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Stepne
Stepne

Filmfestival

Herausragendes und Überlanges

| Kirsten Liese |
Eindrücke vom 76. Locarno Filmfestival

Eine schlammige Straße gesäumt von dürren Bäumen, Ödnis soweit das Auge reicht. In einem Dorf liegt eine alte Frau im Sterben. Ihr zurückgekehrter Sohn sinniert über Lebensentscheidungen, Trauergäste erinnern sich an entbehrungsreiche Hungerzeiten und singen schwermütige Lieder. Es ereignet sich nicht viel in dem ukrainischen Beitrag Stepne, in den auch deutsche Fördergelder geflossen sind, aber sehr dicht vermittelt er ein bedrückendes Bild von dem Leben in Armut an einem einsamen Ort. Ein größerer Kontrast zwischen ihm und dem schönen Locarno mit seinem idyllischen Lago Maggiore und dem schönen Bergpanorama ließe sich wohl kaum denken.

Um die Produktionen aus der Ukraine ist seit der russischen Invasion ein großer Wettbewerb unter internationalen Festivals ausgebrochen, während sich das vor wenigen Jahren noch viel beachtete russische Kino ausgesperrt sieht. Dass sich mit Locarno eines der kleineren die Weltpremiere dieser dichten Erzählung von Maryna Vroda sichern konnte, die verdient den Preis für die beste Regie gewann, erscheint vor diesem Hintergrund bemerkenswert. Insbesondere, da sich das von Not, Resignation und Brutalität geprägte Porträt einer postsowjetischen Gesellschaft als einer der besten Filme des gesamten Festivals empfahl.

Eine kaputte Geige ist das Einzige, was Anatoliy aus dem Nachlass der Mutter zur Erinnerung bleibt, die übrige wertlose Habe verschenkt er. Alles muss raus, das Haus der Verstorbenen erwirbt ein reicher Investor. Nur den armen treuen Hund der Verstorbenen will niemand haben, „ausgedient“ hat er, zu spät überkommt den Erben sein Mitleid. Als er das Tier ruft, ertönt aus dem Off ein Schuss, ein schrecklicher Moment in dem sonst so leisen Film.

Insgesamt gab sich Locarno sehr politisch. Gleich mehrere Beiträge, zwei darunter in Portugal angesiedelt (Baan, Manga D’Terra), widmeten sich Themen wie Flucht, Migration und Rassismus, bescherten aber angesichts von dramaturgischen Schwächen, abgenutzten Bildern und Redundanzen keine allzu große Kunst. Insbesondere der französische Dokumentarfilm Nuit obscure – Au revoir ici, n’importe où um marokkanische Jugendliche, die um jeden Preis aus ihrer spanischen Enklave nach Europa gelangen wollen (Lobende Erwähnung der Jury), trägt angesichts solcher Mängel nicht die viel zu lange Laufzeit von drei Stunden.

Am meisten überzeugte zu dieser Thematik  das jüngste Werk des mittlerweile 87-jährigen Briten Ken Loach The Old Oak, ausgezeichnet mit dem UBS Publikumspreis, das freilich schon in Cannes seine Weltpremiere erlebte, in Locarno dafür auf der berühmten Piazza Grande lief, auf der sich bei schönem Wetter schon mal 8000 Zuschauer einfinden. Der Besitzer des titelgebenden Pubs steht im Zentrum des in einer ehemaligen Bergarbeiterstadt im Norden Englands angesiedelten Dramas, in der mit der Ankunft syrischer Flüchtlinge soziale Spannungen einhergehen. Mit großem Idealismus versucht der Mann zwischen Einheimischen und Neuankömmlingen zu vermitteln, seine gut gemeinten Versuche bringen jedoch selbst alte Freunde gegen ihn auf. Die Qualität des Films liegt in seiner differenzierten Sicht auf die wirtschaftlich gebeutelten Arbeiter, die der Regisseur keineswegs pauschal verurteilt.

Dass sich auf der beliebten Piazza in dem diesem Sommer nur wenig Prominenz einfand, war freilich dem Streik in Hollywood geschuldet. Zumindest kam der Schauspieler Stellan Skarsgård an den Lago Maggiore, seinen Preis, den Leopard Club Award, nahm er aus Solidarität zu all jenen, die faire Mindestlöhne fordern, aber nicht entgegen.

Für den Wettbewerb kam immerhin mit dem mehrfach ausgezeichneten Regisseur Radu Jude ein namhafter Vertreter des rumänischen Kinos. Scharfsinnig legt er in seinem Beitrag Do Not Expect Too Much of the End of the World (Spezialpreis der Jury) die Verlogenheiten eines Unternehmens offen, das sich mit einem Video für sicheren Arbeitsschutz humanitär inszenieren will, seine eigenen Angestellten aber gnadenlos ausbeutet. Mit 163 Minuten ist zwar auch sein Film zu lang, aber ein starker Gastauftritt der wie immer grandiosen Nina Hoss als berechnender Geschäftsfrau bescheren sehenswerte Momente. Zudem setzt Jude die langen Autofahrten seiner Protagonistin, eine übermüdete Casting-Agentin, mit einigen kurzen Ausschnitten gekonnt in Bezug zu einem älteren bedeutenden, aber im Westen wohl weniger bekannten Werk der rumänischen Filmgeschichte aus dem Jahr 1981 von Lucian Bratu, das man gerne einmal vollständig sehen würde: Angela merge mai departe, Porträt einer selbstbewussten, in damaligen Zeiten als Frau diskriminierten Taxifahrerin. Die Hauptdarstellerin dieses Road Movies, Dorina Lazar, ist übrigens als Nebenfigur unter den Klienten der Casting-Agentin im Hauptfilm noch einmal als nunmehr alte Frau vor die Kamera getreten. Das gibt dem Film einen weiteren ganz eigenen Reiz.

Apropos: Produktionen mit langer Laufzeit von zweieinhalb bis drei Stunden standen in der 76. Ausgabe des Festivals generell im Trend. Ein großes Risiko, tragen doch nur wenige Meisterwerke eine so lange Laufzeit wie Angelopoulos’ Blick des Odysseus oder Winterschlaf des Türken Bilge Ceylan, um Beispiele zweier jüngerer Werke aufzuführen. Allerdings gehen berühmte Regisseure mit ihren Weltpremieren immer noch lieber nach Cannes und Venedig. Mit Ausnahme des Philippinen Lav Diaz, Dauergast am Lago Maggiore, der sogar für sperrige, spröde Werke von bis zu acht Stunden schon Preise gewann. Essential Truths of the Lake, sein jüngstes Opus, ist mit dreieinhalb Stunden noch kurz. Schwarzweiße Aufnahmen von aschebedeckten Landschaften verströmen einen Hauch von Poesie, aber insgesamt ist dieser Krimi ein recht kryptisches, vielleicht zu bizarres Stück Kino mit schwer verständlichen Kontemplationen über einen unaufgeklärten brutalen Mord und merkwürdigen Tanzeinlagen, deren Bezug sich zu dem übrigen Geschehen nicht so recht erschließt.

Vor allem aber auch im Hinblick auf den Zeitgeist erstaunt es, dass Regisseure  zu so langen Formaten tendieren. Zum Lesen bringen die zunehmend Gestressten der arbeitenden Bevölkerung nicht mehr viel Zeit auf, für die tägliche Zeitung ebenso wenig wie für lange Bücher, und auch beim Schauen von Filmen bleiben die meisten – ob nun im Kino oder beim abendlichen Zappen vor dem Fernseher – in der Regel nicht lange hängen, wenn die Geschichten nicht spannend sind. Fast kommt es mir vor, als wolle der Schweizer Festivalleiter Giona A. Nazzaro provokativ der allgemeinen Fast-Food-Kultur eine Slow-Food-Kultur entgegensetzen. Zumal alle diese Filme in sehr langen Einstellungen verharren. Aber der Geschmack, den er dabei getroffen hat, ist eben doch nicht der beste.

Abgesehen davon frage ich mich, warum eigentlich das Interesse an Underdogs, Losern, Habenichtsen, Taugenichtsen, Kriminellen, Dealern, Vagabunden und Perversen so gewaltig ist, die in großer Zahl die Leinwand bevölkerten. Nicht alle dieser Figuren hinterlassen zum Glück einen derart befremdend abstoßenden Eindruck wie ein provokanter Clown, der einen jungen Heranwachsenden in dem italienischen Beitrag Patagonia sexuell erniedrigt. Die Identifikation fällt jedoch nicht immer leicht.

Auch von dem Seelenleben des Protagonisten in dem iranischen Beitrag Critical Zone, den die Jury überraschend mit dem goldenen Leoparden für den besten Film auszeichnete, erfährt man nicht allzu viel. In wiederkehrenden bedrückenden Bildern von endlos langen Tunneln schaut man ihm lediglich dabei zu, wie er – meist im Auto unterwegs wie die Casting-Agentin in Radu Judes Film – Drogen vertickt. Er selbst ist freilich auch süchtig, oft stehen die Bilder Kopf oder drehen sich, auf die Weise nimmt Regisseur Ali Ahmazadeh ganz und gar die Perspektive seines vereinsamten Helden ein, dem nach dem Abschied von seiner Freundin, die sich in die Türkei absetzt, nicht viel mehr Gesellschaft bleibt als die künstliche Stimme seines Navigationsgerätes.

Vom Bildungsbürgertum scheinen sich jüngere Filmemacher enttäuschender Weise endgültig verabschiedet zu haben. Jedenfalls kam es nicht mehr vor.

Für Cineasten, die unter den neueren Produktionen wenig Anregendes fanden, hatte Locarno gleichwohl etwas zu bieten. Es sind dies die immer wieder ambitionierten Retrospektiven. In diesem Jahr galt sie dem mexikanischen Kino von 1940–1969. Zwar fanden sich auch so manche Klamotten  à la Dick und Doof darunter wie zum Beispiel die Komödie El rey del barrio um eine Bande gutherziger Betrüger, die es auf reiche Damen abgesehen haben, aber deren Chef Rey ein zu großer Trottel ist, als dass ihm ein Coup einmal gelingen würde. Aber Anspruchsvolles fand sich auch, das Drama Espalda mojadas zum Beispiel. Im Zentrum dieses 68-Jahre alten Werks von 1955 steht ein mexikanischer Arbeiter namens Rafaél, der in die USA umsiedeln will und – weil er über keine Papiere verfügt – illegal mit einigen anderen versucht, die Grenze zu überqueren. Einzig und allein er aber ist es, der in diesem Schwarzweißfilm am anderen Ufer des Flusses heil ankommt. Die übrigen werden von der Grenzpolizei erschossen.  Hüte der Ermordeten, die an der Wasseroberfläche schwimmen, ergeben ein beklemmendes, starkes Bild von Aktualität, auch wenn  damals und Drogen- und Menschenhandel noch kein so großes Thema waren.

Den stärksten Beitrag innerhalb der Retro steuerte Luis Buñuel mit El rio y la muerte  bei, leider nur mit französischen Untertiteln, der à la „Romeo und Julia“ bewegend von einer jahrzehntelangen Fehde zwischen zwei Familien erzählt. Die vereinzelten Versuche einzelner Mitglieder dem blutigen gegenseitigen Morden ein Ende zu bereiten, scheitern immer wieder, bis schließlich in der letzten Generation der Durchbruch zu gelingen scheint. Immerhin mit einer solch für den wohl bekanntesten mexikanischen Regisseur ungewohnten hoffnungsvollen Perspektive endet das Drama. Und damit mit einer wunderbaren Botschaft, wie sie sich angesichts von Krieg und sozialen Spannungen in ganz Europa für ein internationales Festival nicht besser denken lässt.

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