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Harun Farocki

Höchstens nebenbei zur Kunst

| Jörg Becker |

Die Ausstellung „Harun Farocki: Mit anderen Mitteln – By Other Means“ des Neuen Berliner Kunstvereins versammelt die filminstallativen Arbeiten des Filmemachers Harun Farocki. Parallel findet im Berliner Filmhaus – Kino Arsenal die erste Retrospektive des vielgestaltigen filmischen Gesamtwerks statt.

 

Drei Jahre nach dem plötzlichen Tod des Filmemachers und Autors Harun Farocki ist die bislang umfangreichste Retrospektive seines Werks im Berliner Filmhaus – Kino Arsenal zu sehen. Im Verbund mit der Ausstellung „Farocki – Mit anderen Mitteln – By Other Means“ im „neuen berliner kunstverein“ in Berlin-Mitte, einer bevorstehenden „Akademie“ („Farocki Now“) im „Haus der Kulturen der Welt“ und dem „Silent Green Kulturquartier“ im Stadtteil Wedding sowie dem Auftakt einer Werkausgabe seiner Schriften gibt die Filmreihe erstmals Gelegenheit, das facettenreiche Oeuvre des Dokumentaristen nahezu vollständig kennenzulernen – hundert Titel, produziert zwischen 1966, im Gründungsjahrgang der „Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb)“, zu dem er gehörte, und 2012/13, mit der Verfolgung einer Kampagne für Ein neues Produkt und dem Porträt eines Architekturbüros – Sauerbruch/Hutton – Architekten.

Dazwischen liegen Kinofilme und TV-Beiträge, die ihre Formate zu zeitdiagnostischer Medienkritik nutzten und das Interesse des Autors an Veränderungen der gesellschaftlichen Arbeit, von Produktionsprozessen und Technologien des Sehens demonstrieren, selbstreflexiv oder als geduldige Beobachtungsstudien, Direct Cinema ohne Kommentar. „Mit anderen Mitteln“ präsentiert nun zentrale Arbeiten seiner letzten Jahre, Installationen, aus Spielfilmszenen zwischen fünf und sechs Kanälen kombiniert, die sich ganz dem Kino widmen.

Eine kreative Programmierung der Retrospektive zeigt dazu das Werk bis Ende November auf „zwei Wegen“ – „nacheinander“ wird alles Verfügbare in seiner Chronologie vorgeführt, „nebeneinander“ über Brückenschläge und Bezüge innerhalb des fast 50 Jahre umspannenden Korpus präsentiert; da stehen Gelegenheitsarbeiten neben Hauptwerken in Farockis Verbundsystem zwischen den Medien, anfangs Lehrfilme zur politischen Ökonomie (Eine Sache, die sich versteht, 1970), die marxistische Theorie in kurzen Episoden erklärt, dann sein über Jahrzehnte verfolgtes Thema der Arbeitsorganisation und das Interesse daran, den Prozess einer Produktion in seinen Filmen sichtbar zu machen: Wie entsteht ein Schuh, eine Schallplatte, das Gesicht eines Models im Make-up-Studio des Visagisten, wie entsteht – am Beispiel des Playboy-Centerfold – Ein Bild (1983), oder die Kampagne zu einem neuen Produkt – und wie halten die Produzenten, über Schulungen, Übungen, Rollenspiele Schritt mit dem unaufhaltsam scheinenden Entfremdungsverlauf dieses Produktionsfortschritts; nicht zu vergessen die exemplarischen Ausführungen seiner Idee eines „Lexikons filmischer Ausdrücke“: Arbeiter verlassen die Fabrik (1995), Der Ausdruck der Hände (1997), der Gefängnisfilm (2000). Es ist frappierend, wie sich in der Rückschau nun alle Elemente seiner Arbeit zu fügen scheinen, wie noch die kürzeste Filmbetrachtung, Tele- und Bildkritik, ein Hörspiel, ein Essay als Film oder Text oder eine Recherche aus größerem Zusammenhang sich an anderen Orten seiner Produktion implantiert beziehungsweise weitergeführt findet, eine Rolle im Werk spielt, wie das eine dem anderen zugearbeitet hat.

 

Guerilla-PR / Filme, die in Bildern denken

Schon früh betrieb der Filmemacher und Autor einen erfindungsreich-offensiven Umgang mit der Öffentlichkeit. Er schaffte sich kreativ Aufmerksamkeit mit Happenings und Graffiti in der Stadt, an Brandmauern typischer vierstöckiger Mietshäuser, Wundmalen der historischen Hauptstadtarchitektur, als Werbeflächen etwa für Zwischen zwei Kriegen (1978), er betrieb in jener Zeit zur Bekanntmachung seines Werks Guerillataktiken aus der Politszene der Studentenbewegung im öffentlichen Raum. Dokumente solcher Aktionen, kreativer Happenings (etwa „Hier können Sie Harun Farocki treffen“ als Wurfspiel mit Farbbeuteln auf den Autor) von den späten 1960er bis in die 1980er Jahre finden sich nun auf einmal, durch sein Werk kulturell beglaubigt, hinter Glas in Vitrinen, und bilden zu den Installationen, die mit Spielfilmszenen arbeiten, einen aufschlussreichen Prolog; da ist man beispielsweise erstaunt zu lesen, wie Farocki für seinen ersten abendfüllenden Film Zwischen zwei Kriegen, über Jahre entstanden aus den Mitteln aller Beteiligten ohne eine Mark Fördermittel, ein Film ausdrücklich „gegen die Dramoletten der neuen Mittelschicht“ (Farocki), auf dem Programmzettel-Flugblatt 1979 ein in seiner Kritik ebenso humoristisch-aggressives wie radikal kämpferisches Interview mit sich selbst erfindet, in welchem er Ansprüche an Filmarbeit überhaupt postulierte:

„H.F.: ‚Mein Film ist eine wirkliche Arbeit, eine originäre wissenschaftliche Forschung und ein Film, der nicht das Gemeinte übersetzt, sondern selbst fühlt und denkt: damit greift er die anderen Filme an.‘ – ‚Warum wird so viel gesprochen ihrem Film?‘ – ‚Weil die Worte einen Sinn haben. Die Bundesanstalt für Materialprüfung hat mir bescheinigt, dass mein Film mehr Bilder enthält, die dem Blick standhalten, als die Jahresproduktion von 1978.‘ – Die Zeit: ‚Warum gerade jetzt?‘ – ‚Der Opportunismus ist groß, das Geschwätz leer, die Phraseologie hohl – das ist der Augenblick für einen Film, der dem linken Boulevardismus nicht in den Arsch kriecht.‘ – Vorwärts: ‚Wie soll’s weitergehen?‘ – Es soll nicht weitergehen mit der Zerstörung der Kultur, der kulturellen wie der alltäglichen. Lesen, Sprechen, Sehen, Schreiben, Bildermachen muss wieder geübt werden.‘“ Solche Ansprüche an die Filmarbeit sind für ihn immer gültig geblieben, von ihnen ist er nie abgerückt („Filme, die in Bildern denken“ lautete der Titel eines 1987 in der West-Berliner Akademie der Künste von ihm initiierten Symposiums zur damals neuen Kategorie des Essay-Films, den er maßgeblich mit prägen sollte). So konnte es nicht verwundern, dass der Abstand zum Film- und Fernsehbetrieb mit den Jahren zunehmend unüberbrückbar wurde.

 

„Was ist ein Bild?“

Ein erstaunliches Fundstück bildet das 6-minütige Filmdokument einer Performance, bei der Farocki mit dem Schweizer Schauspieler und Mitarbeiter Ronny Tanner anlässlich der Berlinale-Filmfestspiele 1982 in der Lobby des großen Delphi-Kinos eine Szene aus seinem dort vorgeführten Film Etwas wird sichtbar vorspielt („Ronny und Harun spielen Theater“). Der über Nordvietnam abgeschossene Pilot Tanner – Farocki verkörpert ihm gegenüber die staunenden, fragenden Vietnamesen um den Schreibtisch, an dem Tanner sitzt – erklärt die Bedeutung zweier Luftfotos, aufgenommen aus 10.000 Metern Höhe, aus denen er, etwa anhand der Spuren von Sandalen, die die Bevölkerung entweder aus französischen (Michelin) oder aus amerikanischen (Goodyear) Reifen gefertigt hatte, kriegswichtige Informationen aus dem Zielgebiet herauszulesen vermag. Heute sei er kein Soldat mehr, eher ein Philosoph; die Philosophie frage: Was ist der Mensch? Er dagegen frage: Was ist ein Bild? … Letztlich lese man nur das aus ihnen heraus, was man in Sprache umsetzen kann.

 

Quereinfluss – Doppelprojektion

Mitte der 1990er Jahre sprach Farocki im Kontext seines Films Schnittstelle (1995), für eine Ausstellung in Lille, erstmals von einer Installation. Der Film zeigt den Filmemacher/Autor an seinem Arbeitsplatz, im Labor des Kinos, im Schneideraum, wo seit je her untersucht wird, was ein Bild ‚bedeutet‘ oder aussagt, für sich und im Zusammenhang mit anderen Einstellungen. Zehn Jahre darauf holte er das Kino in den Kunstraum („Kino wie noch nie“, Wien 2006), wohl auch, weil ihm die Selbstreflexion des Films im bestehenden Kino und TV-Betrieb nicht möglich erschien. Warum er das Kino verlasse, den Kunstraum betrete? Angesichts der Zuschauerzahlen seiner letzten Kinofilme habe er keine Wahl gehabt, schrieb Farocki 2004, und führt als zweiten Grund, an, „dass die Besucher von Kunsträumen eine weniger eng umrissene Vorstellung davon haben, wie Bilder und Töne sich fügen sollten. Sie sind eher bereit, den Maßstab einer Arbeit in ihr selbst zu suchen.“

„Auch ich will höchstens nebenbei zur Kunst kommen“, bemerkte Farocki 2004 in einem Text unter dem Titel „Quereinfluss / Weiche Montage“, in dem er wohl erstmals seinen Gebrauch der Doppelprojektion (bei Auge/Machine, 2001) beschreibt, die mit Sukzession sowie Gleichzeitigkeit der Beziehungen der Filmbilder zueinander umgeht, und auch Rationalisierungsstudien der Handarbeit Bildern der Roboterfertigung von Fernlenkwaffen gegenüberstellt. Die Arbeit mit zwei Bildspuren ging für Farocki aus Erfahrungen am Video-Schnittplatz hervor, dessen vergleichende Anordnung wohl Jean-Luc Godard, für Farocki eine wesentliche Orientierungsgröße, schon 1975 in seinem Film Numéro Deux zu Einstellungen mit zwei Monitoren inspirierte

In einer Installation aus zwei Bildkanälen setzt sich Farocki mit den Montageprinzipien früher Filme des Regisseurs D.H. Griffith auseinander (Zur Bauweise des Films bei Griffith, 2006). „Eine Einstellungsfolge bei Griffith, aus Intolerance, von 1916. Es gibt vielfältige Montageformen: ganz selbstverständlich die Großaufnahme, die wechselnden Einstellungsgrößen, Schuss-Gegenschuss, Parallel-Montage, den Zeitsprung über viele Jahrhunderte. Aber eine Einstellungsfolge fällt heraus. Sie lässt einen denken, mit ihr werde die Ausdrucksform Schuss-Gegenschuss erfunden. Oder, zur Bekräftigung einer Sache, der man sich noch nicht sicher ist, nochmals hergeleitet. / Diese Sequenz ist wie eines der Tiere, die nur in der Welt sind, um ein Beispiel für die Richtigkeit der darwinistischen Theorie abzugeben. Der Kino-Darwinismus ist aber weder richtig noch falsch.“ (Harun Farocki)

 

Nebeneinander und Nacheinander – Wiederholung und Variationen

In seiner Komposition aus fünf Bildstrecken, Tropen des Krieges (2011), findet man das Kriegsfilm-Genre auf zentrale Topoi verdichtet: das Kriechen am Boden, Schutzsuchen in der Erde; Kampf in der Luft, der Blick von oberhalb auf die Erde als Zielgebiet; das bewahrte Foto, einer Frau, der Geliebten, der Familie, eine Bilderinnerung der Heimat; Kommunikation zwischen Truppen und Befehlshabern; die Gesichter der Soldaten unter höchster Anspannung im Kampfgebiet. Das Nebeneinander derart zugeordneter Szenen aus Filmen über den Krieg – von All Quiet on the Western Front (1930) bis Saving Private Ryan (1998) und Pearl Harbor (2001) – gruppiert, rekombiniert sich immer neu, weil die Dauer der verschiedenen Kanäle variiert, in  unendlich scheinenden Konstellationen, so dass der Betrachter sich anfangs einer produktiven Überforderung ausgesetzt fühlen kann. Das Projekt Fressen und Fliegen (2008) dagegen, in 6-Kanal-Anordnung, versammelt Szenen aus 38 Spielfilmen – zwischen Fritz Langs letztem Stummfilm Spione (1928) und Anton Corbijns Control (2007 – um das Motiv des männlichen Selbstmörders in einer festgelegten Kombinatorik und bringt darin auf einzelnen Monitoren wiederholt auch die Filmtitel und zentrale Aussagen aus den Drehbuchsätzen ein. Im Verfahren „weicher Montage“ (Farocki) bedenkt die Installation nicht allein die zeitliche Anordnung ihrer Szenenausschnitte (der gewohnten Sehweise des Kinos entsprechend), sondern ebenso die räumliche – das Nebeneinander wie das Nacheinander der Bilder.

Bei Farocki reicht die bloße Aufeinanderfolge zweier Bildeinstellungen nicht aus, die Aufladung an Bedeutung, die in jedem einzelnen enthalten sind, freizusetzen. Dies geschieht vielmehr durch den „Chock“, welcher durch deren Wiederaufnahme und beständiges In-Umlauf-Versetzen mit anderen Bildern einsetzt.

Die Wiederholung – Iteration -, als Konzept, der wiederholte Durchlauf von Bildern in variierenden Kontexten, hat Farocki mit seiner Installation Umgießen (2010), dem einzigen Werk der Schau, das nicht Kino zitiert, sinnbildlich gefasst: Zu sehen ist die Aufführung einer Fluxus-Performance von Tomas Schmit, „Opus 1“, aus dem Jahr 1963 zu heutigen Bedingungen. Sie zeigt das  Umfüllen einer Wassermenge von Flasche zu Flasche, hier von einem Roboterarm ausgeführt, in beständiger Wiederholung, während bei jeder einzelnen Umfüllung ein unsichtbarer Anteil des Wassers verdunstet.

Im Begriff der Iteration scheint ein wichtiger Zugang zum Werk Farockis gefunden. Das Verfahren mehrfachen Wiederholens gleicher oder ähnlicher Handlungen zur Annäherung an eine Lösung, von Mathematikern „sukzessive Approximation“ genannt, scheint in seinen Bildanordnungen zugrunde zu liegen, bereits in seinem essayistischen Werk (Wie man sieht, 1986; Bilder der Welt und Inschrift des Krieges, 1988) ist die markante Technik der Antizipation von Motiven und ihrer Reprise in anderem Kontext auffindbar. Mit jeder Wiederholung eines Begriffs, so Jacques Derrida, verändere sich seine Bedeutung, jede Iteration füge dem ursprünglichen Begriff etwas hinzu und bereichere ihn. Dass nun jede Wiederholung eines Bildes in veränderten Bildanordnungen der benachbarten Kanäle eine Variation von dessen Bedeutung zur Folge hat, so etwas wie eine Perspektivverschiebung auf es hervorruft, führen Farockis Installationen vor Augen und lassen ihre Betrachtung zu einem immensen Erlebnis des Film-Sehens werden.