ray Filmmagazin » Filmfestivals » Historische Reflektionen

Historische Reflektionen

| Thomas Abeltshauser |

Endspurt auf dem Lido

Seit zwei Tagen lichten sich die Reihen auf dem Lido merklich, viele Journalisten und Industrieleute haben sich schon auf den Weg zum Konkurrenzfestival in Toronto gemacht. Die Fans am Roten Teppich allerdings bleiben beharrlich, vor allem wenn ein Star wie Natalie Portman ihren Film vorstellt. Mit Pablo Larrains nuanciertem Biopic Jackie über die ersten Tage nach dem Ermordung John F. Kennedys ist sie in der Rolle der traumatisierten und wie besessen um Kontrolle ringenden Witwe klare Anwärterin auf die Coppa Volpi als Beste Darstellerin bei der Preisverleihung Samstagabend. Als narrative Klammer wählt Larrain dabei ein Interview, das Jackie Kennedy einem Journalisten gibt, um der Öffentlichkeit ihre Sicht der Geschehnisse zu schildern und dabei jedes Komma kontrolliert. Wie sie das spielt, haben Kolleginnen Kunsthandwerk und Imitation genannt, aber genau das ist das Großartige daran. Denn man sieht eben nicht nur Portman beim Schauspielen zu, sondern vor allem der Figur, Jackie Kennedy, wie sie ihr eigenen Image und ihre Außenwirkung steuert.

Die Jury um Präsident Sam Mendes wird es nicht leicht haben, und über Favoriten zu spekulieren wird mehr und mehr zum Kaffeesatz lesen, das hat sich erst im Mai in Cannes gezeigt, als so ziemlich jeder Kritikerliebling leer ausging, allen voran Toni Erdmann. Interessanterweise ist erneut ein deutschsprachiger Film einer der stärkeren Beiträge, diesmal allerdings von einem französischen Filmemacher. François Ozon adaptiert mit dem Historiendrama Frantz einen wenig bekannten Lubitsch-Film um einen im Ersten Weltkrieg gefallenen deutschen Soldaten und zwei Menschen, die um ihn trauern – seine Verlobte Anna und ein mysteriöser Franzose namens Adrien. Interessanterweise dreht Ozon in seiner Version die Perspektive, er verlagert sie von der französischen auf die deutsche Seite, vom Mann auf die Frau. Und lässt so auch lange das Geheimnis Adriens im Dunkeln, jongliert mit Möglichkeiten, Anspielungen und Lügen. Meisterhaft inszeniert Ozon dieses Wechselbad der Emotionen in elegischem Schwarzweiß, das nur in kurzen Momenten in Farbe taucht.

Einen der großen Preise des Festivals dürfte an Andrei Konchalovskys Paradise gehen, sein streitbares, visuell aber absolut zwingendes Holocaust-Drama, das zu großen Teilen aus Aussagen besteht, die von den Protagonisten direkt in die Kamera gesprochen werden. Wer ist das Gegenüber? Ein Befrager? Gott? Der Regisseur? Oder werden wir selbst auf unsere Rolle als Zuschauer zurückgeworfen?

Die Schwarzweißbilder teilt der Film mit einem der Dokumentarfilme, die in diesem Jahr sehr prominent platziert waren. Auch Sergei Loznitsas Austerlitz handelt von Konzentrationslagern, allerdings im Heute. Er beobachtet in langen, statischen Einstellungen die Besucher in Auschwitz und Sachsenhausen. Man sieht Menschen jeden Alters durch die Anlagen gehen, sie machen Fotos, unterhalten sich, manchmal essen sie auch etwas. Wo Konchalovsky die Orte des Schreckens inszeniert, von den überfüllten Baracken bis zum Raum, in dem die Habseligkeiten der Ermordeten sortiert werden, Tausende Brillen, Schuhe und Koffer, zeigt Loznitsa die Zwischenplätze, die Gänge, Wege und Türen, und wie sich die Besucher darin bewegen. Der Erkenntnisgewinn bleibt dabei leider überschaubar. Als Kunstinstallation wäre es womöglich besser gewesen.

Ulrich Seidl folgt in Safari Großwildjägern durch die afrikanische Savanne, bietet dabei wie gewohnt ein Panoptikum an skurrilen Protagonisten auf, die in statischen Einstellungen über ihre Faszination fürs Erlegen von Raubkatzen, Elefanten und Giraffen erzählen. Die Strenge der Inszenierung hebt er hier allerdings auf, die Kamera setzt sich in Bewegung, wenn es auf die Pirsch geht. Die schier endlos wirkende und nur schwer erträgliche Giraffen-Schlachtszene gehört zu den Momenten, die im Kopf bleiben, wenn viele andere Beiträge dieses Festivals längst vergessen sein werden.