Trauen Sie dieser Frau einen Mord zu? In Justine Triets „Anatomie eines Falls“ spielt Sandra Hüller eine Schriftstellerin, die ihren Mann vom Balkon geschubst haben soll. Ein Gespräch.
Sandra Hüller hat es längst geschafft. Spätestens seit Toni Erdmann, seit 2016, ist sie bei Kinogängern in aller Munde, Fack ju Göhte 3 machte sie im Jahr darauf einem noch größeren Publikum bekannt, Arthouse-Fans haben sie schon seit Requiem (2006) von Hans-Christian Schmid und Brownian Movement (2010) von Nanouk Leopold auf dem Schirm, nicht zu vergessen Frauke Finsterwalders Finsterworld (2013). Doch was bei den diesjährigen Filmfestspielen von Cannes geschah, kam einem Triumph gleich. Sandra Hüller war im Wettbewerb mit gleich zwei Filmen vertreten, die die wichtigsten Preise gewannen: Goldene Palme für Justine Triets Anatomie d’une chute (Anatomie eines Falls), Grand Prix für Jonathan Glazers The Zone of Interest. Dort spielt sie Hedwig Höss, die Ehefrau des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höss und lotet punktgenau und sachlich die Banalität des Bösen dieser Frau aus.
Doch zuerst kommt Anatomie eines Falls in die Kinos. Sandra Hüller spielt die deutsche Schriftstellerin Sandra, die ihrem französischen Ehemann Samuel zuliebe nach Frankreich gezogen ist, in einen kleinen Ort in den Alpen. Gemeinsam haben sie einen kleinen, sehbehinderten Sohn. Allerdings spricht sie nur mangelhaft französisch, und so wird Englisch zu ihrer gemeinsamen Sprache – eine schöne Metapher für die Heimatlosigkeit Sandras und die konfliktträchtige Beziehung zu ihrem Mann. Doch plötzlich wird Samuel tot im Schnee gefunden, mit einer schweren Wunde am Kopf. Ist er vom Balkon gefallen? Oder gesprungen? Oder wurde er gestoßen? Die Polizei hat so ihre Zweifel, und rasch gerät Sandra in Verdacht, ihren Mann getötet zu haben. Was nun folgt, ist ein Indizienprozess, in dem das Private einer Beziehung nach außen gekehrt wird. Mittendrin Sandra Hüller, die die ganze Bandbreite ihres Könnens ausspielt, voller Nuancen, Zwischentöne und Andeutungen. Hüller interessiert sich dabei, wie so oft in ihren Rollen, für die Gegensätze ihrer Figur. Zum einen ist sie sympathisch und ehrlich, besonders im Umgang mit ihrem Filmsohn, dann wieder kann sie sehr kalt und unnahbar sein. Dabei lotet sie jeden Aspekt des Charakters Sandras aus, sie scheint die Schriftstellerin förmlich zu leben, so dass man als Zuschauer stets mitfühlt: Wie geht diese Frau mit dem plötzlichen Tod ihres Mannes um? Was machen die Anschuldigen mit ihr? Und wie kann sie sich erfolgreich gegen die Anklage verteidigen?
Im Gespräch, anlässlich der Verleihung des Douglas-Sirk-Preises beim Filmfest Hamburg geführt, spricht Sandra Hüller auskunftsfreudig über ihre Anfänge als Schauspielerin, ihr Lampenfieber auf der Theaterbühne sowie ihren Abstecher ins Komödienfach. Und natürlich über Anatomie eines Falls.
Interview
Wollten Sie immer schon Schauspielerin werden?
Sandra Hüller: Nein. Diese Idee, Schauspielerin zu werden, ist erst spät entstanden, beim Theatertreffen der Jugend. Wir waren damals eingeladen mit einer Produktion namens „Wir Voodoo-Kinder“. Die wurde auf dem Dörnberg in Kassel-Wilhelmshöhe erarbeitet. Das war ein Jugendtheaterstück, mit dem wir eröffnet haben. Das war eine große Ehre und mein erster Ausflug in eine große Stadt. Mir hat diese Woche dort so gut gefallen, auch dieser Menschenschlag, der dort war, diese Auseinandersetzungen mit Theater und Kunst im weitesten Sinne, dass ich probieren wollte, diese Ausbildung zu absolvieren. Da gab es durchaus Gegenbewegungen. Viele Leute haben gesagt: „Du bist zu jung. Lass dass.“ Andere haben gesagt: „Probiere es halt, du wirst dann sehen.“ Und als das dann geklappt hat, war ich eben Schauspielerin.
Haben Sie Ihre Eltern in diesem Wunsch unterstützt?
Sandra Hüller: Meine Eltern haben das am Anfang für einen Spleen gehalten. Es hat eine Weile gedauert, bis sie gemerkt haben, dass es wirklich stattfindet. Dann haben sie mich unterstützt. Ich habe das aber aus eigenem Antrieb gemacht. Mein Vater hat mich sogar zu den Aufnahmeprüfungen gefahren. Meine Eltern haben sich schon gewünscht, dass das klappt, aber sie waren nicht sehr überzeugt. Das ist auch okay.
Hatten Ihre Eltern vielleicht Angst, dass das Schauspiel eine „brotlose Kunst“ sei?
Sandra Hüller: Nein. Das hat vor allem damit zu tun, dass es in meiner Familie keine künstlerischen Umtriebe gab und es ihr völlig fremd war. „Brotlose Kunst“ habe ich nie gehört. Und es stimmt ja auch nicht.
Was ist für Sie das Faszinierende an der Schauspielerei?
Sandra Hüller: Ich interessiere mich sehr für menschliche Zusammenhänge und Erfahrungen, mich interessiert, was Menschen antreibt. Die Schauspielerei hat ja viel mit diesen Fragen zu tun, warum und wie jemand etwas tut. Was denken andere über die Person in dem Moment, wo sie etwas ganz Bestimmtes will? Mir geht es um die vielen Fragen, die auftreten, wenn man lebt. Ich hätte auch Soziologie studieren können. Das wäre aber nur auf dem Papier. Die Schauspielerei schließt den Körper und die Seele und den Geist mit ein. Das ist ein Beruf, der alle Bereiche des menschlichen Lebens braucht und abbildet. Das fasziniert mich daran.
Was muss ein Drehbuch, eine Rolle haben, damit Sie sofort zusagen?
Sandra Hüller: Das kann ich Ihnen nicht sagen. Das ist eine ganz intuitive Sache. Rückblickend sind das ganz unterschiedliche Dinge. Manchmal ist es ein Ort, manchmal die Zusammenarbeit mit einer Person, manchmal ist es eine Frage, die mich interessiert hat, manchmal ist es die Geschwindigkeit, mit der etwas erzählt werden soll, ein bestimmtes Lebensthema, das mich beschäftigt hat oder noch beschäftigt. Das hat ganz verschiedene Gründe.
Sie scheinen aber schon eine Vorliebe für ambivalente Charaktere zu haben, die Gegensätzliches, sogar Paradoxes in sich tragen?
Sandra Hüller: Ich schließe daraus, dass Sie sich nicht als so jemand wahrnehmen? Ich glaube nämlich, dass jeder Mensch so ist. Wir bestehen alle aus großen Paradoxien. Die Erzählung über uns selbst muss nach außen immer geordnet sein, damit sie Sinn macht. Aber eigentlich stimmt das nicht. Wir sind ein Konglomerat aus unseren Erfahrungen, Erziehungen, denen unserer Vorfahren, Vorlieben, von denen wir nicht wissen, woher sie kommen.
Sie haben 2003 Ihren ersten Preis als Beste Nachwuchsschauspielerin, ausgelobt von Theater Heute, erhalten, seitdem zahlreiche andere Preise von Festivals und Institutionen, nun den Douglas-Sirk-Preis des Hamburger Filmfests. Was bedeuten Ihnen diese Auszeichnungen?
Sandra Hüller: Ich freue mich darüber. Ich freue mich darüber, dass Leute anerkennen, was ich mache, dass sie das lesen können und es etwas in ihnen auslöst, das ihnen das Gefühl gibt, sie sollten mir etwas zurückgeben. Ich empfinde das als großes Geschenk und bin unendlich dankbar dafür.
Sie haben angefangen als Theaterschauspielerin, stehen auch heute noch viel auf der Bühne. Was macht mehr Spaß – Theater, Film oder Fernsehen?
Sandra Hüller: Ich mache da keinen Unterschied. Im Fernsehen und bei Serien habe ich noch nicht so viel Erfahrung, vielleicht kommt das noch. Es hat sich bis jetzt noch nicht ergeben, weil es doch eine sehr lange Zeit ist, für die man sich verpflichtet. Ich mag jedenfalls alles gern.
Haben Sie Lampenfieber oder Versagensängste, wenn Sie abends auf der Bühne stehen?
Sandra Hüller: Ja. Es wird besser. Jetzt gerade flaut es ab. Aber es gab eine Zeit, da war es unerträglich schlimm. Mir hat ein sehr lieber und nahestehender Kollege einmal gesagt, dass er auch Lampenfieber gehabt hätte. Er hat es besiegt, indem er alle Rituale weggelassen hat. Und ich hatte ganz schön viele, von Glücksbringern über bestimmte Übungen, von Sachen, die man sich sagt, über den vielen Kaffee, den man trinkt. Alles, um das Gefühl zu haben, dass man das Lampenfieber unter Kontrolle hat. Man muss aber einsehen, dass man es nicht unter Kontrolle
hat.
Wie haben Sie den überwältigenden Erfolg von „Toni Erdmann“ erlebt?
Sandra Hüller: Das war so nicht abzusehen. Der Erfolg hat viele Reisen und Erlebnisse zur Folge gehabt, von denen ich niemals gedacht hätte, dass ich sie im Leben mal haben werde. Ich erinnere mich auch an die große Verbundenheit mit allen Beteiligten, die große Abenteuerlust, die damit verbunden war. Gleichzeitig war da aber auch die Frage, wie es weitergehen soll. Es gab da erst einmal eine Leerstelle. Es hat eine Weile gedauert, bis ich mich wieder orientieren konnte. Das ist keine Beschwerde – es ist einfach so. Es war im positiven Sinne eine Erschütterung.
Sie haben in „Fack ju Göhte 3“ mitgespielt. Was hat Sie daran gereizt?
Sandra Hüller: Ich hatte so etwas bis dahin nicht gemacht, ich hatte keine ausgewiesene Komödie gedreht, sondern eher Arthouse-Filme. Ich wusste nicht, wie das geht. Ich kann aber nicht immer sagen, dass ich nicht weiß, wie etwas geht, und deswegen alles ablehnen. Ich musste einfach mal ausprobieren, ob ich komisch sein kann oder nicht, ob es Spaß macht oder nicht. Ich habe mich dann einfach getraut, und es hat Spaß gemacht. Es fällt mir aber nicht leicht. Ich merke, dass mir Komödie schwerer fällt als Drama. Was nicht heißt, dass es nicht wieder passieren kann.
Wie kam es zur Zusammenarbeit mit Justine Triet?
Sandra Hüller: Wir haben 2019 bereits Sybil – Therapie zwecklos zusammen gedreht. Ich kannte sie aber schon seit der Berlinale 2012, als ich mit anderen Kollegen und Kolleginnen in der Kurzfilmjury war und sie den Kurzfilm-Bären gewann. Wir haben dann nach Sybil unsere Arbeiten gegenseitig verfolgt. Ich kannte alle ihre Filme und habe sie auch immer sehr gerne gesehen und bewundert, was sie macht. Während Sybil hat Justine mir gesagt, dass sie noch etwas anderes plant. Sie hat aber nicht gesagt, um was es geht. Sie würde mir aber ein Drehbuch schicken, und das kam dann auch.
Gleich zu Anfang des Films sagen Sie im Gespräch mit der Studentin: „Um etwas zu erfinden, braucht man zuerst etwas Reales.“ Brauchen Sie als Schauspielerin auch einen Angriffspunkt, der real aus Ihrem Leben kommt?
Sandra Hüller: Das verhält sich ein bisschen anders. Sie spricht über den Beruf des Schriftstellers und der Schriftstellerin. Das ist Erfindung. Ich hingegen bin auf die Erfindung anderer Leute angewiesen. Das ist dann für mich real. Wir reden dann über das Drehbuch, über die Figur, über bestimmte Fragen – all das nehme ich als real an. Ich brauche keine Beispiele aus meinem eigenen Leben. Das fände ich auch schräg. Sobald ich mich für eine Rolle entschieden habe, verändert sich mein Blick. Das passiert unbewusst. Es gibt eine selektive Wahrnehmung, dann begegnen mir ganz viele Dinge, die damit zu tun haben – Gesten von Leuten, die Art zu sprechen, Musik. Es entstehen Verknüpfungen in das eigene Leben und das anderer Menschen hinein. Es ist auf jeden Fall nicht so, dass ich losgehe und das suche.
Sie haben Recht: Es ist nicht der gleiche Kreativschöpfungsprozess wie beim Schreiben.
Sandra Hüller: Das, was Sie machen, stelle ich mir viel, viel schwerer vor. Worte zu finden, zu erfinden … Ich kann wirklich schlecht selbst schreiben, selbst erfinden. Der Abgleich mit dem eigenen Erleben von bestimmten Dingen, dem eigenen Gefühlshaushalt findet in der Arbeit permanent statt. Ich versuche, die Situation, in der die Person ist, so darzustellen, dass sie glaubhaft ist. Das heißt, dass ich sie an mich anbinden muss. Das ist aber etwas, worüber ich nie sprechen würde, womit das zusammen hängt, woher das kommt, woran mich das erinnert. Diesen inneren Austausch gibt es ständig.
Ich war sehr beeindruckt von Ihrem mühelosen Übergang von Englisch zu Französisch im Film. Ich stelle mir das so vor, dass die Farbe im Gehirn wechselt, je nach dem, welche Sprache man spricht. Man kann auch in anderen Sprachen nicht alles sagen. Wie sind Sie mit dem Wechsel der Sprachen umgegangen?
Sandra Hüller: Das mit den Farben finde ich interessant. Ich habe auch die Erfahrung gemacht, dass bestimmte Dinge in anderen Sprachen anders klingen, eine andere Härte haben oder eine andere Weichheit. Es gibt Sprachen, in denen man gut zärtlich Dinge sagen kann, in anderen nicht so sehr, in denen man gut streiten kann, in anderen nicht so. Wenn man nicht in der eigenen Sprache spricht, gibt es immer eine Distanz. Das ist manchmal auch ganz gut, besonders wenn Leute die Tendenz haben, einem zu nahe zu kommen. Sich auf Englisch zu treffen – da können Sie sich Sachen sagen, die Sie sich nie in ihrer Muttersprache sagen könnten, weil es zu intim wäre. Es sieht so mühelos aus, weil ich den Text gelernt habe. Es war auch ganz klar, wann gewechselt wird. Bis zu diesem einen Punkt habe ich das Französisch gelernt und danach wurde das Englisch gelernt. Das ist, zumindest sprachlich, Teil einer Choreographie.
Mir hat die Szene sehr gut gefallen, in der Sie interviewt werden und dann den Interviewer etwas fragen. Später dann kommt der Staatsanwalt auf die Idee, dass das Interview auch etwas Intimes haben könnte. Wie sehen Sie das?
Sandra Hüller: Ein Interview kann immer auch ein Gespräch sein. Ich kenne es zwar nicht so, dass die interviewte Person etwas vorschlägt – das ergibt sich. Man versteht sich und unterhält sich über ein Thema und tauscht Gedanken aus. Was die unterstellte Intimität angeht: Bei einem Interview begegnen sich Menschen, und dass dann andere Energien im Raum sind, ist durchaus möglich. Das ist eine Frage der Professionalität, wie man das behandelt. Niemand wusste, dass dieses Interview später vor Gericht verhandelt wird. Es hat auch niemand darauf geachtet, welcher Ton angeschlagen wird. Das war natürlich intim, irgendwie. Zumindest diese Aufnahme war nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, sondern nur das, was davon aufgeschrieben wird.
Führt diese Sichtweise nicht auch zu einem Widerspruch zwischen privater und gerichtlicher Realität?
Sandra Hüller: Darum kreist der Film: Ist es überhaupt zulässig, das Privatleben von Personen gegen sie als Verdächtige zu verwenden? Wir alle machen Fehler in unserem Privatleben. Natürlich kann alles gegen uns verwendet werden. Ist das aber richtig? Ich kann das gar nicht beantworten. Man könnte sagen: Damit ist immer zu rechnen, weil niemand weiß, in welcher Situation man sich wiederfindet. Der Film gibt da aber auch keine Antwort darauf.
In vielen Gerichtsfilmen geht es ja um Recht und Gerechtigkeit. Werden in Ihrem Film hingegen nicht alle Beteiligten zu Opfern dieser Justiz?
Sandra Hüller: Opfer – das ist ein großes Wort. Sicher sind die Frau und der Sohn Opfer der Situation. Sagen wir es einmal anders: Die Justiz hat einen Einfluss auf das Leben der Beteiligten. Muss das so sein? Muss so ein Prozess öffentlich sein? Das sind die wichtigen Fragen, wenn so viel Privates dort hineingetragen wird, zumal der Sohn anwesend ist – auch wenn es seine Wahl war. Er hat die Richterin davon überzeugt, dass er Teil davon sein kann, weil er den Prozess verarbeiten kann. Er würde sowieso alle Details mitbekommen, auch wenn er nicht im Gerichtssaal wäre. Diese Frage ist interessant – in manchen Ländern sind bei Prozessen Kameras dabei und filmen das Ganze, die Aufnahmen werden sogar verkauft.
Das ist das Faszinierende an diesem Film, dass es nicht nur um die Auflösung eines Kriminalfalles geht, sondern dass unterschwellig verhandelt wird: Eigentlich ist es unmöglich, die Wahrheit zu finden.
Sandra Hüller: Genau. Der Film stellt die Frage, ob es Wahrheit überhaupt gibt und was sie denn sein soll und ob ein Gerichtsprozess dafür geeignet ist, sie herauszufinden. Er stellt nicht infrage, ob die Justiz existieren darf. Im Gegenteil: Alle Beteiligten finden gut, dass es Rechtsprechung gibt. Wie das ausgeführt wird, gerade in unseren Zeiten, wo man Aufnahmen machen darf, kann man infrage stellen. So weit ich mitbekommen habe, gab es im Zuge dieses Films in Frankreich sogar Diskussionen darüber.