ray Filmmagazin » Themen » Heavy Metal
titane

Titane | Interview

Heavy Metal

| Pamela Jahn |
Genrekino der Sonderklasse: Julia Ducournau, Gewinnerin der Goldenen Palme in Cannes, im Gespräch über ihren Film „Titane“, über Autos, Frauen und Gewalt im Kino, und darüber, warum der zweite Film oftmals der schwerste ist.

Die wirkt immer noch ein bisschen aufgekratzt. Und ist gleichzeitig voll konzentriert. Vor allem aber extrem glücklich. Kaum drei Monate ist es her, dass ihr Film Titane in Cannes für Furore sorgte und die 37-jährige Regisseurin Festivalgeschichte schrieb. Nach Jane Campion, die 1993 für Das Piano mit dem Hauptpreis geehrt wurde, ist Julia Ducournau insgesamt erst die zweite Frau mit einer Goldenen Palme und die erste alleinige Palme d’Or-Gewinnerin überhaupt. Seit diesem unerwarteten Triumph blieb der Französin bisher kaum Zeit, sich an den Gedanken zu gewöhnen: „Für mich war bereits die Auswahl in den Internationalen Wettbewerb wie ein Traum, das große Los. Aber was jetzt passiert, ist absoluter Wahnsinn.“ Die ganze Welt scheint sich derzeit um Ducournau und ihren Film zu reißen, ein gigantischer Kinostart in den USA Anfang Oktober spricht für sich.

Aber wie kann es sein, dass ausgerechnet ein Body-Horror-Serienkiller-Thriller-Drama mit Sci-Fi-Allüren und nicht ohne Humor auf globaler Ebene derart Aufsehen erregt? Immerhin handelt es sich hier um einen Film, in dem eine junge Frau ein erotisches Verhältnis zu Autos pflegt, skrupellos mordet und sich mit einem spektakulären Nasenbruch eine neue Identität inklusive Ersatzvater verschafft. Ein solches Werk geht also, gelinde gesagt, zunächst einmal ein gewisses Risiko ein. Und doch hat Ducournau mit ihrem Film das scheinbar Unmögliche geschafft: Titane ist ungehemmtes, maßloses und kluges Genrekino, das sich in der Erinnerung festsetzt wie die Titan-Platte im Kopf der Hauptfigur. Die Bilder, die sie für ihre monströse Geschichte findet, sind oft ungemütlich, tun weh und weisen bei aller Krassheit dennoch stets eine tiefe Verletzlichkeit auf. Die atemberaubende Newcomerin Agathe Rousselle spielt diese junge Frau, die zunächst Alexia heißt und bald zu Adrien wird, als wahre Naturgewalt, die sich bis zum Schluss nicht wirklich fassen lässt. Aber auch Vincent Lindon als Ziehvater und Feuerwehrmann, der in Alexia seinen verlorenen Sohn gefunden zu haben glaubt, lässt hier ganz neue Facetten seiner Kunst zum Vorschein kommen.

Was Ducournau tief im Innern mit ihrer Hauptfigur teilt, ist die Unberechenbarkeit, mit der sie der Welt begegnet, die sie umgibt. Ihr erster Spielfilm Raw (Grave, 2016), in dem sich ein unscheinbares Mädchen in eine Kannibalin verwandelt, gab einen ersten Vorgeschmack darauf, was in der kompromisslosen Pariserin steckt. Titane liefert nun den ultimativen Beweis und wird wohl keinesfalls der letzte Film sein, mit dem sie das Kino im Sturm erobert.

 

Mögen Sie eigentlich Autos?
Julia Ducournau: Nein, ich mache mir überhaupt nichts aus Autos. Ich habe auch keinen Führerschein. Ich kann noch nicht mal richtig Fahrrad fahren. Deshalb laufe ich überall hin. Und es interessiert mich auch nicht, Autos zu filmen, wenn Sie das meinen. Es ging mir speziell darum, Autos in diesem Film auf eine bestimmte Art und Weise zu betrachten.

So wie Sie die Autos in „Titane“ filmen, hat es etwas Sinnliches, etwas Erotisches, ja fast etwas Menschliches.
Ja, das stimmt. In erster Linie habe ich versucht, einen Dialog herzustellen zwischen den Autos und Alexia, aber auch mit den anderen Tänzerinnen bei der Autoschau. Für mich sind Autos nur dann interessant, wenn man etwas auf sie projizieren kann. Ihnen etwas Menschliches zuzuschreiben, ist vielleicht etwas zu weit ausgeholt, aber definitiv etwas Lebendiges. Autos haben einen bestimmten Stellenwert in der Bildsprache, in der Filmgeschichte, aber auch in der Gesellschaft. Sie werden oftmals als Verlängerung der Männlichkeit gesehen. Jede Autowerbung im Fernsehen bestätigt das. Aber auch im Kino ist es nicht viel anders. Interessanterweise ist das Wort „Auto“ im Französischen weiblich, was ich ebenfalls faszinierend finde. Da gibt es jede Menge Raum für Fragen und Verwirrung.

Eine Verlängerung der Männlichkeit einerseits, aber im Fall von Alexia spielt auch das Patriarchat eine gewisse Rolle.
Ja, absolut. Und weil diese Art von Patriarchat die Frauen durch den männlichen Blick objektiviert, habe ich versucht, dieses Konzept im Fall von Alexia umzudrehen. Sie tanzt nicht einfach neben dem Auto oder liegt auf der Motorhaube wie die anderen Mädchen. Sie tanzt ganz bewusst mit dem Auto, was ihr eine gewisse Handlungsfreiheit einräumt und wodurch sie eine direkte Beziehung zu dem Wagen herstellt. Daraus entsteht eine intensive Verbindung. Und diese ganz spezielle Nähe zu Autos ist bereits seit ihrer Kindheit vorhanden, seit dem Autounfall. Und das ist wichtig zu verstehen, denn in dem Moment, wo sie direkt in die Kamera schaut, als sie mit dem Auto tanzt, fordert sie die Kontrolle über den Wagen für sich zurück. Es ist nicht länger das Auto, das sie zum Objekt macht, sondern umgekehrt. Sie bestimmt in dem Augenblick die Beziehung zwischen den beiden.

Die Sexszene treibt dieses Spiel schließlich auf den Höhepunkt.
Stimmt, aber auch hier geht es ja nicht nur um Sex, sondern zunächst einmal um die Kunst der Verführung. Es geht darum, wie das Auto sie anschaut und umgekehrt, wie sie sich dem Wagen nähert, die Scheinwerfer streichelt, die sie wie ein paar Augen betrachten. Hier kann man die Sinnlichkeit spüren, als würde es sich um ein lebendiges Wesen handeln, mit dem sie Sex hat.

Als Sie die Idee für den Film entwickelt haben, was war da der Ausgangspunkt, Alexia, das Auto oder Vincent Lindons Vaterfigur?
Zuerst kam die letzte Szene im Film, das war für mich der Ausgangspunkt. Es ist diese eine Szene, die ich vom ersten Moment an im Kopf hatte. Davon ausgehend habe ich dann die einzelnen Figuren und Handlungsstränge entwickelt und eine 180-Grad-Wendung vollzogen. Es war mir wichtig, den Film mit viel Licht und einem Gefühl von Hoffnung enden zu lassen. Auch mit einer neuen Art von Menschlichkeit und Liebe, mit einer ganz neuen Welt, in der auch das Monströse akzeptiert und nicht lediglich als das Andere und Andersartige verurteilt wird. Aber Alexia steht für mich in dieser Szene ganz konkret im Mittelpunkt. Also wenn sie mich so fragen, war sie meine erste Idee im Kopf und daraufhin habe ich ihre Figur und alles andere drum herum entwickelt.

Wie kompliziert ist der Schreibprozess, wenn man die Geschichte von hinten aufrollt und komplett von ihrem Ende aus konstruiert?
Alexias Figur war am schwersten zu schreiben, weil sie sich nicht greifen lässt und obendrein für eine Zeit lang auch nicht unbedingt sympathisch ist. Ich wollte unbedingt vermeiden, ihre Gewalt zu psychologisieren. Ich wollte sie in keiner Weise rechtfertigen. Das lag mir sehr am Herzen, weil ich denke, dass es in den meisten Filmen, in denen Gewalt von Frauen thematisiert wird, immer auf etwas hinausläuft, das moralisch nicht akzeptabel ist. Und das macht mich regelrecht wütend. Anderseits wollte ich Alexia vor diesem Vakuum bewahren, in dem Frauenfiguren immer als Opfer dargestellt werden. Ich glaube ihre Figur ist aus der Idee heraus entstanden, sie in keiner Weise zu beschränken, sondern ihr den Raum zu geben, in dem sie diejenige sein kann, die sie ist, ohne Wenn und Aber. Nur schreiben ließ sich das schwer. Bei Vincents Figur ging das viel schneller, weil man sich leichter mit ihm identifizieren kann. Die charakterliche Entwicklung seiner Figur ist verständlich. Er ist jemand, der einen schweren Verlust erfahren hat und nun trauert. Und so verrückt er sein mag, beängstigend und stur, anmaßend und fürsorglich zugleich, kann man doch nachvollziehen, wie und warum er so geworden ist, wie er ist.

Denken Sie, Ihr Film hat auf eine verquere Art etwas von einem Märchen?
Das ist interessant, dass Sie das fragen. Ich weiß nicht, ob Märchen das richtige Wort ist, aber der Mythos ist etwas, was für mich hier sehr präsent ist, diese Entwicklung von etwas Animalischem hin zu etwas Sakralem. Als ich über das Ende des Films nachdachte, hat mich das an die Geschichte von Uranus und Gaia erinnert, zwei griechische Götter – er der Gott des Himmels, sie die Göttin der Erde – die eine Familie von Giganten hervorbrachten, die extrem stark waren und versuchten, den Himmel zu regieren. Und die Szene ist in gewisser Hinsicht eine Anlehnung an die Legende. Dieser Gründungsmythos liegt mir näher als der Vergleich zum Märchen. Und das ist es, was mich hier am meisten inspiriert hat: mit dem Mythos zu spielen und ihn in eine andere Zeit, in eine andere Welt zu übertragen.

Ihr erster Spielfilm „Raw“ war ein Festivalhit und wurde international extrem gut aufgenommen. Sind Sie danach offenen Herzens an die Arbeit zu „Titane“ herangegangen, oder haben Sie den Druck des zweiten Films zu spüren gekommen?
Es war unheimlich schwer. Raw hatte einen enormen Teil meines Lebens eingenommen, und ich war mir durchaus der Erwartungen bewusst, die nach dem Film von außen an mich herangetragen wurden. Aber noch schlimmer waren meine eigenen Ansprüche an mich selbst. Ich bin schrecklich perfektionistisch. Und dann übt man schnell einen solchen Druck auf sich selbst aus, dass auf einmal gar nichts mehr geht. Und so ist es mir ergangen. Ich war wie gelähmt und brachte kein Wort zu Papier, ein ganzes Jahr lang. Ich habe mir keine Pause gegönnt und bin auch nicht auf Urlaub gefahren. Ich habe gearbeitet, nur dass ich nichts produziert habe. Es war schrecklich. Und je mehr man darüber nachdenkt, dass man etwas schaffen möchte, dass den anderen gefällt, umso tiefer fällt man. Ich hatte zudem große Angst, dass ich meinen zweiten Film nicht so toll finden würde wie den ersten. Ich war plötzlich richtig genervt von Raw, weil der Film immer noch zu präsent war, weil er mich nicht loslassen wollte. Irgendwann wurde mir dann alles zu viel und ich dachte mir: „Scheiß drauf, ich mache das jetzt. Ob es etwas wird oder nicht, ist mir egal.“

Und das hat funktioniert?
Nein, auch nicht gleich. Leider. Wenn die Leute immer von einem Blitzmoment reden, das ist alles Unsinn. Das gibt es nicht. So ein Film entsteht nicht von einem Tag auf den anderen. Auch kein Drehbuch. Ich versuche das auch immer Filmstudierenden zu erklären, um sie vor der Frustration zu bewahren, wenn ihnen das Schreiben schwerfällt. Das ist ein natürlicher Prozess, und da muss man keine Schuldgefühle haben. Es ist nun einmal nicht einfach, wenn man etwas schaffen möchte, das aus dem Kopf ebenso wie aus dem Herzen kommt.

Sie haben mit Agathe Rousselle eine atemberaubende Newcomerin gecastet. Wie haben Sie Vincent Lindon für die Rolle des Vaters gewinnen können. War er sofort dabei, oder mussten Sie ihn überreden?
Nein, gar nicht. Wir kennen uns schon eine ganze Weile, wir sind miteinander befreundet. Er hatte Raw gesehen und mochte den Film. Aber ich glaube, der ausschlaggebende Faktor war, dass er wusste, ich würde ihn im Film so zeigen, wie ich ihn sehe, und dass ich ihn anders sehe. Zu dem Zeitpunkt, als ich ihn darauf ansprach, ob er in Titane mitspielen würde, stand er gerade etwas zwischen den Stühlen. Er begann sich und seine Karriere zu hinterfragen. Und ich glaube, er wollte sich ein Stück weit neu erfinden, da kam ihm diese Rolle gerade recht. Ich schickte ihm das Drehbuch und meinte, ich würde mir wünschen, dass er die Rolle von Vincent übernimmt, dem Vater von Adrien, weil ich das Gefühl hatte, dass es da eine Synchronizität gab. Und er hat sofort zugesagt.

Ich habe gelesen, dass er vor den Tanzszenen die größte Angst hatte.
Ja, stimmt. Aber er wusste, dass es sich nicht vermeiden ließ, also hat er sie tapfer durchgestanden.

Sie haben vorhin sehr leidenschaftlich über die Darstellung von Gewalt in Ihrem Film gesprochen. Das ist offensichtlich ein Thema, das Sie sehr beschäftigt.
Das tut es. Und es sollte uns alle beschäftigen. Es ist ein Thema, dass uns alle betrifft.

Inwieweit wollen Sie die Zuschauer mit Ihren Filmen provozieren? Oder wenn nicht provozieren, was dann?
Ich denke, Provokation ist willkürlich. Und ich hoffe, dass meine Filme sich davon abheben. Filmemacher, die auf Provokation aus sind, wollen meistens nur ihren Spaß haben mit der Reaktion, die sie hervorrufen, unabhängig davon, ob es der Entwicklung der Figuren dient oder nicht. Und mich ist das Limit immer dann erreicht, wenn die Provokation nicht auf der Ebene der Figuren stattfindet. Sobald ich das Gefühl habe, die Figur aus dem Auge zu verlieren und lediglich aus Spaß an der Sache zu provozieren, lasse ich es bleiben.

Wie geht es Ihnen persönlich mit Horrorfilmen? Können Sie sich noch fürchten?
Nein, ich habe keine Angst bei Horrorfilmen. Ganz ehrlich, ich schaue viele Horrorfilme, gute und schlechte, aber nicht, weil ich mich gruseln möchte, sondern weil sie mich unterhalten. Das ist so, wie ich als kleines Mädchen Zeichentrickfilme geschaut habe. Natürlich bin ich heute voreingenommen, weil ich selber Filme mache und die Tricks kenne. Aber ich habe Horrorfilme immer gemocht, weil ich fand, dass sie bestimme Themen und Probleme zum Ausdruck brachten, die tabu waren. Und dagegen habe ich mich schon als Kind immer gewehrt. Ich konnte es nicht ausstehen, wenn Dinge unausgesprochen blieben. Und ich hoffe, das sieht man auch in meinen Filmen. Dann habe ich zumindest etwas richtig gemacht.