Zum 70. Geburtstag des großen, eigenwilligen Schriftstellers am
6. Dezember: Peter Handke und der Film.
„Man hat nirgendwo so oft das Gefühl der Unendlichkeit wie im Kino“ (Peter Handke)
Dass der Schriftsteller sein ganzes Autorenformat seit Mitte der sechziger Jahre neben Prosa und Theaterstücken auch in Gebrauchstexten des Feuilletons, der Kritik gezeigt hat, wurde bereits 1972 evident, als eine Sammlung unter dem ironisch provokanten Titel „Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms“ erschien – inzwischen sind diese Texte wieder zugänglich in dem Band „Meine Ortstafeln/Meine Zeittafeln 1967-2007“ (2007), zum Teil auch in „Mündliches und Schriftliches. Zu Büchern, Bildern und Filmen“ (2002). In dem Essay „Theater und Film: Das Elend des Vergleichens“ (1968) liest man eine erstaunlich kenntnisreiche Reflexion zum damaligen Stand filmischer Erzählweisen: „Ein Filmbild ist kein unschuldiges Bild mehr, es ist, durch die Geschichte aller Filmbilder vor diesem Bild, eine Einstellung geworden […]. Die Geschichte der laufenden Bilder, das ist wichtig zu sagen, erweist sich immer mehr als die Geschichte der Bildung einer genormten (und auch normativen!) filmischen Syntax.“ Selbst „Godards Filmgrammatik“ habe sich schon so sehr „gesetzt“, dass sie zur Produktion eines Genres „Godardfilm“ fertig verwendbar sei. Als Ausweg des Films aus diesem Dilemma fordert der Autor, formal avantgardistisch, „daß die Syntax des Films dermaßen abstrahiert erscheint, daß sie selber als der Film gezeigt wird.“ Handke nennt u.a. Truffauts La marie était en noir / Die Braut trug schwarz, Jean-Marie Straubs Chronik der Anna Magdalena Bach, Klaus Lemkes Filmdebüt 48 Stunden bis Acapulco und auch noch Michael Snows Experimentalopus Wavelength (alle von 1967) als Beispiele dieser Tendenz, gemäß der es darum gehen müsse, mit dem Bild auch der Künstlichkeit des Bildes, der Gemachtheit des Films Sichtbarkeit zu verleihen. Der Aufsatz „Probleme werden im Film zu einem Genre“ aus demselben Jahr lassen ebenso deutlich Handkes Sinn für die Gesetze des Films, dessen eingefahrenen Regeln und Erzählmuster erkennen – „[G]erade die Problemfilme sind die unehrlichsten Genrefilme, weil sie, im Gegensatz zu Kriminalfilmen und so weiter, so entsetzlich wirklich und natürlich tun, weil sie Spielregeln einfach verwenden, statt sie kenntlich zu machen, weil sie übersehen und übersehen lassen, daß materielle Probleme, gefilmt, erst einmal Bildphrasen sind: ein Film über die Liebe, ein Film über den Schmerz, ein Film über den Tod ist ein Genrefilm, der Tod hat, wenn er verfilmt wird, Spielregeln: das zeigen die meisten dieser Filme nicht.“ Mit seinen TV- und Kinofilmarbeiten, beginnend mit Chronik der laufenden Ereignisse (BRD 1970) – der Titel ist der einer sowjetischen Untergrundzeitung – sollte Handke hingegen zu den eigenen Genre- und Regelerfahrungen Distanz einnehmen. Die Allegorie vom Leben in der Bundesrepublik, gedreht über Wuppertal und in und um Köln, eine Fernseharbeit voller Protestenergie gegen die Hoheitsmacht des Fernsehens, basiere auf Dashiell Hammetts „The Glass Key“ [1931; verfilmt von Stuart Heisler, US 1942]. Es heißt, Handke habe sich bei der Arbeit am Drehbuch vorgestellt, der Film existiere und er selbst erzähle ihn nur nach. „Die Chronik ist die Reflexion über Romanfiguren und Ereignisse, die Reflexion über Reflexionen am Bildschirm. Es sei ein Film im Konjunktiv“, so Heiko R. Blum, 1971 zur TV-Ausstrahlung, „einer der eigenwilligsten, rohesten und auf eine fremde Art lyrischer Film, unter denen, die man im Ersten Programm und am telegenen Montagabend zu sehen bekommt. Daß Handke Straub in einem Atemzug mit Truffaut und Godard nennt, ist dem, der Straub mag, und Handke ansieht, sofort verständlich.“
Erstaunliche Verkettungen
Sprachkritischer Impuls und musterhaftes Erkennen der Regeln vereinigen sich bei Handke zu einer lockeren Supervision des Kinogeschehens quer durch alle Genres und Qualitätskategorien, in einer Hochphase ästhetischer Neuerungen in den sechziger Jahren. Zugleich spürt man die Lust des Autors an den trivialen Erzählungen des Kinos, die das Einzigartige im konventionellen Gerüst umso deutlicher hervortreten lassen. Und schließlich bedeutet der Besuch des Durchschnittskinos jener Jahre autoriell verbrachte Lebenszeit, Sinneseindruck, Stimulus, doch auch ein vulgäre Schaulüste bedienendes Kommerzprodukt, wie „überbildert“ und „verplappert“ mit Klischees auch immer, landet zunächst auf derselben ‚Festplatte‘ wie ein Phänomen des Weltkinos, und so erinnert sich der Schriftsteller nicht nur an John Ford und Antonioni, sondern ebenso an Des Teufels nackte Tochter wie an Sexy Gang oder den japanischen Krimi Der Mörder mit den Mandelaugen, in welchem er Handlungsstränge aus „No Orchids for Mrs. Blandish“ (1939) von James Hadley Chase wiedererkennt. Erstaunliche Verkettungen. Handke sieht im selben Kino Heubodengeflüster von Rolf Olsen und Das sündige Dorf, an dessen Regisseur er sich zu erinnern glaubt, Werner Jacobs, weil er von diesem dort auch schon einen Jerry-Cotton-Film gesehen habe. Das klingt überaus bewandert auf dem Gebiet eines Genres, dem heute hochgradiger Trash-Kult-Status beigemessen werden dürfte – zu Texten über ein Kino, das in dieser Breite angeschaut und zum Gegenstand seriöser Beschreibung ohne jede Herablassung wird, fallen mir heute neben ein paar Cinephilen-Blogs nur Namen vereinzelter Filmkritiker-Autoren, zuvörderst Peter Nau oder Rainer Knepperges, ein („das Verachtete oder auch nur Unbeachtete achten als eine der moralischen Haltungen dieses Schriftstellers“ – liest man bei Thomas Aigner über Peter Handke). „Das Wunderbarste am Kino“, so Handke 1992, sei ihm seit jeher die „Mischkultur, die allseits offene, menschenfreundliche, herzerwärmende“.
Im selben Text, „Vorläufige Bemerkungen zu Landkinos und Heimatfilmen“ (1968) über Kinoerfahrungen im südlichen Burgenland („Durch die Umstände veranlaßt, kam ich nicht umhin, jeden Film anzuschauen, den ich noch nicht gesehen hatte, wenn nicht das jeweilige Kino gar zu weit entfernt war.“ Selten ist wohl eine unwiderleglichere Erklärung für das Kinogehen gefunden worden) vermag Handke bei dem Gedanken an das Theater im Film als eine filmische Methode Karl Valentin wie auch Jean-Marie Straub (Der Bräutigam, die Komödiantin und der Zuhälter, 1968) einzubringen. Anscheinend war er nie der wissende, intellektuelle Großstadtkritiker, der das universitäre Vokabular der Kritischen Theorie applizierte, vielmehr ein Geistesverwandter jener sensibilistischen Schule, wie sie seinerzeit an der Münchner Hochschule für Film und Fernsehen gedieh; die frühe Kooperation mit Wim Wenders (seit dessen Kurzfilm 3 amerikanische LP’s , BRD 1969, Buch: Peter Handke – ein Gespräch über die gehörten Musikstücke beim Autofahren) bezeugt es (längst auch zu einem Gegenstand der Literaturwissenschaft avanciert in Titeln wie „Mit den Augen des richtigen Wortes. Wahrnehmung und Kommunikation im Werk Wim Wenders und Peter Handkes“, eine Dissertation von Carlo Avventi, 2004).
Beide, Handke und Wenders, vereint die Suche nach dem poetischen bzw. poetisierenden Blick. Durch das Schreib- und Bildexerzitium ihres verfeinerten Wahrnehmungs- und Empfindungsvermögens, das sich dem Alltag als „Augenstoff“ widmet (so bezeichnet in: „Die Lehre der Sainte-Victoire“, 1980, ausgehend von Überlegungen zu Paul Cézannes Malerei, ein Text, in dem man wohl am ehesten eine Poetik Handkes angelegt findet), sind sie anscheinend bereit, ein romantisches Erbe anzutreten. Falsche Bewegung (BRD 1975, Wim Wenders, Buch: Peter Handke, frei nach Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“) gehört in diesen Kontext. Zudem lässt sich (im Schriftgutarchiv der Deutschen Kinemathek/Filmmuseum Berlin) ein – offenbar unrealisierter – Drehbuch-Entwurf von Wim Wenders (datiert: New York, Februar/März 1982) finden zu einem Spielfilm in Cinemascope, 35 mm, Farbe, Stereoton, unter dem Titel „Langsame Heimkehr“, der nach Peter Handkes Tetralogie: „Langsame Heimkehr“/ „Die Lehre der Sainte-Victoire“ / „Kindergeschichte“ und „Über die Dörfer“ (1979-1981) geschrieben ist. Das Typoskript enthält wenige Angaben zu Form und Bild auf der linken Seite, gegenüber einer fast durchgehenden, stetigen Erzählerstimme nach Handkes Text auf der vollgeschriebenen rechten Hälfte. In Wenders‘ Vorwort zur Methode (erkennbar im Sinne Handkes), auf der Suche nach einer Form für das Erzählen dieses Films, heißt es: „Nicht eine Form und eine Sprache nehmen, DAS KINO, und zusehen, wie sich das ERZÄHLTE darin ausnimmt; statt dessen das ERZÄHLEN ernst nehmen und ihm in der Welt der Bilder und Töne eine neue Form er-finden; die Regeln des Kinos aufheben und neue Regeln aufstellen lassen vom Erzählen selbst. Es erzählt von Dingen und Vorgängen, die noch nicht beschrieben worden sind: also auch im Kino eine Form finden, mit der noch nicht beschrieben worden ist. Und auch das Erzählte nicht bloß ab-schreiben, ab-bilden, sondern sich in diese zu erfindenden Bilder und Töne einrichten lassen, ohne daß es Schaden nimmt, so daß das Erzählte bleibt, und daß gleichzeitig in den Bildern und Tönen ein neues Erzählen entsteht.“ (Motto des Drehbuchs: „Es steht schlecht. Man muß sich beeilen, wenn man noch etwas sehen will. Alles verschwindet.“ Paul Cézanne in einem Brief, zitiert in „Die Lehre der Sainte-Victoire“)
Von Engeln und Kindern
„Als das Kind Kind war, warf es einen Stock als Lanze gegen den Baum, und sie zittert da heute noch.“ (Der Himmel über Berlin/Les ailes du désir, BRD/F 1986/87, Wim Wenders, Drehbuch: Peter Handke) Einzig die Kinder vermögen die Engel auf der Erde zu erkennen, sie haben noch den unverstellten Blick bewahrt. Für Wenders‘ Film um Grenzerfahrungen der Liebe, der mauergeteilten Stadt, Wirklichkeit und Traum, Physik und Geist hatte Peter Handke den Chronisten der Menschheitsgeschichte, Homer, in den Film gebracht, verkörpert von Curt Bois als einen Greis, „so alt wie das Kino“ (Wenders). Die poetische Sprache der Engel, auch die Stimme Homers, des Zeitreisenden wirken im Film ebenso enthoben wie monolithisch – Homer/Curt Bois: „Wenn ich aufgebe, dann wird die Menschheit ihren Erzähler verlieren. Und hat die Menschheit einmal ihren Erzähler verloren, so hat sie auch ihre Kindschaft verloren.“
„In der Nacht habe ich mir in der »Lupe« am Kurfürstendamm wieder Peckinpahs Sacramento (Ride the high country) angeschaut. Auf diesen unendlich schönen, ruhigen und traurigen Film, in dem man aufatmen und schauen konnte, reagierten die linken Nachtvorstellungsbesucher, die blind mit ihren elendblöden, lauten Zicken in die Nachtvorstellung geraten waren, mit besoffenem Grölen, Brüllen, Schreien. Sie waren gar nicht mehr fähig, was zu SEHEN, sie reagierten nur dumpf auf Reizwörter, wie die Meerschweinchen. Mein Wunsch: daß man sie zusammentun würde, die linke Scheiße und die rechte Scheiße, die liberale Scheiße dazu, und eine Bombe drauf schmeißen.“ („Dummheit und Unendlichkeit“, 1969).
„Was für ein Ding war mir das Kino einmal?“ Dieses Fragezeichen ließe sich in einen tiefen Seufzer übersetzen. Als Handke einmal auf John Fords späten Western The Man Who Shot Liberty Valance (1962) zu sprechen kommt, erzählt er zugleich von einem verlorenen Kino in einem Grazer Vorort, das diesen Film nur verstümmelt zeigte, weshalb der damalige Student zunächst gar nicht merkte, dass John Wayne der Mann war, der Liberty Valance erschoss, eine Tat, für die aber James Stewart den Ruhm erntete. Immer wieder hat der Autor das Kino in Zuständen profaner Erleuchtung verlassen und auf dem Heimweg an sich wahrgenommen: als einen veränderten Weltblick, Erprobung eines anderen Selbstgefühls, eine Vision von Neubeginn – „Ja, nach The Man Who Shot Liberty Valance bekam ich Appetit auf die Welt: den Wind, den Asphalt, die Jahreszeiten, die Bahnhöfe […]. Noch nie auch […] war die Nacht mir so wirklich erschienen, so elementar, und ich mir mit ihr. Damals mit La Notte erfuhr ich zum ersten Mal, weit über alle die Selbstgefühle hinaus, so etwas wie ein Weltgefühl. […] Mit nichts auf der Welt hat es für mich solche Heimwege gegeben zuzeiten nach dem Kino, nach der Reise nach Tokyo von Ozu, nach Andrej Rubljow von Tarkowski, nach Mouchette von Bresson, nach El Nazarin von Buñuel.“ („Appetit auf die Welt. Rede eines Zuschauers über ein Ding namens Kino“, Viennale-Eröffnungsvortrag von Peter Handke im Wiener Apollo-Kino am 16.10.1992). Handkes Fähigkeit, eine Filmszene intensiv zu beschreiben, wie die aus Pulp Fiction (US 1994, Quentin Tarantino) in „Die Bilder sind nicht am Ende“ (1995), setzt den Leser in sympathisierendes Erstaunen, wenn der Autor hier eine „gar nicht so von Rohmer entfernte Subtilität und zugleich Beiläufigkeit der Rede“ feststellt.
The Moviegoer
Handkes Texte aus den neunziger Jahren zum Film sind in erster Linie aus Vorträgen entstanden: so etwa eine ausgiebige Lobrede über den Filmkritiker und –dozenten Helmut Färber, in Handkes Worten ein „Sehdenker“ und „Erstbesteiger“, anlässlich der Verleihung des Petrarca-Preises, „ohne ihn hätte ich ‚Der kurze Brief zum langen Abschied‘ nicht geschrieben“ (aufgrund Färbers damaliger Veranstaltungen über John Fords Werk vermutlich). Handke würdigt den großen Abbas Kiarostami („Die Geschichte von Hossein und Tahereh“, Frankfurter Rundschau, 22.9.1995), in einem anderen Aufsatz widmet er sich am Beispiel Antigone (D/F 1992) der Eigenheit der Filme Jean-Marie Straubs und Danièle Huillets, entdeckt die „Inbrunst der Sprecher“, ihr rhythmisches Stocken, dann die Plötzlichkeit, mit welcher der Satz eines Dritten, eines Boten Handlung intoniert, die Aktionen unsichtbar. Zu erzählen ist daneben oft, wie es mit dem „Kinogeher“ weiterging: „Durch diese Antigone, nach der ich erst einmal nichts reden wollte, nur gehen, gehen und gehen, hatte ich einen der schönsten von allen den zahllosen Kinoheimwegen: Weit war er schon so, von der rue Mouffetard mitten in Paris zum mitternächtlichen Vorort hinaus – mit dem Film wurde er schön-weit. Und die Nacht erschien mir eben durch und durch jung, mitsamt den von Straße zu Straße parkenden, gleichsam tierhaften Autos: Kinonacht; Kinotiernacht.“ („Die Zeit“, 13.11.1992) Wie und wo hat man einen Film gesehen, hat er einen in die Wirklichkeit entlassen und sich im Gehen, mnemotechnisch, eingelagert – bleibende Eindrücke.
Handke hat sich extensiv Filme angeschaut und sich um kulturelle ‚Verfehlungen‘ nicht gekümmert, später, im Paris der neunziger Jahre, nimmt er diese Angewohnheit wohl wieder auf, an Nachmittagen, wenn es draußen noch hell ist. Walter Percys Roman „The Moviegoer“ hat Peter Handke 1980 übersetzt unter dem Titel „Kinogeher“ und damit wohl auch sich selbst charakterisiert – im Unterschied zum Typus des Cineasten, jenem filmangefressenen kritischen Geist, der so selten zufriedenzustellen und noch viel seltener in Erstaunen zu versetzen ist und auf seinen festen persönlichen Kanon nichts kommen lässt, bleibt der Autor dem Status des Amateurs treu, als Betrachter und Zeuge, der direkten Kontakt mit dem Medium nicht scheut, Typ eines modernen Flaneurs, der sich leer zu machen versteht für ein offenes Schauen, nicht dem Zwang zum Ich-setzenden Urteilen unterliegt. „Man muss ins Schauen kommen, so wie man ins Gehen kommt“ sagte Peter Handke zuletzt in einem Gespräch mit Ulrich Greiner (in „Zeit Literatur“, No. 48, November 2010): „Indem man geht, geht man ja noch nicht, man kommt ins Gehen. Und wenn man schaut, schaut man ja noch nicht, man kommt ins Schauen. Wie Goethe sagt: Aus der Anschauung kommt die Theorie.“ In jeder Erzählung müsse es eine Offenbarung geben. „Man muss etwas anderes sehen können als das Kanonisierte“, und: „Erzählen heißt Offenbarung, auch für den, der erzählt.“ Überraschung sei nicht stark genug. So etwas wäre auf die Filmarbeit übertragen vorzustellen.
Atmosphäre gerahmter Stillleben
„Eine Frau bricht ohne ersichtlichen Grund nach einer Liebesnacht mit ihrem soeben von einer Auslandsreise zurückgekehrten Mann und beginnt mit ihrem Kind das Alleinleben.“ So ist der Plot des Films Die linkshändige Frau einmal in einem Satz gefasst (Eckhart Schmidt, „Deutsche Zeitung“, Nr. 33, 11.8.1978), aus dem, nebenher, auch erhellt die undurchdringliche Fremdheit zwischen kärgster Handlungsverdichtung und einem Filmwerk aus Bildern und Tönen. Der Schriftsteller, der für den Film im allgemeinen und für den Western-Regisseur John Ford im besonderen schwärmt, verfilmt 1977 sein eigenes Buch, „Die linkshändige Frau“. Der Film wird offizieller deutscher Beitrag für das Festival in Cannes, ein literarischer, bereits in Gedanken umschriebener Film, an Handkes Wohnort, dem Pariser Vorort Clamart gedreht für das Kino, mit der Schauspieleravantgarde der Berliner Schaubühne: Edith Clever, Bruno Ganz, Angela Winkler sowie dem bildnerischen Vermögen des Kameramanns Robby Müller. Während die französische Kritik den Film schätzt – „une leçon de morale“, heißt es in „Le Monde“ (24.10.1978), es sei das Gegenteil eines traurigen Films, an dessen Ende man Lust verspüre, seine eigene Kraft zu erproben -, reagiert man in der Bundesrepublik mit viel Unverständnis und Häme gegenüber seiner kultivierten Empfindsamkeit, die als Preziosität gegeißelt wird und der man allenfalls eine ‚Moral der Wahrnehmung‘ attestiert. Handkes Erzählung scheint Kamerafahrten und Sucherausschnitte zu beschreiben, klar und plastisch, mithin ‚filmisch‘ zu beobachten. Doch die im Text so präzis herauspräparierten Gesten, im Filmbild, in die Alltagsbewegung, aus der heraus sie entdeckt wurden, zurückversetzt, verschwinden sie aus den Augen in visuelle Anonymität. Zwischen stark ‚geschriebenen‘, theaterhaften Dialogen herrscht nachhaltig Wortlosigkeit; die Einstellungen der Intérieurs, leer, enthoben, stilsicher atmen sie mitunter die Atmosphäre gerahmter Stilleben, exponiert ist der Sinn für Lichtzustände, Dämmerungen, für die Töne der Außenwelt, vom Bahndamm her rauschen die Züge. „Handke erzählt seine Geschichte nicht, indem er einem Handlungsfaden folgt, sondern indem er, allerdings streng ausgewählte, Einzelereignisse aneinanderreiht,“ gibt der Filmemacher Hellmuth Costard zu bedenken. „Von diesen Ereignissen verlangt er, sie sollen, ‚bloße, reine Geschehnisse der größtmöglichen, umfassenden Alltäglichkeit‘ sein.“ Von diesem werde aber erwartet, dass sie bei den Akteuren von einem starken Erleben begleitet sind, welches sich auf den Zuschauer übertragen möge. „Diese Übertragung funktioniert jedoch im Film nicht.“ („Der Spiegel“, 46, 7.11.1977) Seine Reportage vom Besuch bei den Dreharbeiten zur Linkshändigen Frau für das „Spiegel“–Feuilleton (Nr. 19, 2.5.1977) schließt Siegfried Schober mit einem Wort des Autors: „‘Was ich eigentlich anstrebe, ist die intensivste Monotonie. Wenn etwas ganz intensiv ist, dann ist es so, als stehe es still‘, sagt er und bricht ab. Dann: ‚Ich will, daß das, was ich mache, im Grunde die ganze Welt umfaßt, und den Menschen ganz enthält. Es soll mythisch sein. Mythisch!‘“
„Ein alternder Kalligraph, ein schwarzer Soldat, ein melancholischer Spieler, eine junge Frau: Eines Tages treffen sie sich auf ihrem Weg von der Stadt in die Natur und bleiben zusammen: gehen, schauen, reden, sinnieren, träumen. Alle haben sie etwas aufgegeben…“ (Norbert Grob). Märchenhaftes Sich-eine-Geschichte-Finden aus einem Zusammenkommen von vier Personen, die sich zur gleichen Zeit auf den Weg machen. In Handkes Film Die Abwesenheit (F/D/GB 1992) wandern seine Helden in einer gestellten Pilgerreise durch Landschaften Südfrankreichs, Nordspaniens, in einem Film der Fragmente, „der arkadische Szenerien mit dem Krach der technischen Zivilisation verfremdet“ (Thomas Koebner), und nie wird durch Worte, hier als Monologe angelegt, allein nur durch die Vorwärtsbewegung erzählerischer Sinn gestiftet, bis der Autor diese Expedition auf der Suche ziellos abbrechen lässt.
Die alten Grimassen
In „Das Gewicht der Welt. Ein Journal (November 1975-März 1977)“, einer Sammlung von Prosafragmenten aus dem Spektrum zwischen Arbeitsjournal und intimem Tagebuch, ein Buch, das Handke auch gern „Phantasie durch Ziellosigkeit“ genannt hätte, blitzt das Kino auf in vermischten Eindrücken, Tagesnotizen, Selbstwahrnehmungen, kostbar geretteten Alltagserinnerungen, situativem Wirklichkeitssinn: „Man sieht einen Film oder liest ein Buch und fühlt sich nachher schön ernst und entschlossen, mit jedem umzugehen, aber sowie man zu reden anfängt, andre Leute trifft, zieht man wieder nur die alten Grimassen“ / „Kleine weiße Wolken zogen schnell vorbei hinter Notre Dame in einem alten Film von Jean Renoir, und ich dachte: Vor über vierzig Jahren sind also diese Wolken da gezogen“ / „Ein Schnitt im Film, den ich erlebte wie einen Schußknall“ / „Gerührt ging ich aus dem Kino, und schon störte mich der weiche Hintern der Frau, die vor mir ging“ / „Wie schon ein Film genügt (»Taxi Driver«), und es entsteht zwischen »guten Bekannten« ein Gespräch, in dem sie plötzlich merken, was sie schon am Anfang ihrer Bekanntschaft eigentlich fühlten, ohne davon wissen zu wollen: daß sie nichts gemein haben und einander auf immer fremd, ja feind bleiben werden“ / „Mein Kinogehen, das eine Sucht geworden ist: nach fast jedem Film Lethargie und Hoffnungslosigkeit; ein Katzenjammergefühl, daß ich und alle um mich herum nichts als sterbliche Hüllen seien (wir schleichen uns mit hängenden Köpfen weg) – und doch werde ich tags darauf schon wieder unruhig, wenn »meine Kinozeit« naht.“
Thomas Bloch, Handkes Kunstfigur seiner Erzählung Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (BRD 1971/72, Wim Wenders), treibt sich herum und verkriecht sich durch eine Art ‚Noteingang‘: „Im Kino drinnen atmete er auf.“ Hier kommt er für kurze Zeit zur Ruhe, der Druck der Außenwelt lässt nach, wenigstens im Kino, in dem sich eine andere Form der Gegenwart findet, scheint er aufgehoben. Auch der Ich-Erzähler in Handkes „Der kurze Brief zum langen Abschied“ (1972), auf Entdeckungsreise durch ein erzähltes Amerika, mit Gottfried Kellers „Grünem Heinrich“ als Lektüre im Gepäck, in einem Road Movie-Text, verfilmt von Herbert Vesely (UA 1978, ZDF), beschreibt Kinoerfahrungen, einen Tarzanfilm mit Johnny Weismüller oder auch The Iron Horse (1924, ohne Credit: John Ford) vom Bau der transkontinentalen Eisenbahn, doch die Filme, die der Reisende sieht, rauben ihm eher den Atem, als dass sie ihn Schauen machten, so kann er keine „Distanz zu sich selbst“ gewinnen. Dann verspürt der Erzähler beim Sehen von John Fords Young Mr. Lincoln (1939) aber eine „Stunde der wahren Empfindung“ und beschreibt das Geschaute, wie man die schönsten Filme auch nur beschreiben sollte. Am Schluss besucht er mit Judith, seiner Frau, den alten Regisseur in seinem Haus bei Los Angeles. Im Streit hatten sie einander verfolgt und wiedergefunden, nun können sie dem Hollywood-Titan, einem gütigen, ernsten Mann mit einer Augenklappe, zutraulich Fragen stellen. Im Verlauf des Gesprächs sagt Ford, in seinen Filmen sei alles lebenswahr, wirklich passiert. Und auch Judith versichert ihm im Gegenzug, dass von ihrer und ihres Mannes Geschichte alles wirklich geschehen sei. Beide, John Ford und Peter Handke, haben das Leben verdichtet und die Wahrheit erzählt.