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Dario-Argento

Dark Glasses | Interview

Ich habe nicht mehr Angst als alle anderen

| Marc Hairapetian |
Dario und Asia Argento im Gespräch über die Arbeit an ihrem neuen Film.

Bei der diesjährigen Berlinale feierte Dario Argento sein Comeback: Rund zehn Jahre nach seiner bislang letzten Regiearbeit Dracula präsentierte er zusammen mit seiner Tochter Asia im Rahmen der Sektion „Berlinale Special“ seinen neuen Film Occhiali neri. Am Skript arbeitete Argento zusammen mit Franco Ferrini schon vor Jahren, ausgerechnet während der Corona-Pandemie konnte er den Thriller endlich fertigstellen. Bei der Berlinale kannte der am 7. September 1940 in Rom geborene Sohn des Produzenten Salvatore Argento und der Fotografin Elda Luxardo, der bereits als 27-jähriger Ko-Drehbuchautor von Sergio Leones C’era una volta il West Kinogeschichte geschrieben hatte, keine Berührungsängste und ließ sich bereitwillig und ohne Maske mit seinen zahlreichen Fans ablichten.

Wie kamen Sie auf Ilenia Pastorelli, die das Callgirl Diana spielt? Sie erinnert mich etwas an die von Gena Rowlands verkörperte Protagonistin in John Cassavetes’ „Gloria“ . Wie Gloria ist sie eine toughe Frau, die aber auch Ängste hat und sie zeigt. Wie hat sie sich auf die Rolle vorbereitet?
Dario Argento: Danke erst einmal für den ehrenvollen Vergleich, der Ilenia Pastorelli sicher freuen wird! Gena Rowlands ist eine immer noch tolle Frau und Schauspielerin! Ilenia traf eine blinde Frau, die einen Unfall hatte, wie wir ihn im Film zeigen. Sie musste lernen, sich wie eine Blinde durchs Leben zu bewegen und zu verhalten. Wenn wir etwas hinter uns hören, drehen wir uns um, aber jemand, der blind ist, macht das nicht. Ich fragte Ilenia übrigens auch, ob sie Schwierigkeiten damit hätte, eine Prostituierte zu spielen. Ihre Antwort war verblüffend.

Was hat sie denn gesagt?
DA: Sie sagte wörtlich: „Jede Frau hat eine Prostituierte in sich. Manche zeigen dies nur ihrem Ehemann, andere ihrem Liebhaber. Wir müssen im Jahr 2022 freier bezüglich Sex sein.“ Das spielte mir natürlich in die Karten! Mögen meine Kinoarbeiten auch hart und maskulin wirken, ich finde, es sind auch feministische Filme, in denen fast immer Frauen im Zentrum und zu ihren Ängsten stehen, die sie dann versuchen zu überwinden.

In den Szenen mit Chin, dem chinesischen Jungen, zeigt sie allerdings ihre mütterliche Seite.
DA: Richtig, Occhiali neri ist ein Kriminalfilm mit einem Hauch von Horror. Motor der Handlung sind die verschiedenen kulturellen Hintergründe von Diana und Chin. Sie ist eine Erwachsene und blind, er ist zu jung, um alleine in der Welt zurechtzukommen. Vor allem der Hintergrund von Chin ist geheimnisvoller als der von Diana. Und auch bei uns in Rom gibt es eine echte Chinatown.

Rom ist in „Occhiali neri“ wie ein weiterer Hauptdarsteller inszeniert. Sie zeigen die Stadt im Sommer, meist im hellen Licht. Erst wenn Diana und Chin vor dem Mörder in die ländliche Umgebung fliehen müssen, wird es auch dunkler im Film.
DA: Ich wollte Rom einfach Tribut zollen, das ist meine Geburtsstadt und war immer sehr wichtig für meine Karriere als Filmemacher. Rom unterscheidet sich sehr von seiner unmittelbaren Umgebung, diese ist nicht so schön wie die Toskana. Überall liegen Steine herum, es gibt viele dunkle Wälder. Da hüpft einem natürlich das Herz als Horror-Regisseur!

Diana wird von einem Blindenhund unterstützt, war es für Sie einfach oder schwer, mit einem Tier zu drehen?
DA: Es war nicht schwierig, mit Nerea, unserer Schäferhündin, zu arbeiten. Im Gegenteil: Es war leicht, da sie sehr gut trainiert wurde. Auch die gewalttätigen Szenen haben sie nicht verschreckt. Ich befürchtete zuerst, sie würde nicht tun, was sie tun sollte, aber ich habe letztendlich immer Glück mit Tieren gehabt. Bei Phenomena hatte ich einen Schimpansen, auch da klappte alles sehr gut. Er machte immer genau das, was er machen sollte.

Sie sind berühmt geworden durch ihr extremes Stilempfinden und den Einsatz von geradezu provokant poppigen Farben wie in „Suspiria“. Ist es ein Kontrapunkt oder gar Ironie, dass diesmal der Killer in einem unscheinbaren weißen Van durch die Gegend fährt? Weiß ist doch ein Symbol der Unschuld.
DA: Genau! Der „Bad Guy“ sitzt bei mir in einem weißen Van. Das ist mein Statement zu US-amerikanischen Filmen, wo die Mörder immer in aufgemotzten Karossen durch die Gegend kutschieren. Ich denke da besonders an die Filme von Quentin Tarantino wie Death Proof mit Kurt Russell und auch Kill Bill, denn Uma Thurman ist ja eine Ex-Profikillerin und nun auf ihrem persönlichen Rachefeldzug. Oder nehmen Sie den Truck in Steven Spielbergs Kinodebüt Duel, der ist doch monströs! Seinen Fahrer sieht der Zuschauer nie, dafür aber die Angst in Dennis Weavers Gesicht, der vor ihm auf dem Highway fliehen muss. In Occhiali neri ist der Van nicht besonders groß. Er sieht überhaupt nicht gefährlich aus, aber der Typ, der in ihm sitzt, ist gefährlich, sehr sogar.

Signora Argento, in „Occhiali neri“ spielen Sie Rita, die Diana hilft, sich im Leben wieder zurechtzufinden. Was bedeutet es Ihnen, zusammen mit ihrem Vater seinen neuen Film der Weltöffentlichkeit zu präsentieren?
Asia Argento: Mein Vater ist ein Mann, der wirklich ein spezielles Geschenk fürs Kino ist. Wäre ich nicht seine Tochter, wäre ich trotzdem sein Fan. Es ist auch ein Geschenk für mich, einen Vater wie ihn zu haben. Mein Vater mag nicht sentimental wirken, aber mit diesem Film hat er sich ein bisschen geöffnet. Er öffnet hier sein großes Herz, das er immer hatte. Es ist ein Privileg, mit einem derartigen Künstler aufgewachsen zu sein, der eben auch immer ein echter Vater für mich gewesen ist. Hier in Berlin bekommt er bei den Filmfestspielen die Anerkennung, die er verdient hat. Manchmal zählt der Prophet im eigenen Land wenig: So hat er in Italien, obwohl er bei uns auch von vielen Cineastinnen und Cineasten verehrt wird, nur äußerst selten Preise für seine Filme erhalten. Ehrungen für ihn finden fast ausschließlich in anderen Ländern statt. Im Berlinale-Special vertreten zu sein, erfüllt mich für ihn mit großem Stolz. Es ist schließlich eines der größten und besten Filmfestivals der Welt, wenn nicht sogar das beste.

Sagten Sie nicht 2013, Sie wären nicht mehr interessiert, als Schauspielerin zu agieren? Danach führten Sie wieder selbst Regie bei „Incompresa“, in dem die damals zwölfjährige Giulia Salerno und Charlotte Gainsbourg als Mutter brillierten. Sind Auftritte vor der Kamera, wie etwa in „Occhiali neri“, nur Ausnahmen, oder haben Sie jetzt wieder Blut geleckt?
AA: Ich habe, seit ich denken kann, immer eng mit meinem Vater zusammengearbeitet, insgesamt schon über 37 Jahre. In Trauma und The Phantom of the Opera hatte ich größere Rollen bei ihm. Jetzt bin ich 46 und fast mein ganzes Leben als Schauspielerin dabei. Irgendwann brauchst du eine kleine Pause, um irgendwann später wieder Spaß zu haben. Nach so vielen Jahren hatte ich 2013 das Gefühl, dass ich etwas zu mechanisch geworden bin. Ich hatte damals nicht mehr die richtige Motivation, um zu spielen. Wenn Geld der erste Grund ist, um eine Rolle anzunehmen, läuft doch etwas schief. Deshalb nahm ich eine kleine Auszeit. Ich habe schon immer gern eigene Projekte verfolgt. Mein Regie-Debüt Scarlet Diva, bei dem ich auch das Drehbuch schrieb und die Titelrolle der depressiven Erotik-Darstellerin übernahm, habe ich im Jahr 2000 gegen alle Widerstände durchgesetzt. Einer der wenigen, der mich immer dazu ermutigt hat, weiterzumachen, ist mein Vater gewesen. Scarlet Diva ist sehr kontrovers aufgenommen worden, wie das etwa in einer Kritik der „New York Times“ zum Ausdruck kam: Der Rezensent fand den Film „ziemlich schrecklich und chaotisch geschrieben“, aber auch „unheimlich faszinierend“ und „sehr bewegend“. Ich gewann Preise dafür, aber manche Leute hassten ihn. Man muss aber selbst lieben, was man macht, das habe ich von meinem Vater. Bei Occhiali neri steht meine Darstellung nicht sehr im Vordergrund, hier war mir meine Tätigkeit als Associate Producer weitaus wichtiger. Wird mir eine Rolle angeboten, zu der ich wirklich etwas beitragen kann, werde ich sie auch wieder annehmen.

Können Sie als Regisseur am Set eigentlich ausklammern, dass Asia Ihre Tochter ist?
DA: Meine Tochter und die anderen Schauspieler werden von mir beim Dreh immer gleich behandelt. Da sind wir nicht Vater und Tochter, manchmal streiten wir sogar über die eine oder andere Szene. Sie ist da die Schauspielerin, ich der Regisseur, Nur wenn wir am Abend den Drehort verlassen, sagt sie vielleicht doch mal „Papa“ zu mir.

Was sagen Sie zum aktuellen Zustand des Horror-Films, wie beurteilen Sie etwa Edgar Wrights „Last Night in Soho“?
DA: Den Film finde ich erfrischend. Ich gehe aber immer auf meinem eigenen Weg, so dass ich die Straße vor mir habe und nicht ihr Ende sehen kann. Sie ist immer noch sehr lang, obwohl ich schon eine große Strecke auf ihr gegangen bin. Ich mache Thriller, Horror- und Polizeifilme, ein bisschen von allem. Nennen wir es ruhig Giallo. Ich selbst bin mir gar nicht so sehr bewusst, dass ich dieses Genre geprägt habe, ich will einfach immer nur weiter Filme drehen. Der Moment der Inspiration ist immer sehr emotional für mich. So, wie es war, als ich in meiner Jugend die Hammer-Filme im Kino sah, die für mich die Eintrittskarte in die Welt des Horrors und Science-Fiction bedeuteten. Sie stecken immer noch in meinem eigenen Unterbewusstsein, wenn ich selbst einen Film drehe. Und so wie sie mich beeinflusst haben, beeinflusse ich jetzt vielleicht mit meinen alten Filmen eine junge Generation von Filmemachern. Ich müsste lügen, würde ich sagen, dass mir dies nicht schmeichelt.

Seit langem wird kolportiert, dass Sie eine Thriller-Serie fürs Fernsehen oder einen Streaming-Dienst drehen werden.
DA: Ich kann Ihnen versichern: Da ist überhaupt nichts dran. Jeder mag diese neuen TV-Serien, ist regelrecht verrückt nach ihnen. Ich sah mir einige von ihnen an, zum Beispiel Babylon Berlin. Ich finde sie banal, dumm und langsam.

„Profondo Rosso“ ist mein Argento-Lieblingsfilm. David Hemmings brilliert als ahnungsloser Jazzpianist und Musiklehrer Marcus Daly, der immer wieder Zeuge einer grauenhaften Mordserie wird, bei der parapsychologische Phänomene und Hexenkult eine Rolle spielen. Welche Erinnerungen haben Sie an David Hemmings?
DA: Ich hatte eine sehr gute Beziehung zu David Hemmings. Sie begann allerdings in einer komischen Weise, weil ich Fotografien von ihm sah, die mir sein Agent geschickt hatte. Und diese waren von einer gewissen Schönheit. Ich war mit David dann auf der Piazza Navona, einem der charakteristischen barocken Plätze in Rom, verabredet und erkannte ihn zunächst gar nicht! David war inzwischen stark übergewichtig. Ich sah also einen ganz anderen Menschen vor mir. Ich war wirklich überrascht. Er realisierte das sofort und sagte zu mir: „Ich bin etwas dick, aber drei oder vier Wochen vor Filmbeginn werde ich wieder in guter Verfassung sein.“ Ich vertraute ihm, und er hielt Wort. Und beim Dreh funktionierte alles mit ihm tadellos. Wir waren dann enge Freunde, bis zu seinem frühen Tod im Jahr 2003. Tragischerweise erlitt er bei Dreharbeiten in Rumänien einen Herzinfarkt. Er wurde nur 62 Jahre alt.

Stimmt es, dass Ihre Mutter aus Brasilien stammt und Sie sich von ihren Geschichten über die afro-brasilianische Religion Macumba inspirieren ließen?
DA: Meine Mutter wurde in Porto Alegre geboren und lebte dann in Rio de Janeiro und in São Paulo. Erst viel später ging sie nach Italien mit ihrer Familie und begann dort als Fotografin zu arbeiten. Sie wurde mit ihren Schauspielerporträts schnell berühmt, vor allem mit denen von Filmschauspielerinnen wie Sophia Loren. Mein Vater war der Filmproduzent Salvatore Argento, der auch viele meiner Filme präsentierte. Somit wurde mir das Talent für Film und Fotografie wohl schon in die Wiege gelegt. Meine Mutter war tatsächlich immer eine große Inspirationsquelle für mich. Wie sie als Fotografin Frauen in Szene und vor allem ins rechte Licht setzte, hat mich stets fasziniert. Es ist für mich auch interessant, brasilianischer Abstammung zu sein. Ich gehe jedes Jahr nach Brasilien, habe Familienangehörige dort. Es ist ein Land, das ich liebe, auch wenn das derzeitige politische Regime wirklich alles andere als befriedigend ist. Darüber bin ich natürlich nicht glücklich. Zu Macumba: Meine Mutter hat an Sitzungen und Versammlungen teilgenommen. Dabei wurde sie von einer der Vortragenden gewarnt: „Pass auf deinen Ehemann auf!“ Wenig später hatte mein Vater einen Autounfall und verlor dabei sein rechtes Bein … Witzig sind solche Vorhersagen also nicht. Wie Sie wissen, habe ich zumindest parapsychologische Phänomene und Hexenkünste immer wieder in meinen Filmen eingearbeitet, am gelungensten vielleicht in Profondo Rosso und Suspiria.

Sie gelten als der Meister des Horrorfilms. Was sind Ihre eigenen größten Ängste?
DA: Ich habe nicht mehr Angst als alle anderen! Ich habe keine Phobien vor speziellen Tieren wie Spinnen oder Ratten. Ich bin glücklich und nicht ängstlich. Nur die normalen Ängste, die jeder hat, wenn mich beispielsweise jemand attackieren würde, sind mir nicht fremd. Aber jeder hätte davor Angst. Und natürlich habe ich manchmal auch eine gewisse Furcht, krank zu werden. Auch das ist in meinem Alter normal. Oder die Furcht vor einem Weltkrieg. Was sich gerade in der Ukraine abspielt, diese russische Bedrohung, ist doch entsetzlich! Dabei fangen wirklich beunruhigende Ängste oft harmlos an. Wie Dinge klein anfangen, sich dann steigern und groß werden zu einer Obsession, inspiriert mich mit dem kühlem Blick eines Wissenschaftlers, aber dem heißem Herzen eines Cineasten in meiner Arbeit. Grauen hat für mich manchmal auch Schönheit. Nehmen Sie nur die alten Universal-Schwarzweiß-Filme, mein Vorbild Mario Bava, der mit La maschera del demonio einen wirklichen Meilenstein des Gothic Horror schuf, oder davor noch die expressionistischen deutschen Stummfilme wie Das Kabinett des Dr. Caligari: Das Spiel mit Licht und Schatten und die wechselnden Perspektiven! Da könnte ich mich förmlich reinlegen! Ich habe immer versucht, diese ästhetische, aber auch gruselige Atmosphäre in Farbe wieder heraufzubeschwören. Ob es mir gelungen ist, müssen andere beurteilen.