Hinweise auf die „Schönheit“ von „Ghost of Tsushima“ waren in Verbindung mit Screenshots des neuesten Sony-Exklusivtitels keine Seltenheit. Ein digitales Japan, wunderbar ansprechend inszeniert und darüber hinaus auch noch basierend auf wahren historischen Ereignissen. Doch was steckt hinter dem schönen Äußeren des Action Adventures?
Japan im Jahr 1274. Die Insel Tsushima wird von mongolischen Truppen angegriffen. Deren Anführer Kublai Khan will in weiterer Folge das ganze Land einnehmen. In den Reihen der Widerständler findet sich auch der Samurai Jin Sakai wieder, der sich gemäß den alten Riten für den ehrenvollen Kampf bereitmacht. Mit 80 Mann stellen sich die Samurai den Eroberern entgegen. Diesen Moment soll es tatsächlich gegeben haben – doch in „Ghost of Tsushima“ beginnt hier die fiktive Geschichte eines Kriegers.
Trotz des realen Hintergrundes erhebt der Titel von Studio Sucker Punch nicht den Anspruch, komplett realistisch zu sein. Spieler haben es hier mit einem Action Adventure zu tun, das zwar in einem historischen Setting angesiedelt ist, aber allein durch das Vorhandensein von wegweisenden Tieren und Winden auch eine mythische Seite betont. Insofern ist die Realitätsnähe nicht so streng zu sehen – und dass nicht alle Details stimmen, ist zu verkraften. Teile des Kriegsequipments wie bestimmte Kanonen waren zum Zeitpunkt der Geschichte zum Beispiel noch gar nicht erfunden. Der Stimmung tut das keinen Abbruch. Im Gegenteil: Auch wenn nicht alles akkurat ist, hat man unterstützt durch die Verwendung originaler Begriffe und Ausschnitten in Originalsprache das Gefühl, vollends in eine authentische Welt einzutauchen.
Das Augenmerk der Geschichte liegt natürlich auf der Rückeroberung Tsushimas. Jins Onkel, Fürst Shimura, wird vom Khan entführt, und so hat der Neffe auch einen persönlichen Grund, die Widersacher zurückzuschlagen. Das geht teilweise brutal vonstatten, doch „Ghost of Tsushima“ schafft inmitten der bedrohlichen Situationen auch immer wieder ruhigen Ausgleich. Heiße Quellen laden zum Sinnieren ein, zwischendurch können eigene Haikus, traditionelle japanische Gedichte, verfasst werden. An Schwertprüfungen in Form von Quick Time Events testen Spieler ihre Schnelligkeit. Und schließlich sind da auch noch die bereits genannten tierischen Wegweiser, die Jin zu neuen Bereichen führen. Eine der Sammelaufgaben – das gehört ja fast zum guten Ton bei dieser Spielegattung – ist es, Schreine zu finden. Füchse zeigen Spielern die Inari-Schreine, an denen Talisman-Plätze freigeschaltet werden können. Diese Plätze füllt man mit Talismanen aus den versteckt gelegenen Shinto-Schreinen. Die Amulette verbessern Jins Fähigkeiten wie Tarnung oder Ausdauer. Auch dem ein oder anderen Steingötzen oder Gefallenen seine Ehre zu erweisen, schadet übrigens nicht: im Laufe des Spiels kann dabei so manches Easter Egg entdeckt werden.
Als Sohn eines ehemaligen Samuraifürsten hat Jin die Bürde der Ehre noch schwerer zu tragen, was sich als Motiv durch das Spiel zieht. Er ist engstirnig und legt damit eine Eigenschaft an den Tag, die noch auf viele Charaktere zutreffen wird und dadurch manchmal fast ein bisschen inflationär anmutet. Stur weigert sich der Hochgeborene, vom Weg abzuweichen – doch bald muss er merken, dass er sein Ziel so nicht erreichen wird. Im Angesicht einer ganzen gegnerischen Armee erweist sich die Idee, nur dem Weg der Samurai zu folgen, als wenig erfolgsversprechend. Dies zeigt sich direkt in der geschilderten Anfangsszene. Schwer verwundet wird Jin von der Diebin Yuna aufgegriffen, die ihn fortan durch die Geschichte begleitet.
Das Zusammenspiel mit anderen Charakteren ist insofern spannend, als sie sich an Entscheidungen der Spielerin/des Spielers orientieren. Im Kontrast zum Inhalt der Geschichte steht dann allerdings, dass sie sich teils unlogisch verhalten, ins Sichtfeld der Feinde geraten, aber dann einfach unsichtbar sind. Zudem scheinen die Dialoge manchmal nicht aufeinander abgestimmt. Es wirkt, als seien die Parts getrennt voneinander aufgenommen worden, zum Beispiel wenn die Emotionen so gar nicht zueinander passen.
Ansprechend sind die Geschichten der Menschen, die Jin auf der Reise trifft. Quest-Reihen für die einzelnen Charaktere sind nur teils für die Hauptstory wichtig, doch sie zeigen Facetten, die auch in anderen Spielen wie „Witcher 3“ behandelt werden. Nicht jeder ist automatisch gut oder böse, nur weil er einer bestimmten Familie, Nation, Kaste angehört. In der Open World gilt es, Hinweise zu finden, Dörfer zu befreien – was erneut sehr an die Spielmechaniken aus „Witcher 3“ erinnert. Selbst die Animationen nach dem Befreien einer Gemeinschaft oder das Hinhocken beim Sichten von Spuren lassen sich nicht ganz vom CD-Projekt-Red-Titel abkoppeln. Hinzu kommen Lager mit mongolischen Generälen, die leider nicht besonders ausgeformt sind. Wie bei der „Assassin’s Creed“-Reihe werden die Eroberungen recht schnell repetitiv. In Kombination mit dem immer wiederkehrenden Rachemotiv verschiedenster Personen als zentraler Ansporn für ihr Handeln wäre hier mehr Abwechslung möglich gewesen.
Überzeugend ist allerdings Jins Entwicklung, in deren Folge sich auch gelungene kämpferische Elemente finden. Bezeichnet als Geist oder letzter Samurai, setzt er seinen Weg fort und erhöht dabei mit jeder Handlung seinen Legendenstatus, der das Charaktersystem des Spiels bildet. Wachsender Ruhm, für den sich die Nebenmissionen übrigens lohnen, generiert Punkte, die in Fähigkeiten investiert werden können. Zur Auswahl stehen dabei etwa neue Kampfhaltungen, Paraden oder Ergänzungen zum Erkunden der Insel. Spielerinnen und Spieler haben die Wahl, wie groß sie den Stealth-Anteil werden lassen wollen. Wer nicht gern im Verborgenen agiert und damit eher zum Assassinen wird, kann auch die offene Konfrontation suchen. Etwa indem sie/er Gegner in der Nähe zum Duell auffordert und damit den Kampf äußerst ehrenhaft beginnt – manchmal nur eben mit dem Resultat, dass man schwer verwundet einer feindlichen Truppe gegenübersteht. Das Duell erfordert, dass man sich so lang zurückhält, bis der Gegner ein Angriffsmanöver startet. Klingt einfach, tatsächlich ist „Ghost of Tsushima“ auch alles andere als ein „Sekiro“ oder „Nioh“. Spieler, die Herausforderungen suchen, sollten sich daher direkt auf höhere Schwierigkeitsgrade verlagern. Denn die KI lässt sich, wie bereits angedeutet, sehr leicht überlisten. Selbst wenn die feindlichen Truppen Hunde als tierische Helfer einsetzen, die beim vorangegangenen Sony-Exklusivtitel „The Last of Us Part II“ als neues Element eine zusätzliche Schwierigkeit darstellten.
Aber die Stimmung macht’s: Am Ende eines Gefechts sorgen gewisse Gesten wieder für den richtigen Flair. Mit einer gekonnten Bewegung wird das Schwert abgewischt und weggesteckt. Landet man einen besonders guten Treffer, kann dies andere Gegner sogar in einen Schockmoment versetzen, der Raum für neue Angriffe bietet. Ja, blutig ist es schon. Aber wer das nicht mag, kann die Anzeige auch recht einfach abschalten, genauso wie andere Details sich verändern lassen. Übrigens auch die Rüstung, die sichtbar unterschiedlich ist. Irgendwo auf Tsushima soll sich auch legendäres Equipment befinden, das entsprechend seiner Wirkung aber auch besser versteckt ist.
Der Stil ist im Vergleich zu „The Last of Us Part II“ weniger realistisch, eher wie einem Gemälde entsprungen. Dafür kann man sich in den Punkten Lichtspiele und Wettereffekte so richtig austoben! Der Fotomodus bietet viele Optionen, die alle für sich so hübsch aussehen, dass man sich schnell einmal einige Zeit darin verliert. Als Hommage an alte Samurai-Filme kann man das gesamte Spiel übrigens auch in Schwarzweiß erleben, wobei sich obendrein auch noch die Soundkulisse verändert. Dies hat keinen weiteren Einfluss auf das Geschehen, ist durch den spannenden Gedanken aber definitiv hervorzuheben.
In der Open World von „Ghost of Tsushima“ gibt es insgesamt viel zu sehen und zu entdecken. Ob man dem Wind folgt oder auf dem Rücken seines treuen Pferdes durch die Welt galoppiert, ist uns überlassen. Zu Fuß lässt sich die Insel ebenso erkunden wie ohne der Natur entsprungenen Hilfsmittel – auch wenn der Wind als Zeichen des verstorbenen Vaters oder sogar der Götter eine weitere schöne mystische Komponente bietet. Zu den eigenen Flötenklängen, Haikus und bei kulissenstarken Sonnenuntergängen wird es besonders schön. Filmfans werden sich am Zusammenspiel von Bildästhetik und Musik besonders erfreuen. Ilan Eshkeri (47 Ronin) und Shigeru Umebayashi (Der Fluch der goldenen Blume) zeichnen für den Soundtrack verantwortlich, der die Stimmung abrundet. Diese ist letztlich auch der Haupttreiber des Spiels. Bewertet man die Story entsprechend als elementarer als die Kämpfe, sind die Schwächen in KI und Kampf auch deutlich abgemildert. Wer eine spielerische Herausforderung sucht, wird vor dem Einstieg einige Anpassungen machen müssen. Um Spieler visuell in seinen Bann zu ziehen hat „Ghost of Tsushima“ aber den richtigen Pfad beschritten.