Anlässlich des historischen Specials der Diagonale: Notes on Martina Kudláček, die filmende Archäologin der internationalen Filmavantgarde.
Mit jedem Bild ihres Werks beweist Martina Kudláček, dass Dokumentarfilm der Ausdruck einer Haltung gegenüber der Welt ist. Besonders schön erkennt man das an den Interviewpassagen in ihren Filmen. Wenn sie ein Gespräch führt, so spürt man sofort eine große Vertrautheit zwischen der Filmemacherin und ihrem Gegenüber: Sie lässt den Befragten ihren eigenen Raum, respektiert ihre Persönlichkeit, quetscht nicht nur den einen Sager aus ihnen heraus. Es ist das Gegenteil jener orts- und geschichtslosen Zeitzeugen-Schnipsel vor neutralem Hintergrund, wie man sie aus dem Fernsehbetrieb kennt: Aus jeder Begegnung wird eine Porträtminiatur, die über den konkreten Zusammenhang hinaus oft auch viel über die jeweilige Person erzählt.
Diese Begegnungen sind für Kudláček ein wesentlicher Impuls ihres Filmemachens. So lernte sie auch einige der bedeutendsten Protagonisten der Filmavantgarde des 20. Jahrhunderts kennen: Jonas Mekas, Peter Kubelka, Stan Brakhage, Alfred Leslie, Miriam Arsham, Gerard Malanga, Mary Woronow, Marcia und Amos Vogel. Doch den Anfang machte Alexander Hackenschmied alias Hammid, der Fotograf und Kameramann war, dazu Regisseur, Editor, Ausstatter und sogar Kritiker. Was immer Sasha tat, er tat es, ohne Aufhebens davon zu machen. „I don’t like to talk, I express myself always in images“, lautet der Schlüsselsatz des Porträts Aimless Walk (1996), für das Kudláček den damals 90-jährigen, zurückgezogen in New York lebenden Nestor der tschechischen Fotografie und letzten Pionier der internationalen Filmavantgarde vor die Kamera holte.
Ihren ersten Film hat Martina Kudláček, geboren 1965 in Wien, zusammen mit ihrem Vater und ihrem Bruder an einem Samstagnachmittag im Bellaria-Kino gesehen. Sie war fünf, sah aus wie drei und ihr großer Bruder stemmte sie an der Kassa hoch, damit sie größer wirkte. „Es war ein sehr aufregendes Erlebnis, denn Münchhausen war erst ab sechs Jahren erlaubt. Die Frau an der Kassa hat geschmunzelt und gefragt, wie alt ich bin, und dann bin ich ganz rot geworden. Sie hat aber gemeint, ich sei groß genug, und wir sind hinein in das Kino und sahen diesen Film. Gedreht in Agfacolor, farbenprächtigst! Niemals werde ich diese Szene vergessen, wenn Münchhausen, der Lügenbaron, seinen Flug auf den Mond macht. Also der Wunsch, groß zu sein, um ins Kino zu gehen, war eine ganz tolle Erfahrung.“
Damit, so scheint es, war Kudláčeks weiterer Lebensweg quasi vorgezeichnet. In den achtziger Jahren studierte sie Kamera und Dokumentarregie an Prags berühmter Filmschule, der FAMU. Die Ausbildung dort erinnert die Filmemacherin als eher handwerklich orientiert, „oft auch sehr, sehr streng darin, wie etwas belichtet sein muss, wie man mit einer Genauigkeit und gewissen Ehrlichkeit an die Arbeit an einem Film herangeht. Da gab’s kein Durchschwindeln.“
Avantgardefilme zu sehen war damals kein ganz leichtes Unterfangen, im Gegenteil: Hin und wieder nur lief ein Programm in einem Museum oder auf einem Festival. In einer Buchhandlung entdeckte Kudláček stattdessen ein kleines Büchlein, genauer gesagt: den Merve-Band Nummer 117, „Poetik des Films“, mit einer Auswahl von Maya Derens Schriften zum Film. Darin beschreibt Deren – die mit dem 1943 in Los Angeles zusammen mit ihrem damaligen Ehemann Hackenschmied/Hammid gedrehten Film Meshes of the Afternoon zur Ikone der US-Avantgarde aufstieg – unter anderem, wie sie ihre erste Bolex kaufte, und was diese Sehmaschine, dieser erste Moment des Filmemachens, in ihr alles auslöste. Das Buch wurde Kudláček zu einem Wegbegleiter, sie trug es fortan „wie einen Talisman“ bei sich.
Wenig überraschend also, dass sie dieser legendären Filmemacherin auch ihren ersten abendfüllenden Dokumentarfilm widmete, In the Mirror of Maya Deren (2001). Wie so oft ist es die „Gnade der Begegnung“, die den letzten Anstoß dazu gibt. Eines schönen Tages im Sommer 1997, erzählt Kudláček, habe sie, bloß kurz auf Besuch in New York, im dortigen Filmmuseum, dem Anthology, vorbeigeschaut. „In dem Moment, als ich das Gebäude betrete, rollt Jonas Mekas gerade ein Plakat zusammen, auf dem steht: ‚I’m looking for a filmmaker, preferably a woman, to work with me hundreds of hours on the Maya Deren films. No money in it. Only love of cinema. Jonas.‘ Ich fragte ihn also, ob er jemanden gefunden habe. Er verneinte: Es habe sich leider niemand gemeldet – ‚I think you should do it.‘“
Abgesehen von sechs – in jedem Sinn – vollendeten Filmen, hinterließ Deren bei ihrem Tod 1961 eine Reihe unveröffentlichter Fragmente, etliche Stunden auf Haiti aufgenommenen, „ethnografischen“ Materials und ein umfangreiches Archiv von Tonbändern, auf denen sie haitianische Musik, diverse Lectures und Entwürfe zu ihrer eigenen, dezidiert weiblichen Ästhetik des Films aufgezeichnet hatte. Dieser „heilige Gral des Kinos“ (Mekas) wurde von Kudláček für die Arbeit an ihrem Film geborgen und in Gesprächen mit Derens einstigen Weggefährtinnen und Bewunderern aufgearbeitet.
„Im Herzen“, sagt Martina Kudláček über sich, „bin ich eigentlich eine Archivarin.“ Bei ihrer nächsten Arbeit kam ihr dieses Selbstverständnis noch weit mehr zugute. Notes on Marie Menken (2005) ist nicht nur ein schlicht hinreißendes Porträt der 1909 als Tochter litauischer Immigranten in New York geborenen und 1970 ebendort verstorbenen Filmemacherin, die unter anderem Andy Warhol zu seiner ersten Kamera verhalf, sondern genau so sehr auch ein filmarchäologisches Projekt.
Denn Menken machte ihre kleinen, immer aus der Hand gedrehten Filme, von denen etliche auch nie abgeschlossen oder gar öffentlich gezeigt wurden, vor allem für sich selbst. Der größte Teil ihres Nachlasses, darunter Fotografien und Briefe, private Tondokumente sowie Dutzende unersetzlicher Original-Filmrollen, wurde von der Familie in einem Container eingebunkert, bis Kudláček bei ihren Recherchen auf diesen ungehobenen Schatz stieß und die Bestände für das Anthology Film Archives inventarisierte und sicherte. Einige dieser Ausgrabungen sind dann auch in dem Film zu sehen, die spektakulärste: The Gravediggers from Guadix, ein längst verloren geglaubtes, 1958 unter Mitarbeit von Kenneth Anger entstandenes Meisterwerk über einen katholischen Orden in Spanien.
Ausdauer und Hartnäckigkeit zählen zu Kudláčeks überragenden Eigenschaften. Gut sechs Jahre arbeitete sie an Fragments of Kubelka (2013), ihrer vierstündigen, gleichermaßen subtilen wie lehrreichen Annäherung an Peter Kubelka, den legendären Avantgardefilmer, radikalen Koch, gewitzten Kulturanthropologen und Welterklärer. Einige der stärksten Momente verdanken sich der Beharrlichkeit, mit der sie jede noch so vage Spur verfolgt und dann schlicht Fantastisches ans Licht bringt: einen jungen Filmvorführer aus New York etwa, der sich den Filmstreifen Arnulf Rainer (nach Kubelkas gleichnamigem Werk) um den Oberarm hat tätowieren lassen; oder das Making-of von Pause!, in dem man sieht, wie Rainer seine Performance vor dem Spiegel einstudiert und dass Kubelka tatsächlich einmal eine Kamera in der Hand hatte.
Filme wie die Martina Kudláčeks fristen zunehmend ein Dasein am äußersten Rand selbst des geförderten Kinobetriebs. Umso wichtiger ist, dass es sie gibt und dass sie weiterhin ermöglicht werden, zumal sich das Arbeiten zusehends schwierig und zeitintensiv gestaltet, die Abstände von einer Premiere bis zur nächsten immer länger werden. Derzeit bereitet Kudláček einen Dokumentarfilm über Kurt Kren (1929–1998) und sein beeindruckendes Œuvre vor, das in radikalen künstlerischen Richtungen wie dem Wiener Aktionismus oder der Punk-Bewegung seinen Widerhall findet.