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Ich will keine Musen, sondern Teilhabe

| Jakob Dibold |
Ein Interview mit der aus Georgien stammenden und in Genf lebenden Regisseurin Elene Naveriani, deren Film Wet Sand über generationenübergreifende queere Liebe und die Feindseligkeiten, denen diese ausgesetzt ist, am 25. März in die Kinos kommt.

Der Titel Ihres neuen Films, „Wet Sand“, ist gleichbedeutend mit dem Name des Strandcafés, das die männliche Hauptfigur Amnon betreibt. Gibt es dieses Café wirklich oder inwiefern haben Sie es erfunden? Der Name sagt auch viel über den Film aus: der Sand, der nass wird, immer und immer wieder, mal trocknen kann, doch stets wieder von etwas berührt und verändert wird. Wie kam es zu der Entscheidung, die Geschichte des Films so zu erzählen, dass die zunächst hauptsächliche Liebesgeschichte selbst gar nicht zu sehen ist, sondern nur deren Umgebung und Nachwirken?
Elene Naveriani:
Das Café als solches gab es nicht, nein. Wir fanden aber dieses Gebäude, und ich musste mir einen Namen ausdenken für diesen Ort, der ja gewissermaßen das Herz der Geschichte ist. Beim Auskundschaften der Umgebung fielen mir die vielen Cafés und kleinen Restaurants auf, die immer nach etwas benannt waren, was sie eben vor sich, an der Küste, am Ufer sahen: Muscheln, Möwen, das Meer … Eines Tages, als ich so herumging, fiel mir der Sand auf, der von einer Welle nassgespült wird. Metaphorisch aufgeladen war das zu dem Zeitpunkt noch nicht, es war eine praktische Entscheidung: Was sieht Amnon vor sich? Ich versuchte, das so zu machen wie die Leute dort.
Der Ausgangspunkt für den Film war klar die Liebesgeschichte von Eliko und Amnon, aus vielen Gründen. Vor langer Zeit, in den frühen Neunzigern, hatten mein Bruder Sandro – mit dem ich auch das Drehbuch geschrieben habe – und ich einmal von einem Haus im Westen Georgiens gehört, das abgebrannt war; zwei Männer hatten darin zusammen gelebt. Nicht notwendigerweise hatten diese beiden eine ähnliche Geschichte, aber diese Erinnerung ist bei uns hängengeblieben und kam zurück, als wir am Skript schrieben. Es hat lange gedauert, bis wir dorthin kamen, wo wir hinwollten. Wir entschieden uns dann, dass wir Fleshka und Moe, also der Zukunft mehr Raum geben, aber diese Hintergrundgeschichte eines ähnlichen Leidens, die immer noch nachklingt präsent haben wollten, nicht direkt sichtbar, aber spürbar.

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Viele Elemente aus der starken Anfangsszene erscheinen an verschiedenen Punkten des Films später wieder. Da ich weiß, wie wichtig Ihnen Sounddesign in Ihrer Arbeit ist, würde ich gerne wissen, wie Sie daran herangegangen sind, diese Dinge Schritt für Schritt zurückzuholen: den Swans-Song; das Glas-„Musizieren“; das Verpacken der Flasche, die viel später geöffnet, eingeschenkt und getrunken wird; das Schreiben des Briefes, der viel später geöffnet und gelesen wird …
Diese Eröffnungsszene war sehr wichtig, es war wichtig, dass wir Eliko nur einmal im Film lebend sehen, dies aber einen starken Eindruck hinterlässt. Sie ist auch ganz anders als der restliche Film, was die ganze Mise-en-scène betrifft. Es sollte ein ganz kurzes, aber sehr besonderes Kapitel werden. Sodass wir uns daran erinnern, uns an ihn erinnern.
Sound war das Werkzeug, das das am besten leisten konnte. So wie wir das Buch schrieben, hat das ja was vom Schälen von, ich weiß nicht, einer Zwiebel etwa. Irgendwann kommt man zum Zentrum, und ich finde das mit Sound einfach subtiler gelöst als mit Bildern. Und es stimmt, generell nimmt Sound für mich eine Schlüsselrolle ein, denn der passiert ganz am Ende, wenn ich einen Film fertigstelle. Er gibt ihm den letzten Schliff und fügt viel zum Charakter eines Films hinzu.

Ebenfalls besonders ist, wie Sie mit den Laien umgehen, die in ihrem Film spielen. Gia Agumava, eigentlich Lateinprofessor, gewann für seine Rolle des Amnon sogar den Preis für den besten Schauspieler in Locarno. Diese Praxis ist in letzter Zeit weniger außergewöhnlich geworden, vielleicht auch gerade bei jüngeren Filmschaffenden. Halten Sie das für einen notwendigen Schritt, um sich von den Produktionslogiken des Mainstreams ein Stück weit abzugrenzen? Und wenn jemand für seine erste Rolle gleich so einen großen Preis gewinnt, wirft das natürlich noch einmal deutlicher die Frage auf: Wer kann schauspielen, können das alle? Was müssen auch Sie als Regisseurin dafür tun, dass das so gut funktioniert?
Also, hinsichtlich der Notwendigkeit … für mich ist das vielleicht so. Schon in meinen Kurzfilmen und meinem vorigen Film, I Am Truly a Drop of Sun on Earth, habe ich so gearbeitet. Es kommt immer auf die Figur an, die man kreieren will. Jede Person kann schauspielen, jedenfalls in dem Sinne, dass sie etwas Bestimmtes gut darstellen kann. Profis haben ihre Werkzeuge und Techniken dafür, bei Nicht-Professionellen muss man natürlich andere Methoden entwickeln. Bei Gia/Amnon zum Beispiel war es mir wichtig, dass dieser Mensch etwas von sich selbst mitbringt, seine eigene Erfahrung. Ich denke, es gibt da etwas, in Körpern, in Stimmen, in Haltungen, das einfach von einem Lebensprozess geformt ist, anders als von einem Schauspielprozess. Für diese Figur wollte ich jemanden mit eigener Erfahrung, mit dem ich mich auch austauschen kann. Nicht nur ich allein sollte etwas projizieren, einen Charakter erschaffen, ein echter Mensch sollte daran teilhaben. Dasselbe gilt auch für Moe/Bebe (Sesitashvili, Anm.). Bei den restlichen Figuren war das ganz anders: Da gab es etwas Präzises, das ich von ihnen wollte, Dinge, die genauso dargestellt werden sollten.
In Drop of Sun war es völlig klar, dass wirklich alle Laien sein sollten, da gab es keine Diskussion. Auch rückblickend macht das für mich immer noch so Sinn, alle sind auch wirklich die, die sie im Film spielen. Das ist also auch eine Art Archiv und deshalb wichtig – nicht wichtig, weil ich da einen Film gemacht habe, sondern wichtig, weil diese Menschen etwas hinterlassen haben, eine Repräsentation gaben von dem, was sie sind, in dem Fall Sexarbeiterinnen und nigerianische Immigranten. Sie geben sich so, wie sie sind.
Ein großer Unterschied in der Arbeit ist natürlich zum Beispiel die Konzentrationsfähigkeit. Mit Menschen, die zum ersten Mal vor der Kamera stehen, dauert manches klarerweise länger. Auch eine ganz andere Art von Vetrauen ist wichtig und Geduld. Aus Geldgründen konnten wir kaum jemals proben, man hat also nur die Zeit am Set. Und im Vorfeld viele Diskussionen und viele Gespräche, über die Figuren, über Hintergründe und Gefühle. Es sind auch deren Geschichten, nicht nur meine.

Man kann zwischen diesen beiden Filmen Ähnlichkeiten finden. Beide fokussieren auf Personen, deren Geschichten quasi kein Existenzrecht haben, Personen und deren Beziehungen, die gesellschaftlich unsichtbar gemacht werden. Die jeweiligen Settings sind auf den ersten Blick sehr unterschiedlich: Einmal die Stadt, die dystopisch und mysteriös anmutet, andererseits das Dorf, scheinbar idyllisch mit Strand und Meer. Zwei völlig verschiedene örtliche Zentren mit blauen Leuchtschildern, das Radisson – der Film ist zwar in Schwarzweiß, doch man kennt es blau – und das Café „Wet Sand“. Wie sind Sie an diese Gegenteile jeweils herangetreten? Wie kam es zu dieser Verschiebung weg von den eher lose erzählten Schwarzweißbildern hin zu sehr farbenfroher Optik und einer Story, in der sogar Elemente eines Crime-Genrefilms durchschimmern?
Um mit den Bildern anzufangen: Seit ich dem Kino näherkam, also seit fast zehn Jahren, arbeite ich mit derselben DOP, Agnesh Pakozdi. Wenn wir eine Geschichte auf Papier vor uns haben, überlegen wir, was die richtige Form sein kann, diesen Stoff so zu erzählen, dass er auch wirklich mit dem Publikum kommunizieren kann. Bei Drop of Sun war es zusätzlich so, dass ich sehr viele theoretische Texte gelesen habe, um irgendwie zu legitimieren, dass ich diese Story erzähle, die nicht meine eigene ist. Das würde ich so nicht mehr machen, aber damals schien mir das richtig. Besonderen Eindruck machte damals der dekoloniale Autor Frantz Fanon mit seinem Buch “Black Skin, White Masks” auf mich. Der Titel des Films ist auch ein Zitat daraus. Die Story des Films fühlte sich so weit von mir entfernt an, obwohl ich persönliche Bezüge hatte; ich war durchaus nahe dran, aber gleichzeitig eben weit weg, nicht in der Haut dieser Personen, nicht in deren Körpern. Es war auch wichtig, die Themen nicht zu romantisieren; es sollte roh werden, möglichst losgelöst von Entertainment. Und dann ging es natürlich um einen Kontrast, nicht so sehr um einen Rassen-Kontrast, mehr um sozialen Kontrast. Das sprach am Ende alles für Schwarzweiß.
Bei Wet Sand war es dann eigentlich sehr schnell offensichtlich: Schon beim ersten Begehen der Location war uns klar, dass wir das nicht ohne Farben machen können. Überall, auf und in den Gebäuden, auf Wänden und Toren waren Farben – Farben, die schon sehr verblichen waren. Sie waren da, hatten aber irgendwie ihre Kraft verloren, sie schienen nicht mehr. Auch die Charaktere haben ja ihre eigene Farbpalette, Fleshka viel Orange, Moe mehr Blau und Gelb … Und wegen des Genres: Ja, auch das hatten wir im Hinterkopf, es gibt diese leichten Thriller-Elemente, aber sehr, sehr subtil. Ich hatte mich sogar eher ein bisschen an Western orientiert: Das kleine Dorf, der Held kommt und rettet es, danach verschwindet er wieder; nur dass die Heldin hier bleibt. Die Geschichte von Wet Sand wäre in der Stadt nicht möglich gewesen, sie brauchte diese Mikro-Gesellschaft. Ich war anfangs tatsächlich auch ziemlich nervös, ich hatte das Ländlichste eigentlich nur von Urlauben gekannt. Wir zeigen im Film dann aber auch kaum die große, weite Landschaft, die Bilder sind eher eng gehalten.

Meine letzte Frage ist auch eher mehrteilig, Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass Sie in beiden Filmen mindestens einmal die non-fiktionale Realität durch Medien ins Geschehen holen: In „Wet Sand“ sieht man im Fernsehen den vom orthodoxen Patriarchen beschlossene „Familien-Tag“, in „I Am Truly a Drop of Sun on Earth“ berichtet eine Stimme im Radio von der hohen Femizid-Rate im Land, während der männliche Protagonist im Schlachthaus arbeitet, mit Teilen von Tierkadavern. Diese Szene erinnert an eine aus Fassbinders „In einem Jahr mit 13 Monden“,
… Ja. …

… in der die Protagonistin Elvira ihre Geschichte erzählt, zu sehen sind derweil drastische Bilder von Tierschlachtung. Eine Ähnlichkeit mit ganz viel Gegensatz: Sonne, Mond, das Melodramatische bei Fassbinder, die ruhige, postkoloniale Perspektive mit Fanon, und natürlich liegen über 40 Jahre dazwischen. Meine Frage wäre, wie es möglich ist, sich Körpern anzunähern und über sie zu schreiben, sie zu filmen, die so vulnerabel und auch einfach statistisch gefährdeter (auch ökonomisch) sind, aufgrund von Misogynie, Rassimus, Queerphobie, Homophobie etc. Wie führt man Regie mit solchen Körpern, zeigt ihre Fragilität so, dass man ihnen auch Stärke zuspricht?
Diese Frage stelle ich mir tatsächlich immer, wenn ich beginne, einen Film zu machen. Schon beim Casting. Ich bin die Regisseurin und führe Regie, also gibt es natürlich ein gewisses Machtverhältnis. Alles in Filmen ist ja schon aus der Realität, nicht nur diese medialen Elemente. Bei mir kommt alles aus dem Erlebten, das ich gewissermaßen sammle, einsauge wie ein Schwamm. Daraus entsteht dann eine Geschichte, aus angehäuften Eindrücken von Schmerz, Frieden, Glück und so weiter, die ich teilen will und anders nicht teilen kann. Jedenfalls versuche ich immer zu fragen: Habe ich ein Recht, das zu erzählen? Ich mache meine Filme nicht wegen der, ich nenne es mal „Sexiness“ einer Story, ich suche nicht danach, das kommt eben zu mir, dieser Drang, etwas genauer nachzuspüren. Bezogen auf das Körperliche ist das eine sehr interessante Frage … Klar, das, was ich schlussendlich erreichen will, ist ein Film, eine visuelle Arbeit, die immer irgendwie ästhetisch ist. Da kommt man nicht raus, jede Sprache, die man für Fiktion wählt, ist ästhetisierend. Für mich ist wichtig, keine zusätzlichen Attraktionen hinzuzufügen, sich wirklich auf den hauptsächlichen Inhalt zu konzentrieren. Ich versuche auch, eine gewisse Distanz zu wahren, nie zu nahe an die Körper heranzugehen – jedenfalls ist das bei meinen Filmen bis jetzt so gewesen. Ein respektvoller Umgang ist wichtig. Ich will keine Musen, sondern Teilhabe an einem Prozess … Wenn das Sinn macht.

Ja, sehr. Im Zuge des Fassbinder-Gedankens drängt sich ja auch die Frage auf, inwiefern das Umfeld der Film-Entstehung, also die Herangehensweise an das Filmemachen, im Ergebnis sichtbar, spürbar sein kann. Das Melodramatische und Drastische von Fassbinder ist natürlich mit seiner radikalen und zweifellos auch toxischen Arbeitsweise verknüpft. Und Ihre Filme strahlen ebenfalls durchaus das aus, was Sie beschreiben.
Das geht auch übers Filmemachen selbst hinaus. Wir leben heute in einer ganz anderen Welt, ganz anders als damals. Auch in punkto Grundrespekt gegenüber anderen. Ich kann nicht auf einem Sessel sitzen und Leuten befehlen, was sie zu tun haben, das ist einfach nicht meine Arbeitsweise. Für mich ist es weit interessanter, etwas gemeinsam zu schaffen. Für mich ist und funktioniert das auch besser als Terrorisieren – was zweifelsohne auch zu Ergebnissen führen kann. Ich weiß es aber sehr zu schätzen, gemeinsam an ein Ziel zu kommen. Nach, sagen wir, 30 Tagen müssen wir dies oder jenes geschafft haben, und wir schaffen es, weil wir einander helfen und das gemeinsam erarbeiten. Nur ich alleine? Das interessiert mich nicht.

Im Anschluss daran noch die Frage: Können Filme Aktivismus sein? In einem Interview letztes Jahr sagten Sie auch, Sie seien gespannt auf die Reaktionen, wenn Sie „Wet Sand“ in Georgien zeigen können? Ist das nun geschehen?
Ich denke schon, dass meine Filme etwas Aktivistisches zumindest an sich haben. Persönlich kann ich natürlich immer nur kleine Dinge hier und dort machen, nie so viel, dass die Welt so wird, wie ich sie mir wünschen würde. Aber ja, auch mit Film können kleine Dinge passieren, Leute berührt werden …
Wir konnten Wet Sand im Dezember zeigen, auf einem winzigen Festival, da waren also überwiegend Cinephile und „etablierte“ Leute mit besonderem Naheverhältnis zum Kino. Von denen kommt auch meist gar nicht so viel – was auch etwas Symbolisches hat, finde ich. Von „gewöhnlichen“ Leuten bekamen wir viel echtes – ob gut oder schlecht, zählt für mich da weniger – Feedback, einige waren sehr berührt und bewegt. Was auch klar zu sehen war, war der Generationenunterschied. Die Älteren sind in extrem homophober Umgebung aufgewachsen – und die Jüngeren zwar auch noch, doch sie haben viel mehr Information und Kontext und sind deutlich aufgeschlossener.