen er mit allem und allen umgeht. Matt Ross, mit dem ich Captain Fantastic gemacht habe, ist darin ebenfalls sehr gut. Und auch Peter
Farrelly. Nur wenn es um das ganze Paket geht, ist David schon etwas ganz Besonderes, ein echtes Vorbild.

Und er ist großartig im Film. Sein Cameo ist eine schöne Geste.
Viggo Mortensen:
Ja, aber die Geste, von der Sie sprechen, war nicht der Grund, warum ich ihn gefragt habe. Es war einfach eine verrückte Idee. Ich schickte ihm das Drehbuch und meinte, es sei keinesfalls als Scherz gemeint. Ich wollte ihn für die Rolle, ganz im Ernst.

Dafür wollten Sie selbst zunächst eigentlich nicht mitspielen im Film und haben schließlich doch die Rolle des Sohnes übernommen. Was hat Sie umgestimmt?
Viggo Mortensen:
Ich war noch nicht dazu gekommen, die Rolle zu besetzen, und dann wurde mir plötzlich gesagt, dass, wenn ich den Film im Winter drehen wolle, ich vermutlich das Geld zusammen bekommen würde, wenn ich selbst mitspielte – da man sich sicher sei, der Film werde sich dann besser verkaufen. Das war der einzige Grund. Und ich bedaure keine Sekunde, dass ich es getan habe. Am Ende war es sogar gut so, weil Lance und ich eine so tolle Beziehung zueinander hatten. Wie heißt es so schön:Wenn dir das Leben Zitronen schenkt, mach Limonade. Und mit dieser Einstellung haben wir den kompletten Film gedreht. Es ging darum, die Zeit, die Umstände, alles, was uns zur Verfügung stand, so gut es geht zu nutzen und das Beste daraus zu machen.

Wenn man bedenkt, wie schwer es heutzutage ist, Filme zu finanzieren, selbst wenn man wie Sie einen Namen hat, besteht dann die Gefahr, dass dieser enorme Druck, der auf einem lastet, den kreativen Geist zu ersticken droht?
Viggo Mortensen:
Nein. Es gibt immer einen Weg. Zur Not kann man heute einen Film auch mit dem Smartphone filmen. Wenn es sein soll, findet sich eine Möglichkeit. Ich bin mir sicher, dass Falling letztendlich nur zu Stande kam, weil ich zu stur war, von der Idee abzulassen. Aber klar, in der jetzigen Situation wird alles natürlich noch mal schwerer, das muss man auch sehen. Wie die Tatsache, dass ein Kino nach dem anderen schließt, und dass die Menschen sich zunehmend daran gewöhnen, Filme zu Hause zu streamen.

Lance Henriksen: Ich habe mich darüber so aufgeregt, dass ich meinen Fernseher zum Fenster hinausgeworfen habe.

Viggo Mortensen: (Lacht.) Aber ich bin optimistisch. Es wird auch wieder besser werden. Nicht nur im Hinblick auf die Finanzierung, sondern auch, was das Filmangebot angeht. Es ist ja gerade auch schwierig für diejenigen, die einen Film fertig haben. Wir werden uns alle ans Streamen gewöhnen müssen, ganz egal, ob wir das Kino vorziehen oder nicht. Was bleibt uns denn übrig? Wir haben unseren Film zumindest auf ein paar Festivals präsentieren können. Das war ein großes Glück. Aber diese Möglichkeit hat nicht jeder, und es ist trotzdem auch für uns frustrierend genug, was gerade passiert.

Lance, wenn das Ihr bisher schwierigster Job war, fühlen Sie sich dann jetzt reif für den Ruhestand? Oder hat die Rolle Ihre Leidenschaft fürs Spielen neu entfacht?
Lance Henriksen:
Sie meinen, dass ich jetzt vielleicht aufhören würde zu spielen? Nein, niemals. Man ist nie mehr derselbe nach einer Rolle wie dieser. Aber wie könnte ich diese Erfahrung nicht mitnehmen und von hier aus weiter machen? Nein. Es ist ganz sicher nicht mein letzter Job gewesen.

Aber gab es nicht auch einen Punkt, an dem Sie beide alles hinschmeißen wollten?
Lance Henriksen:
Wie ist das denn durchgesickert? (Lacht.) Also, das war so: Wir hatten bereits einen langen Tag hinter uns, standen auf dem Parkplatz und rauchten eine zusammen. Er war kalt und das Wetter war beschissen. Kanada kann manchmal ziemlich hart sein.

Viggo Mortensen: Wir hatten die letzte Szene des Tages noch immer nicht abgedreht.

Lance Henriksen: Und ich war schrecklich müde und meinte zu Viggo: „Ich weiß nicht, ob ich hiernach jemals wieder spielen möchte.“

Viggo Mortensen: „Das war’s“, hast du gesagt. „Das ist meine letzte Rolle.“

Lance Henriksen: Ich dachte wirklich, dass ich am nächsten Morgen tot sein würde. Dann sagte Viggo zu mir, er wisse auch nicht, ob er den Tag überstehen würde. Und wir mussten beide lachen, weil wir so fertig waren. Am nächsten Morgen kam ich extra früh ans Set und fand eine weiße Rose mit einer Nachricht in meinem Trailer. Darauf stand: „Lance, hör zu, Schauspielen soll Spaß machen. Das soll hier alles Spaß machen. Lass uns heute einen guten Tag zusammen haben.“ So fertig waren wir. Und ziemlich angeschlagen.

Viggo Mortensen: Ja. Aber wenn es nicht so schwer gewesen wäre, hätten wir den Film wahrscheinlich nicht in der richtigen Weise gemacht.

Das heißt, auch Sie haben nicht vor, das Regieführen sofort wieder an den Nagel zu hängen?
Viggo Mortensen:
Ach, wissen Sie, wir Wikinger erholen uns schnell wieder. Und wir sind schon am nächsten Tag wieder kampfbereit. Nein, ganz ehrlich, ich habe die Erfahrung geliebt. Als wir den Film fertig geschnitten haben, hätte ich am liebsten sofort mit dem nächsten begonnen. Aber das ist es eben, was an dieser Pandemie so frustrierend ist. Ich wünsche mir nichts mehr, als dass der Film gesehen wird. Und dass es dann hoffentlich jemanden gibt, der sagt: „Der kann ja tatsächlich auch Regie führen. Lassen wir ihn einen zweiten versuchen!“