Zum sechsten Mal werden in Innsbruck die Projektoren angeworfen und dem Kultigen, Schrägen und Schönen ein Roter Teppich ausgerollt: Die diesjährige Diametrale findet von 30. März bis 3. April statt. Ein Blick auf den Spielplan des Festivals und insbesondere auf den Abschlussfilm „After Blue“ (2021), der im Sommer seinen regulären Kinostart in Österreich haben wird.
Auch heuer versammelt der Innsbrucker Verein Diametrale gemeinsam mit dem Kulturkollektiv Contrapunkt filmische und musikalische Gegenrealitäten. Inhaltlich fokussiert das Festival auf queeres Begehren und lustvolle Subversion von Körper- und Sexualnormen. Unter dem bewährten Slogan „nutzlos und schön“ gibt es DJ-Lineups, Konzerte, Vorträge (zu Queerfeminismus und subversiver Pornografie) und natürlich vor allem Filme, die im altehrwürdigen Innsbrucker Leokino projiziert werden. Neben mehreren thematischen Kurzfilm-Screenings, darunter etwa „Sex Positive Short Films“ oder der queere Post-Porno Mein Hosenschlitz ist offen. Wie mein Herz. (2021) von der jungen Autorin und Filmemacherin Marie Luise Lehner, gibt es heuer eine Fokus-Reihe zum Dokumentarfilmmacher Jan Soldat. Dessen Portraits von Personen mit „devianten“ Körper- und Sexualpraktiken beeindrucken als sensibles und subversives Gegenstück zur geläufigen TV-Sozialpornografie – und sind immer noch ein Geheimtipp.
Sympathischerweise entsagt die Diametrale den Verwertungskonventionen der Festivalkultur und spielt eben nicht nur das Neueste vom Neuen, sondern nimmt sich den Freiraum, auch ältere Perlen zu zeigen. So eröffnet das Festival mit dem poetisch-affektierten Tanzfilm The Legend of Kaspar Hauser (2012) und zeigt zudem das bunt-trashige Softporno-Musical Underwater Love (2011), eine japanische Explosion aus Avantgarde, Exploitation und Mythologie. Alle thematischen Glutkerne des Festivals – Sex-Positivity, subversive Körperbilder, fantastische Gegenrealität – vereint dann der Abschlussfilm After Blue (2021), der nicht nur brillant ist, sondern auch noch keinen Kinostart in Österreich hatte und deswegen hier etwas mehr Raum bekommt.
Mitternachts-Science-Fiction: After Blue
Zuerst sind da Himmelskörper und bunte Nebel, dann ein Strand, durchsetzt mit glitzernden Kristallen. Begleitet von einem Voice-Over-Dialog gelangen wir so auf den Planeten After Blue, die neue Heimstatt der Menschen nach dem Untergang der Erde. Hier leben allerdings nur Frauen, denn Männer sterben in der Atmosphäre: Ihnen wachsen die Haare nach innen. Am Strand befreit die junge Protagonistin Roxy (Paula Luna) die bis zum Hals im Sand vergrabene Kate Bush (Agata Buzek), eine gefürchtete Outlaw, die umgehend nach ihrer Rettung drei Mädchen erschießt und flieht. Dies hat zur Folge, dass Roxy zusammen mit ihrer Mutter Zora (Elina Löwensohn) aus der Gemeinschaft verstoßen und auf die Jagd nach der Delinquentin geschickt wird. Was folgt, ist ein hypersinnliches Science-Fiction-Märchen mit Western-Elementen und verdammt viel Glitzer.
Der französische Experimentalfilm-Regisseur Betrand Mandico legt mit After Blue – Paradis sale (2021) seinen zweiten Spielfilm vor. Er bleibt dabei einer in vielen Kurz- und Mittellangfilmen erprobten Handschrift treu. Es sind abgründig-phantastische Welten, die Mandico mit Hilfe seiner Stammkamerafrau Pascale Granel zeigt; Welten, die sowohl hinsichtlich ihrer Genrebezüge als auch hinsichtlich der Darstellung von Geschlechterrollen stets fluide sind. So geht es in seinem gefeierten Langfimdebut The Wild Boys – immerhin von den „Cahiers du Cinéma“ zum besten Film des Jahres 2018 gewählt – um eine kollektive Geschlechtsmetamorphose, die in Form einer üppigen Abenteuergeschichte erzählt wird.
After Blue ist sowohl wuchernd und vital als auch hermetisch und artifiziell. Diese bizarre Mischkulanz entspringt einer ungeahnt strengen Methode, die Mandico gemeinsam mit der Regisseurin Katrin Ólafsdóttir in einem Manifest – dem Incoherence Manifesto – verschriftlicht hat. Zu den darin gelisteten Regeln zählt etwa, dass der gesamte Ton erst in der Postproduktion geschaffen wird, und – umgekehrt – dass visuelle Effekte ausschließlich vor der Kamera ausgeführt werden, also nicht durch Nachbearbeitung entstehen dürfen. Mandico legt Wert auf das Performative und das Körperliche; was wir zu sehen bekommen, ist am Set passiert. Die Verbindung von dieser theaterhaften Machart mit Genreliebe und Avantgarde-Appeal schießt in After Blue zu einer eigenwilligen Bild- und Sprachpoesie zusammen: überladen, verspielt und hochgradig erotisiert. Vieles erinnert dabei an das kultige „Mitternachtskino“ der 1970er Jahre: After Blue ist so queer wie die Rocky Horror Picture Show, so psychedelisch wie Alejandro Jodorowskys El Topo und so traumhaft-hypnotisch wie David Lynchs Eraserhead.
Trotz dieses huldigenden Bewusstseins für popkulturelle Traditionslinien fällt After Blue erfrischend aus dem Rahmen der Nostalgiewellen, die die gegenwärtige Film- und Serienwelt weiterhin heimsuchen. Das mag daran liegen, dass Mandico nicht versucht, verklärende Rückbesinnung zu triggern, sondern sein Publikum tatsächlich herausfordert. Es lohnt, diese Herausforderung anzunehmen und das Geländer eingebläuter Erwartungen loszulassen. Und das am besten bei der Diametrale in Innsbruck.