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Le temps retrouvé/Die wiedergefundene Zeit (Frankreich/Italien/Portugal 1999)

Proust | Film

Im Strom der Unendlichkeit

| Jörg Becker |
Anlässlich des 150. Geburtstag von Marcel Proust blicken wir auf die Möglichkeit/Unmöglichkeit der filmischen Adaption von „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit / À la recherche du temps perdu“.

„Das ist eigentlich nur die Geschichte einer Person, die Marcel Proust ähnlich ist. Die Geschichte des Erzählers, der sich eine Frage stellt, nämlich: Bin ich ein Schriftsteller? Das ist ein Mann, der sich verliert – deshalb spricht man von der ,verlorenen Zeit‘ – in den Salons, in der mondänen Welt und in Frivolitäten. Und der suchend und entdeckend am Ende des Werks – und das ist die ,wiedergefundene Zeit‘ – die Offenbarung der Zeit hat, der Zeit, die alles transzendiert, d.h. die Offenbarung der Kunst. Und deshalb beschließt er am Ende zu schreiben. Das ist sein Weg. Das ist ein Aspekt. Es gibt natürlich andere. Aber es ist der Aspekt, auf den ich mich mit Raul Ruiz bei der Adaption gestützt habe“, so erklärt Gilles Taurand in einem Interview über die Verfilmung des letzten Bandes von Marcel Prousts Romanzyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, Le temps retrouvé/Die wiedergefundene Zeit (Frankreich/Italien/Portugal 1999), zu dem er und der Regisseur des Films, Raúl Ruiz (1941-2011), das Drehbuch verfasst hatten.

Konkretion und Auslöschung
Mit der Frage „Unverfilmbar?“ waren Reiner Niehoffs Betrachtungen zu Prousts „À la recherche du temps perdu“ im Verhältnis zum Film überschrieben (im Booklet zu: Raul Ruiz, Die wiedergefundene Zeit. Nach dem Roman von Marcel Proust. Berlin: Suhrkamp 2011 [fes 20], S. 29-60) – und vorderhand, grundsätzlich ist man versucht zu sagen, dass „Verfilmung“ – nicht allein dieses dreieinhalbtausendseitigen Opus, sondern von Literatur überhaupt – immer schon das eigentliche Problem ist, etwas Missliches dadurch, dass filmische Darstellung der Lektüre eines literarischen Textes deren allmählichen imaginativen Erschließung unweigerlich ihre Dauer, den Raum zu möglichen Abschweifungen, Kehren und Spiralen in der Zeichenwahrnehmung entzieht.

Der Bund mit der Sprache erscheint aufgekündigt, dagegen löscht der Film Stimme und Schreibweise, muss dem, was ein Text an Bildern auslöst, ein Gesicht verleihen, das in seiner besonderen Konkretion immer falsch ist, denn wo das Film-Bild konkret ist, liefert die lautliche Folge der Sprache immer nur ein typisiertes Vorstellungsbild. Wie sollte man da Verfilmungen als Visualisierungen eines Textes begreifen, wenn doch dabei das Lektürebild durch die hyperreale Konkretion einer Einstellungswahl mit Sound und Dialogen ersetzt wird – diese Übertragung in Bilder scheint immer um den Preis einer Auslöschung zu geschehen.

Wiederfinden der einzigartigen Verbindung
„Einige verlangten, der Roman solle uns etwas wie einen kinematografischen Ablauf der Dinge vor Augen führen. Diese Auffassung war absurd. Nichts entfernt weiter von dem, was wir in Wirklichkeit wahrgenommen haben, als eine solche kinematografische Schau.“ („Die wiedergefundene Zeit/Le temps retrouvé“) Für Proust war der Film, wie er ihn in den Pionierjahren der Brüder Lumière gesehen haben könnte, nicht die Wirklichkeit, höchstens eine Erweiterung naturalistischer Ästhetik. Ihm zählte eine rein ästhetische Erfahrung, die sich nicht in der Gegenwart des Erlebnisses sondern raumzeitlich versetzt realisiert. Das ist vom Film weit entfernt. Das folgende, häufig genannte Zitat geht auf die Grundannahmen der Proustschen Schreibweise, aus dem Munde seines Erzählers in „Le temps retrouvé“, zurück: „Eine Stunde ist nicht nur eine Stunde, sie ist ein mit Düften, mit Tönen, mit Plänen und Klimaten angefülltes Gefäß. Was wir die Wirklichkeit nennen, ist eine bestimmte Verbindung zwischen diesen Empfindungen und Erinnerungen, die uns gleichzeitig umgeben – ein Verbindung, die bei einer einfachen kinematografischen Wiedergabe verlorengeht, da diese sich umso mehr von der Wahrheit entfernt, je mehr sie sich auf sie zu beschränken vorgibt -, eine einzigartige Verbindung, die der Schriftsteller wiederfinden muss, um für immer in seinem Satz die beiden Glieder miteinander zu verketten.“

Prousts Stil erscheint angetrieben von der Suche nach einer syntagmatischen Schreibweise, die simple Aussagen durch eine unendliche, spiralförmige Einlagerung von Nebensätzen, Einschüben, Anhängen und Zusätzen ins Weite dehnt, zwischen Subjekt und Prädikat eines Satzes immer neue Sätze einfließen lässt, dabei nicht fort-, vielmehr intensiv hineinschreibend, einem Trieb zur Bezeichnung folgend, der sich in dem Maße zu entfalten scheint, in dem er nicht auf eine Aussage hinausläuft, sich fügt.

Eindruck unendlicher Lektüre
„Es ist immer ein Schock, die Figuren eines Buches, das man sehr mag, plötzlich verkörpert zu sehen; aber darin liegt die ganze Problematik des Kinos. Man muss diese Buchstäblichkeit annehmen, die es vorschreibt.“ (Raúl Ruiz, 1999) So tut es der Regisseur, betont diese Über-Konkretion des Kinos gegenüber dem Text, lässt „gleich zu Beginn vor dem Kirchturm von Combray die Bäume auf Schienen hin und her gleiten, als befänden wir uns im Vaudeville Degas‘; die Konkretion, einmal reflektiert, ist immer theatral. Deshalb scheut er sich auch nicht, in einer Art Über-Plastizität Kostüm und Dekor historisch-allegorisch üppig auszubreiten und die Rollen durchweg aus dem Gotha der Schauspielerprominenz zu besetzen.“ (Reiner Niehoff, „Unverfilmbar?“ 2011) Das tableau vivant, das lebende Bild ist für Ruiz die Konstruktion eines Rahmens, in dem bildimmanente Bewegung, die Veränderung von Proportionen und Perspektiven spürbar wird, etwa in der Verschiebung ganzer Zuhörer-Reihen beim Matinée-Konzert. Ruiz unterläuft jenes ‚Gesetz‘, das er im Hollywood-diktierten ‚großen Erzählkino‘ wirksam sieht, den Zwang, jedes Detail auf die Handlung zu fokussieren. „Wenn es heute ein Übel im Kino gibt, dann liegt das an dem, was ich ‚das Gesetz der Effizienz der Einstellung‘ nenne.“ (Ruiz) Anstelle der einen Erzählung lässt er die vielen kleinen Narrationen der Träume, Zeiten und teils überdimensionierten Objekte treten. Durch die vielen Verschiebungen und Überblendungen seiner Elemente entsteht der Eindruck einer unendlichen Lektüre, welche die Zeit verliert, in der sie sich abspielt, und jedes Mal von Neuem wiedergefunden werden kann.

Film muss sich als eine eigene irreale Kunstform bewähren, denn die Kunst der Wirklichkeitsschilderung leistet Literatur besser. Eine Verfilmung seines Romans wäre Proust ein Graus gewesen, davon abgesehen, dass die „Recherche“ weithin für unverfilmbar gegolten hat (was in Anbetracht der Unersättlichkeit unseres Streaming-TV-Zeitalters gegenüber Serien-geeigneten Stoffen allerdings nicht mehr zutreffen dürfte). Dennoch gab es namhafte Versuche; die bekanntesten sind Volker Schlöndorffs Un amour de Swann/Eine Liebe von Swann (1984), Le temps retrouvé / Die wiedergefundene Zeit von Raoul Ruiz (1999) und Chantal Akermans La Captive / Die Gefangene (2000). Sie alle fanden opulente Bilder und einen speziellen Fokus, weil sie sich jeweils auf nur einen Teil des Zyklus beschränkten.

Kleine Geschichte von Proust-Adaptionen
1961 erwarb Nicole Stéphane, Baronesse von Rothschild, die Rechte an Prousts „Recherche“ und sollte die folgenden zwanzig Jahre auf die Suche gehen nach einer geeigneten Regie-Persönlichkeit. René Clément (ausgewiesen durch Emile Zola- und Highsmith-Filmadaptionen), aber auch die Nouvelle-Vague-Vertreter François Truffaut, Alain Resnais und Louis Malle wollten sich auf das undurchführbar erachtete Projekt nicht einlassen. Luchino Visconti, seit jungen Jahren begeisterter Proust-Leser und ausgewiesen zum Beispiel durch Senso (1954) und Il Gattopardo (1963), Erzählungen vom Niedergang der alten, hocharistokratischen Welt, kam als Idealfigur für diese Aufgabe ins Spiel, er inspizierte bereits die Normandie und Paris auf der Suche nach Schauplätzen, ein Szenarium (herausgegeben von Suso Cecchi D’Amico, 1984) wurde abgeschlossen und die geplante Besetzung versprach, grandios zu werden (Silvana Mangano, Charlotte Rampling, Alain Delon, Lawrence Olivier, Marlon Brando und natürlich Helmut Berger); die Fertigstellung von Ludwig (1972) und ein Schlaganfall Viscontis verhinderten die Realisierung.

An die Stelle des Proustschen Satzes, unmöglich filmisch transponierbar, war für Visconti das Proustsche „Gefühl“ getreten, in dessen Labyrinth er kinematografisch vordringen wollte; überdies schwebte ihm ein Gesellschaftsporträt im Stil von Balzac vor. Joseph Losey und der britische Dramatiker Harold Pinter waren die nächsten, die sich auf die „Recherche“ einließen, doch die Explosion der Kosten dieses „Films der Überbietung“, dessen Länge vorab schon ein Problem darstellte, sowie der Rückzug amerikanischer Investoren blockierten einen Fortgang des Unternehmens. Das übriggebliebene Screenplay (Pinter) jedenfalls offenbart so etwas wie die Kunst der Anspielung auf die schönsten bzw. bekanntesten Stellen aus dem kompletten „Recherche“-Werk. Es folgte Volker Schlöndorff, mit seinen Musil-, Kleist-, Heinrich Böll- und Günther Grass-Adaptionen als Literaturverfilmer prominent ausgewiesen: mit Un amour de Swan (1983) hat er den dritten Teil des ersten Bandes der „Recherche“ herausgelöst und als geschlossene Geschichte abgedreht. Schlöndorffs Interesse galt hier eher einem kulturhistorischen Panorama, dem Habitus seiner Figuren, den Zeichen und Körperhaltungen, die überdeutlich lesbar werden.

Abseits der großen Tableaus
Als Gegenmodelle eines „Proust-Films“, ohne große Bel époque-Kostümierung noch großer Geste, können Percy Adlons Céleste (1980) und Chantal Akermans La Captive (2000) betrachtet werden, Filme von kammerspielartiger Reduktion mit wenig Personal. Der direkte Zugang zur hocharistokratischen Welt scheint in Céleste verwehrt, Proust selbst spricht bei Adlon nur indirekt, durch die Erinnerung von Céleste Albaret, die dem Autor von 1914 bis zu seinem Tod 1922 als Haushälterin, Pflegerin und Archivarin unersetzlich wurde. Fünfzig Jahre später entwirft sie ein Porträt des späten Proust mit ihren Erinnerungen „Monsieur Proust“, die Percy Adlon zur Grundlage seines Zwei-Personen-Stücks wurde [franz. Originalausgabe Paris 1973; dt. EA 1974; Neuausgabe: siehe Anhang]. Adlon präsentiert Prousts Exkursionen in die Außenwelt in den Berichten, die dieser nach seiner Rückkehr Céleste erstattete, und vermag so die Vermitteltheit bzw. Filterung der „Recherche“ zu thematisieren.

Chantal Akerman verlegte ihren Film La Captive / Die Gefangene ins Paris der Gegenwart, befreite ihn von jeder Proust-Zeitgenossenschaft. Grundlage bildete „La prisonnière“, der fünfte Band der „Recherche“ – laut Akerman ein „obsessioneller Film“ um die Hermetik der Eifersucht, in dem die Filmemacherin auf Hitchcocks Vertigo zurückgreift. „Die Eifersucht Marcels, der hier Simon heißt, ist eine quasi detektivische Verfolgung und Produktion von Indizien, bei denen es unklar bleibt, ob sie überhaupt existieren. So kann Akerman in der Eifersucht den Willen zum Wissen ausmachen, der ein Wille zur Besetzung ist; wo Unklares war, soll Klarheit herrschen; wo sie – Ariane – ist, soll ich – Simon – werden. Nur dass in der Eifersucht der Wille zum Wissen sich in sich selbst verfängt; er macht den, der besetzt, zum Gefangenen seiner eigenen Besetzung.“ (Reiner Niehoff: „Unverfilmbar?“, 2011) So ist nicht Ariane, „la captive“, die Gefangene, sondern Simon; er ist der Gefangene seiner selbst, der eifersüchtige Verfolger, den die Kamera observiert.

Kinematografischer Proust
Le temps retrouvé von Raul Ruiz (1999) beginnt in Prousts Schlafzimmer, wo sich der gealterte Autor, von seiner Haushälterin Céleste (Chiara Mastroianni) gepflegt, alte Fotografien anschaut und in Erinnerungen zu schwelgen beginnt. Autor und Erzähler sind jedoch nicht identisch. Der Letztere, gespielt von dem italienischen Schauspieler Marcello Mazzarella, ist während des gesamten Films weniger eine handelnde als vielmehr eine passive, neutrale Figur.

Der Zuschauer sieht ihn mit Gilberte in Tansonville. Es folgen das Goncourt-Pastiche, das in realiter eines von Proust ist, die Fahrt ins Paris des Ersten Weltkriegs, die Gespräche mit dem später an der Front gefallenen Saint-Loup, mit Baron Charlus und dessen gescheiterte Aussöhnung mit dem Musiker Morel, die Auspeitschung des masochistisch veranlagten Barons in Jupiens Männerbordell, die Rückkehr des Erzählers nach einem Sanatoriumsaufenthalt ins Paris der Nachkriegszeit, das Wiedersehen mit dem durch einen Anfall geschwächten Charlus, die Epiphanie auf dem Bürgersteig und in der Bibliothek der Guermantes sowie der von ihnen ausgerichtete „Bal de têtes“. Der Film schließt mit einer Sequenz am Meer von Balbec – eine Erfindung der Drehbuchautoren – es finden sich Anleihen aus den anderen Teilen von Prousts Romanzyklus, etwa die Szene aus „Du côté de chez Swann“, in der die junge Gilberte eine Geste macht, die der Erzähler unanständig findet.

Die Erzählung wird immer wieder unterbrochen von Rückblenden, etwa in die Kindheit und Jugend des Erzählers, oder in die Erlebnisse mit den zahlreichen anderen Figuren, die im Roman auftauchen, um dann wieder zu verschwinden. Der Wechsel gelingt Ruiz mit Hilfe von Überblendungen, indem zwei Sequenzen schräg aufeinander gelegt werden, aber auch wenn das Geräusch eines Teelöffels oder ein vor langer Zeit gelesenes Buch Erinnerungen beim Erzähler auslösen. „Ich glaube nach wie vor, dass sein [Prousts; J.B.] Werk, entgegen allem Anschein, kinematografisch ist. (…) Proust arbeitet dauernd mit Überblendungen, er vermischt die Bilder. In meinem Film gibt es keine Überblendungen, die im Labor produziert wären. Die, die ich verwende, sind indirekt; sie sind mit Hilfe von Spiegeln entstanden.“ (Raúl Ruiz, 1999)

Abschweifungen
Ruiz geht es nicht darum, sich an konventionelle Erzählmuster zu halten. Da die Narration bei Proust „praktisch ohne Bedeutung ist“, wie er 1999 in einem Interview mit den „Cahiers du cinéma“ sagt, „genießt man beim Drehen eine große Freiheit (…) Ich mag Digressionen: Der Film schweift ab, und wenn man dann die Hoffnung aufgegeben hat, findet man sich plötzlich auf bekanntem Terrain wieder.“

„Der Zuschauer kann sich fragen, woran er überhaupt ist“, erklärt Gilles Taurand (Drehbuch Le temps retrouvé) seinerseits. „Wenn man die ,Recherche‘ liest, dann ist man desorientiert. Denn es ist eine wirkliche Reise. Und wenn der Film nicht den Eindruck eines fragmentierten, aufgelösten Raums vermittelt, dann ist er dem Geist von Proust nicht treu. Das war eine richtige Herausforderung, die ich faszinierend finde und die Raúl gelungen ist. Den Zuschauer verwirren, ihm seine normalen Bezugspunkte wegnehmen, das bedeutet, dass man ihn in die Position des Autors versetzt, der zu dechiffrieren, zu interpretieren versucht.“

Le temps retrouvé verwirrt zum einen durch den ständigen Wechsel der Zeitebenen. Zum anderen durch die Digression beziehungsweise „Depotenzierung der zentralen Figur“ des Erzählers, die auf der Ebene der Handlung „als Entdramatisierung und Entschleunigung“ (Reiner Niehoff) wiederkehrt. Die Kamera im Film ist nicht statisch, sondern stets in Bewegung. Sie folgt dabei allerdings nicht dem Protagonisten, sondern geht quasi eigene Wege, und so ist es nicht er, der die Handlung antreibt. Eher hört und schaut er, was andere sagen und tun. Es gibt nicht die eine Erzählung der Hauptfigur, sondern viele unterschiedliche – der Menschen, Dinge, Zeiten. Deutlich wird das an den übergroßen Gegenständen in Prousts Schlafzimmer wie einer Rose, Sanduhr oder Tür, aber auch an der buchstäblichen Verschiebung der Menschen, etwa des Erzählers an eine Leinwand in einem Restaurant, auf der Szenen aus dem Krieg gezeigt werden.

Verlorene Paradiese
Ruiz gelingt es, die diversen Zeitebenen im Film so miteinander zu verschränken, dass sich die Zeit quasi verflüssigt und der Zuschauer das Gefühl bekommt, als würde sie sich aufheben. Zugleich kommt der Erzähler zu dem Schluss, dass er eben diese verflossene Zeit auf besondere Weise wieder lebendig machen kann: „Wenn die Erinnerung aufgrund des Vergessens kein Band hat knüpfen können zwischen sich selbst und dem gegenwärtigen Augenblick, bewirkt sie, dass wir plötzlich eine neue Luft atmen. Neu, gerade deshalb, weil es eine Luft ist, die wir früher schon geatmet haben. Diese reinere Luft, welche die Dichter vergeblich versucht haben, dem Paradies anzueignen. Denn die wahren Paradiese sind jene, die wir verloren haben. Dies war die Erklärung dafür, dass meine Todesängste in dem Moment aufhörten, in dem ich unbewusst den Geschmack der Madeleine wiedererkannt hatte, weil sich in diesem Moment mein bisheriges Wesen außerhalb der Zeit befand. Dieses Wesen existierte immer nur außerhalb des Handelns und des unmittelbaren Genusses. Nämlich jedes Mal dann, wenn das Wunder einer analogen Sinnesempfindung mich aus der Gegenwart entführte. Ich habe weder in Balbec noch während meines Zusammenlebens mit Albertine das Vergnügen empfinden können, dass erst nachträglich für mich wahrnehmbar geworden war. Ich musste mich bemühen, die Empfindungen als die Zeichen ebenso vieler Gesetze und Ideen zu deuten, und zwar indem ich versuchte, zu denken, d.h. das, was ich sinnlich empfunden hatte, aus dem Halbdunkel treten zu lassen, es umzuwandeln in ein geistiges Äquivalent. Und dieses Mittel, das mir das einzige zu sein schien, was war es anderes als das Schaffen eines Kunstwerks.“