Coming-of-Age unterm Damoklesschwert, schwerblütig statt leichtfüßig
Ihre Mütter lagen gemeinsam auf der Entbindungsstation des Krankenhauses; Natalie und Anoushka gebaren Ginger und Rosa im selben Jahr in London, in dem die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki fielen. Die Mütter blieben miteinander befreundet und aus den Mädchen wurden beste Freundinnen.
17 Jahre später, 1962, als die Handlung von Sally Potters Ginger & Rosa einsetzt, findet sie die beiden Titelheldinnen in jenem entdeckungslustigen, experimentierfreudigen und zugleich höchst labilen und gefährdeten Alter, in dem die „ersten Male“ zahlreich sind, es keine Kleinigkeiten gibt und das Drama immer furchtbar dramatisch ist. Pubertät, wir erinnern uns, kann abgrundtief schrecklich sein. Zumal wenn jene individuell einschneidende Periode, in die die allmähliche Herausbildung des Charakters, das sexuelle Erwachen, die Entstehung des gesellschaftlichen und/oder politischen Bewusstseins fällt, draußen in der Welt, außerhalb des Subjektes, auf eine Phase des Umbruchs trifft.
So wie hier: „Swinging London“ liegt in der Luft, Emanzipation kündigt sich an. Vor allem aber ist da die Kuba-Krise, deren Weltuntergangsträchtigkeit man sich heute kaum mehr vorstellen kann. Auf all diese Herausforderungen reagieren Ginger und Rosa durchaus unterschiedlich. Während die eher wilde Rosa vielfältig aktiv wird, zieht sich die sensible Ginger nachdenklich in sich zurück. Rosa will sich politisch engagieren, Ginger schlägt vor, in die Kirche zu gehen, um zu beten. Rosa sucht sexuelle Abenteuer, Ginger beobachtet und zögert. Dann kommt es zu einer weiteren schweren Krise: Gingers Eltern trennen sich und ihr Vater, Roland, beginnt ein Verhältnis mit Rosa – seine Geilheit aufs Jungfleisch mit pseudolibertinärer Gesellschaftskritik kaschierend. Ginger verliert zugleich ihre beste Freundin und ihren geliebten Vater. Zu allem Überfluss droht der in Kuba scheinbar unmittelbar bevorstehende Atomschlag mit dem Ende von allem. Ginger, die nicht einordnen kann, was geschieht, verzweifelt und verstummt. Untergangsstimmungen treffen aufeinander, spiegeln und verstärken einander – bis hin zur Eskalation.
Mit Ginger & Rosa inszeniert Potter ein eigenes Drehbuch als Abfolge visuell elaboriert gestalteter Episoden, in denen vieles unausgesprochen bleibt und mancherlei nur angedeutet wird. Damit gibt sie der gerade mal 14-jährigen Elle Fanning genügend Interpretationsspielraum, um in der Rolle der Ginger ein ganz fabelhaft subtiles Charakterporträt zu schaffen.