Filmkritik

IDA

| Roman Scheiber |
Wo gehört dieses Mädchen hin? Faszinierende Identitätsstudie einer zerrissenen Nachkriegsgesellschaft

Um die vielleicht wirkmächtigste Szene dieses Kleinods von einem Film kurz vorwegzunehmen: Einen derart elegant inszenierten Abgang einer Figur hat man im Kino lange nicht gesehen. Die Szene funktioniert, wie der gesamte Film, über die perfekte Korrespondenz von Erzählinhalt und Ausdrucksform. Es gibt kein richtiges Leben im falschen, aber es gibt einen richtigen Film im gefälschten: Polen 1962, Schwarzweißbilder, dazu passendes Standard-Format 4:3. Man fühlt sich sofort in die Zeit und an den Ort versetzt, aber was stimmt hier nicht? Die Graustufen scheinen unendlich differenziert, der Blick lichtempfindlich, der Ton kristallklar. Es sind feinsensorisch abtastende Sinne von heute, die der polnische Exil-Regie-Auteur Pawel Pawlikowski (Last Resort, My Summer of Love) auf das trübe Geschehen von damals richtet.

Ida wird anfangs Anna genannt. Als sie ein Baby war, wurde ihre jüdische Familie ermordet, sie selbst zur Rettung in ein Kloster gesteckt. Erst jetzt, kurz vor ihrem Gelübde, erfährt sie von ihrer Herkunft. Sie trifft auf ihre Tante Wanda, die einzige Überlebende der Mischpoche, die „rote“ Wanda, die im Kommunismus Karriere im Justizsystem gemacht hat. Die züchtige Ida weiß nicht, was sie von der profanen Wanda halten soll: eine selbstbewusste Frau, die raucht, trinkt und wechselnde Bettgeschichten hat. Ungleicher könnte das Duo kaum sein, doch die beiden begeben sich auf eine mehrwöchige gemeinsame Spurensuche durch die polnische Provinz in die Vergangenheit ihrer Familie. Unterdessen werden die gegenläufigen Strömungen in der Nebelsuppe dieser zutiefst verunsicherten Gesellschaft spürbar: Dem Resopal-Geruch des Sozialismus und der taubstummen Weltabgewandtheit der Kirche wehen hier erste Duftnoten westlicher Unterhaltungskultur in Form einer jungen Band entgegen (und zeigt der sensible Saxophonist Interesse an Ida), doch hinter allem hängt der Moder des Nazi-Todesregimes und seiner Mitläufer.

Wenn in einem Kino der Zeichenhaftigkeit die Köpfe durch die Kamera von ihren Leibern getrennt werden und so eher mit dem Himmel darüber verbunden sind, dann ist das nicht weniger buchstäblich gemeint als etwa die symbolische Dreiecksbeziehung in Polanskis Das Messer im Wasser (1962) geometrisch gezeichnet ist. Und wenn sich die „heilige“ Titelfigur in einer irritierenden Szene testhalber gewissermaßen selbst als „Hure“ inszeniert, verweist das einmal mehr auf die Formschönheit einer Narration, deren inhärentes Programm die Zerrissenheit ist. Ida ist ein schlichtweg faszinierender Film.