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MAY DECEMBER

May December

Im Spiegel der Wahrheit

| Pamela Jahn |
Todd Haynes erzählt in „May December“ vor dem Hintergrund eines wahren Skandals die Geschichte einer verbotenen Liebe als intrigantes Verwirrspiel mit Humor und verführerischen Fallstricken. Der Regisseur dazu im Gespräch.

 

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Manchmal genügt eine braune Papierschachtel. Der ganze Skandal hinter der komplizierten Liebesgeschichte zwischen Gracie (Julianne Moore) und ihrem Mann Joe (Charles Melton) verbirgt sich darin. Die Schauspielerin Elizabeth (Natalie Portman), die Gracie demnächst in einem Film verkörpern soll, findet das kleine Paket vor dem Haus der Familie, als sie zu einer privaten Grillpartie erscheint. Gracie öffnet die Verpackung des anonymen Geschenks mit einem routinierten Blick aus Abscheu und Gleichgültigkeit. Es ist „S-H-I-T“, erklärt sie Elizabeth gegenüber kurz und kühl. Und es ist längst nicht der erste Affront dieser Art. Der Inhalt der Schachtel ist eine unverblümte Metapher für die hartnäckige Empörung, die Gracie seit ihrem vermeintlichen Fehltritt vor 23 Jahren entgegenschlägt. Damals hatte sie als verheiratete Mitdreißigerin zum ersten Mal Sex mit Joe, der zu dem Zeitpunkt kaum ein Teenager war. Als ihre Affäre ans Licht kam, stürzte sich die Boulevard-Presse auf den Fall. Gracie wurde wiederholt wegen Verführung Minderjähriger verhaftet und kam zweimal vor Gericht. Ihre Romanze mit Joe hielt jedoch über sämtliche Gefängnisstrafen hinweg. Dass sich Todd Haynes der Verfilmung dieser verbotenen Liebesgeschichte angenommen hat, klingt zunächst nicht ungewöhnlich. Filme wie Far From Heaven (2002) und Carol (2015) haben gezeigt, mit wieviel Kunstfertigkeit und Leidenschaft der 1961 in Los Angeles geborene Regisseur in seinen Melodramen immer wieder die Trugbilder des amerikanischen Traums platzen lässt. Als Vorreiter der New-Queer-Cinema-Bewegung der frühen neunziger Jahre beleuchtet er in seinen Werken gerne die Schattenseiten zwischenmenschlicher Beziehungen, die Nichträume zwischen Schein und Sein. Aber nicht alles in May December ist reine Fiktion. Im Kern dieses beunruhigenden Verwirrspiels aus Wahrnehmung und Projektion, steckt eine wahre Geschichte, der Fall Mary Kay Letourneau. 1996 wird der Lehrerin ein Verhältnis mit ihrem zwölfjährigen Schüler Vili Fualaau zur Last gelegt. Wie Gracie im Film muss auch sie für mehrere Jahre hinter Gitter. Die zwei Kinder, die aus der Beziehung hervorgehen, wachsen solange bei Fualaaus Mutter auf. Im Mai 2005 heiraten Letourneau und Fualaau, die Ehe hält 14 Jahre lang. Doch einfach ist die Beziehung auch in ihrer vermeintlich glücklichsten Zeit nicht.

Drehbuchautor Samy Burch holt für seine Version des Falls noch etwas weiter aus. Die Aussicht auf eine Verfilmung macht aus der Skandalgeschichte einen Ego-Kampf zwischen zwei verblendeten Frauen, die in Haynes’ Inszenierung eine seltsame, faszinierende Symbiose vollziehen. Portman verleiht Elizabeth zunächst die einstudierte Höflichkeit einer gelangweilten Schauspielerin, die sich anstrengen muss, eine freundliche Fassade aufrechtzuerhalten. Doch schon bald setzt ihr zunehmend undurchsichtiges Auftreten im Umfeld der Familie eine Lawine der emotionalen Verstrickungen in Gang, die Gracie stutzig macht und Joe fasziniert. Haynes hat sichtlich großen Spaß daran, mit den Erwartungen des Publikums zu spielen, wohin die Geschichte führen wird. Moore und Portman tun es ihm gleich. Ihre perfekt synchronisierten Auftritte verleihen dem Film einen Großteil seiner schrägen Komik und Rätselhaftigkeit. Als Elizabeth einmal die Frage aufwirft, warum Gracie und Joe trotz der allgemeinen Ablehnung in der Nachbarschaft geblieben sind, behauptet die Hausfrau, sie wäre naiv gewesen. Wirklich glauben will man ihr das nicht. Denn auch Moore versteht es ausgezeichnet, ihre Figur zu verschlüsseln: Einerseits gibt sie die liebende Ehefrau, doch meistens hat sie in ihrer Beziehung mit Joe die Hosen an. Als hingebungsvolle Mutter ist sie stolz auf ihre Kinder, aber gleichzeitig schikaniert sie ihren Nachwuchs bei jeder nur erdenklichen Gelegenheit.

Die ungewöhnlichste Figur in dieser zunehmend schwülen Dreiecksgeschichte ist jedoch Joe. Stilvoll verschiebt Haynes den Fokus im Verlauf der Handlung auf ihn. Man merkt es daran, dass die Bilder schwerer und düsterer werden. Die Stimmung zieht sich zusammen wie ein Orkan. Aber es ist Charles Meltons gequälte Darstellung, die dem Film seine sich langsam aufbauende emotionale Kraft verleiht. Auch Joe, ein gebrochener junger Mann mit einem massigen, schwerfälligen Körper, spielt mehrere Rollen, als Vater und Ehemann, sexy Lover und traumatisierter Mensch.

Gegen Ende von May December sagt Gracie zu Elizabeth, dass unsichere Personen gefährlich seien. Es ist schwer zu sagen, ob sie damit ihr Gegenüber meint oder sich selbst. Beide Frauen teilen, wie sich herausstellt, viele Eigenschaften und Charakterzüge, von denen nur die wenigsten achtbar sind. Haynes stellt sie häufig vor einen Spiegel, zusammen oder allein. Und wie in einem Spiegelkabinett kann man sich auch als Zuschauer nie sicher sein, ob das, was man in dem Moment sieht, tatsächlich der Wahrheit entspricht. May December wirkt wie eine seltsam reizvolle Illusion, in der nichts echt und nichts vertrauenswürdig scheint.

 


 

Herr Haynes, es war Natalie Portman, die Sie auf das Drehbuch aufmerksam gemacht hat. Was hat Sie daran gereizt, die Geschichte zu verfilmen?
Todd Haynes:
Was mir daran gefiel, war die Unsicherheit, die ich beim Lesen verspürte. Ich war fasziniert, ich war beunruhigt, weil ich die Figuren nicht zu fassen bekam und die Geschichte immer wieder neu ausloten musste. Es passiert nicht oft, dass man ein Drehbuch liest, bei dem man derart aufmerksam sein muss, und ich fand, es wäre spannend, dafür die entsprechenden Bilder zu finden.

Hatten Sie von Anfang an einen bestimmten visuellen Stil vor Augen?
Auf Anhieb nicht. Wenn ich ein Drehbuch verfilme, das ich nicht selbst geschrieben habe, geht das nicht so schnell. Aber was mich sofort gepackt hat, war die Szene, in der Elisabeth den Brief von Gracie an Joe liest und dabei direkt in die Kamera schaut. Ich wusste, dass ich die Einstellung wie in Ingmar Bergmans Winter Light drehen wollte, wo Ingrid Thulin einen Brief vor einem neutralen Hintergrund vorliest – nur umgekehrt. Als eine Art Spiegelung.

Überhaupt sind Spiegelbilder ein wiederkehrendes Motiv im Film. Wie passt für Sie dazu die Musik aus Joseph Loseys „The Go-Between“ als zentrales musikalisches Thema, das sich wie ein roter Faden durch die Geschichte zieht?
Als ich Loseys Film vor einiger Zeit wiederentdeckte, hat mich die Musik von Michel Legrand komplett umgehauen. Sie steht völlig offen im Raum, fordert einen heraus und stellt den Zuschauer vor eine Reihe von Fragen. Man ist sofort in einem ungewöhnlich hohen Ausmaß alarmiert und spürt, dass hier etwas im Argen liegt, dem es auf die Spur zu kommen gilt. Die Musik ist wie eine riskante Aufforderung, sich auf die Geschichte einzulassen. Sie schreit einem förmlich zu: Lassen Sie diesen Film nicht einfach über sich ergehen! Ich fand, das passte perfekt zu dem Gefühl, das ich beim ersten Lesen des Skripts empfunden hatte.

Julianne Moores Figur, Gracie, basiert auf einer wahren Geschichte. Wie gut ist der Fall dem heutigen Publikum noch bekannt?
Samy Burch, der Drehbuchautor, hat sich viele Freiheiten genommen, aber es gab in den neunziger Jahren eine große Boulevardgeschichte, an die sich ein Teil des amerikanischen Publikums erinnern wird. Der Fall Mary Kay Letourneau war damals ein großer Skandal in den Medien.

Worum ging es genau?
Letourneau war eine Lehrerin im Bundesstaat Washington, die sich in einen ihrer Sechstklässler verliebte. Als das herauskam, wurde sie zu einer milden Gefängnisstrafe mit Therapie verurteilt. Später wurden über sieben Jahre Haft daraus, weil sie die Bewährungsauflagen missachtete und sich sofort wieder mit dem Jungen einließ. Sie wurde wiederholt schwanger. Ihr zweites Kind kam im Gefängnis zur Welt. Nach ihrer Freilassung trennte sie sich endgültig von ihrer eigenen Familie und blieb mit dem Jungen zusammen. Als Letourneau vor ein paar Jahren starb, waren sie geschieden. Aber sie blieben bis zum Schluss die wichtigsten Bezugspersonen füreinander.

Sehen Sie in der Geschichte einen Vergleich zu Woody Allen und Soon-Yi Previn, deren Beziehung in der Öffentlichkeit einen ähnlichen Aufschrei ausgelöst hat?
Der Hauptunterschied ist, dass er nicht verhaftet oder verurteilt wurde. Letourneau hat ihre Strafe abgesessen. Sie hat sozusagen ihre Schuld gegenüber der Gesellschaft beglichen. Dennoch war sie wahrscheinlich ihr Leben lang mit mehr Empörung und Hass konfrontiert als Allen jemals zuteil wurde, einfach weil sie eine Frau war, die sich in einen jüngeren Mann verliebt hat.

Glauben Sie, dass sich in der Hinsicht nach #MeToo auch etwas geändert hat?
Nein. Denken Sie nur an die wieder zunehmende gesetzliche Einschränkung der Freiheitsrechte von Frauen in Amerika, das ist ein gewaltiger Rückschritt für unsere Gesellschaft. Ich habe deshalb eher das Gefühl, dass die #MeToo-Bewegung nur in sehr ausgewählten elitären Blasen des kulturellen Bewusstseins stattfindet. Außerhalb dieser Bereiche werden die Handlungsspielräume von Frauen, von LGBTQ-Personen, von Homosexuellen und anderen Minderheiten mehr und mehr begrenzt. Das ist alarmierend und besorgniserregend. Wir leben in einer beunruhigenden Zeit.

Es ist schwer zu sagen, wessen Geschichte der Film vordergründig erzählt. Wer steht für Sie im Mittelpunkt?
Genau das hat mir von vornherein gefallen. Dass man zunächst denkt, Elisabeth sei die vertrauenswürdige Erzählerin, die uns in diese seltsame Beziehung zwischen Gracie und Joe hineinführt. Aber dann dauert es nicht lang, bis man auch sie zu hinterfragen beginnt, ihre Motive und ihr Verhalten, wie sie die Menschen um sie herum behandelt. Und man sieht Dinge in ihr, die einen an Gracie erinnern. Der entscheidende Faktor dafür ist jedoch Joe, den wir dabei beobachten, wie er zwischen den beiden Frauen navigiert, die plötzlich sein Leben bestimmen.

Sie arbeiten seit fast 30 Jahren regelmäßig mit Julianne Moore zusammen. 1995 spielte sie die Hauptrolle in Ihrem zweiten Spielfilm „Safe“. Was hat Sie beide über all die Jahre zusammengeschweißt?
Es ist einer der großen Glücksfälle meines kreativen Lebens, dass mein Werdegang mit ihrer Karriere zusammenfiel und wir uns früh gefunden haben. Ich bin immer wieder erstaunt über ihre Arbeit, ihre Beziehung zum Medium Film, die Art und Weise, wie sie mit der flüchtigsten Bewegung den größten Ausdruck vermitteln kann. Ich denke, was uns verbindet, ist, dass wir uns zu ähnlichen Geschichten hingezogen fühlen. Geschichten, die sich den gängigen Trends im Kino widersetzen, wie etwa dem Versuch, den Menschen das Gefühl zu geben, dass alles in Ordnung sei. Sie spielt keine starken Frauen, die ihre Meinung sagen, die wissen, was sie wollen, und die am Ende als Siegerinnen dastehen. Vielmehr interessiert sie sich für die zerbrechliche Seite der Menschen, für die Ängste, die wir alle spüren.

„May December“ ist einerseits ein Melodrama, wie man es von Ihnen kennt. Neu ist, dass Sie diesmal auch mit den Stilmitteln der Seifenoper arbeiten.
Ja, das stimmt. Vielleicht ist es meine erste richtige Komödie, wenn auch eine sehr düstere. Der Humor war bereits im Drehbuch angelegt. Aber es brauchte letztendlich diese Schauspieler, um all die großen Gesten um sie herum zuzulassen, damit man denkt, okay, wir dürfen darüber lachen. Das erlaubt es dem Publikum, den Film zu genießen, obwohl er sehr verstörende, komplexe und beunruhigende Themen behandelt.

Sie haben Ingmar Bergman als Referenz erwähnt, aber im Ton erinnert Ihr Film vielleicht mehr noch an die Werke von Pedro Almodóvar. Hatten Sie ihn bei der visuellen Gestaltung ebenfalls im Hinterkopf?
Das ist ein großes Kompliment. Almodóvar ist für mich ein Regisseur, dessen Zugang zum Kino einer eigenständigen Kategorie entspricht. Sein Humor, die Art seines Schreibens, die Vielschichtigkeit der Handlungen, die Farbpalette seiner Inszenierungen, all das gehört zum großen Almodóvar-System, das ich sehr bewundere. Er spielt für mich in der gleichen Liga wie Hitchcock. Dagegen lassen sich meine Filme nicht so eindeutig zuordnen, denke ich.

Empfinden Sie sich selbst, wie es so oft heißt, als „Frauenregisseur“?
Die Bezeichnung ist für mich die höchste Ehre. Ich persönlich habe seit meiner frühesten Kindheit immer alles von Frauen gelernt, und ich sehe mich heute als jemand, der Geschichten über Frauen erzählt, die die Menschen berühren. Solange ich kann, werde ich weiterhin Filme machen, die Frauen und ihre Schicksale in den Mittelpunkt stellen. Es sind die wahren Geschichten des Lebens.