Alfonso Cuaróns existenzialistisches Weltraumdrama „Gravity“: ergreifend und atemberaubend.
Stille. Endlose Stille. Ein Raumschiff gleitet geräuschlos durchs unendliche Weltall. Majestätisch dreht sich in der Ferne langsam der Erdball. Leben im All ist unmöglich, heißt es gleich zu Beginn. 600 Kilometer über der Erde gibt es keinen Sauerstoff, kein Wasser und keine Atmosphäre, die Schall überträgt. Im All hört dich niemand schreien. In diesem Nicht-Raum ist der Mensch ganz auf sich selbst zurückgeworfen. In Alfonso Cuaróns spektakulärem Meisterwerk Gravity wird das Weltall zur existenzphilosophischen Metapher.
Zu Beginn haben die beiden Astronauten Dr. Ryan Stone (Sandra Bullock) und Matt Kowalsky (George Clooney) ihre Raumstation verlassen, um etwas am Hubble-Teleskop zu installieren. Für die Ingenieurin Stone ist es der erste Raumflug nach nur sechs Monaten Training, für Kowalsky ist der Aufenthalt im All dagegen längst Routine. Entsprechend cool lässt er sich durch die Atmosphäre treiben und plaudert flachsend mit der zugeschalteten Bodenstation in Houston (die Stimme in der Originalversion stammt von Hollywoods Weltallexperten Ed „Apollo 13“ Harris) aus dem astronautischen Nähkästchen. Die Rollen sind klar verteilt: Sie ist die konzentrierte Arbeiterin, er ist der abgeklärte Clown. Doch schnell ist es mit der lässigen Ruhe vorbei. Die Bodenstation warnt vor heranrasenden Schrottteilen nach der Explosion eines russischen Satelliten. Da treffen auch schon die ersten Stücke die Raumstation, erst wenige kleine, schließlich ein ganzer Schwarm messerscharfer, tödlicher Metallfetzen. Nach wenigen Minuten ist die Raumstation zerstört, nur durch ein Wunder bleiben Stone und Kowalsky unverletzt.
Diese erste Sequenz von rund 20 Minuten dürfte das Atemberaubendste sein, dass es seit einer gefühlten Ewigkeit, zumindest aber in diesem Jahr, auf der Leinwand zu sehen gab. Spektakulär und doch nahezu unsichtbar montiert, gleitet die Kamera scheinbar schwere- und führungslos durch den Raum, fast als sei sie ein weiteres Objekt im All, frei von sowohl Gesetzen der Schwerkraft als auch von denen des konventionellen Kinos. Mal ist sie ganz nah dran an Clooneys Gesicht, dann treibt sie wieder ab, immer weiter, bis der Astronaut nur noch als kleiner Punkt tief im dunklen Raum zu erahnen ist. Es gibt keinen Horizont, an dem man sich orientieren kann, kein Oben und Unten. Das suggeriert ein unmittelbares Dabeisein, ein Mitschweben in der Schwerelosigkeit und entwickelt einen halluzinatorischen Sog, der wahrscheinlich nur mit der Seherfahrung in Stanley Kubricks 2001 – A Space Odyssey vergleichbar ist. Alfonso Cuarón erklärt: „Unser Gehirn funktioniert nach den Gesetzen von Schwerkraft und Gewicht. Doch hier reagiert alles anders, die physikalischen Gesetze im All sind andere. Wir wollten dabei so wissenschaftlich akkurat wie möglich sein. Aber wir haben uns Freiheiten genommen, weil es Fiktion ist und kein Dokumentarfilm.“
Wie 2001 erweist sich Gravity als ein zutiefst ergreifender Film, selbst für jene Zuschauer, die Science-Fiction (und in diesem Fall 3D) sonst nicht viel abgewinnen können. Ein existenzielles Drama, ein Zwei-Personen-Stück, ja im Grunde ein intimes Kammerspiel in den endlosen Weiten des Weltalls. Schwerelos und ohne Kontakt zur Bodenstation treiben die beiden Astronauten auf der Suche nach Rettung Hunderte von Kilometern über der Erde. Bald getrennt, kämpft sich schließlich Stone allein von Raumstation zu Raumstation, mal ist es eine russische, mal eine chinesische. Der Sauerstoff wird knapp, und überall, wo sie auf ihrer Odyssee durch das feindliche Weltall hinkommt, fliegt nicht nur ihr das Equipment um die Ohren, sondern auch dem Publikum: Selten sahen dreidimensionale Bilder so spektakulär aus, von riesigen, explodierenden Raumschiffteilen bis zur kleinen Träne, die aus Bullocks Auge direkt in den virtuellen Raum zwischen Leinwand und Kinosessel fällt. „Für mich war immer klar, dass ein Film über Astronauten in 3D sein muss. Ich liebe die Tiefe des Raums, die nur so visualisierbar ist. Ich wollte, dass man sich im Kino fühlt, als wäre man selbst im All.“ Und so dünn die Geschichte als Abfolge einer Kettenreaktion auch erscheinen mag, so sehr gelingt es Alfonso Cuarón in Perfektion, sensationell choreografierte Actionsequenzen, Hochspannung und lebensphilosophische Fragen in ein einheitliches Blockbusterformat zu bringen.
Die Kameraführung (Emmanuel Lubezki) ist immer wieder packend: Von den unendlichen Weiten des Weltalls schwebt sie scheinbar schwerelos in Stones Astronautenhelm, verbindet Außenwelt und Innenleben, die Schauwerte der tiefenscharfen 3D-Bilder mit der emotionalen Komplexität seiner Protagonistin. Stone ist eine Traumatisierte, die nach dem Tod ihrer vierjährigen Tochter buchstäblich aus der Welt geflüchtet ist und ziellos durch das All driftet. Sie hat sich gegen den Schmerz einen Körper wie einen Panzer antrainiert. Der Film erzählt auch, wie eine Mutter, die sich zur Maschine machte, durch die physische wie psychische Prüfung wieder ein Mensch wird. Es ist, trotz aller grandioser Digitalbilder und Specialeffects, ganz der Film von Sandra Bullock, die nach den Premieren in Venedig und Toronto im September bereits als Oscar-Kandidatin gehandelt wird. Ihre Darstellung ist umso erstaunlicher, wenn man sich vor Augen hält, dass sie den Großteil der Szenen allein vor blanken Studiowänden spielte und lediglich Markierungen als Gegenüber hatte. Cuarón nennt den Dreh einen „sehr abstrakten Prozess“ und ergänzt: „Der korrekte Begriff wäre wohl mind fuck.“
Es ist Cuaróns erster Film seit dem dystopischen Children of Men (2006) über das drohende Ende der Menschheit angesichts weltweiter Unfruchtbarkeit. Das Drehbuch zu Gravity schrieb er mit seinem 22-jährigen Sohn Jonás, wobei von Anfang an klar gewesen sei, dass es eine weibliche Hauptfigur geben müsse. Cuarón erklärt: „Es sollte um zwei Menschen in einer feindlichen Umgebung gehen, durch deren Erlebnisse wir ganz unterschiedliche Themen behandeln können. Für mich ist der Einschlag der Schrottteile eine Metapher für die Widrigkeiten des Lebens und wie wir aus ihnen lernen und gestärkt daraus hervorgehen.“ Dieser kleinste gemeinsame Nenner ist es dann auch, der eine Identifikation mit der Hauptfigur ermöglicht, auch wenn deren konkrete Situation in etwa so weit von der Lebensrealität des Kinopublikums entfernt ist wie die Raumstation von der Erde. „Wir wollten dabei die Handlung auf das Allernötigste reduzieren und uns ganz und gar auf die Charaktere einlassen“, erklärt Alfonso Cuarón. „Ryan Stone lebt wie in einer Blase, abgeschottet von allem, und sie muss diese Hülle aufbrechen, um wieder leben zu können, um buchstäblich wieder die Füße auf den Boden zu bekommen.“
Am Ende wird Ryan Stone in einem grandiosen Bild ihre eigene Wiedergeburt erleben. Und wir mit ihr in und nach 93 atemberaubenden Minuten die Evolution eines neuen Kinos.