Performance, Literatur, Kunst, Film: Der Ausnahmekünstler Ivo Dimchev zeigt bei ImPulsTanz an einem Abend alles, was er kann.
Wenn von Ivo Dimchev die Rede ist, dann oft in Verbindung mit Adjektiven wie „extrem“ oder „radikal“. Das kommt nicht von ungefähr. Dimchev geht in seinen Performances tatsächlich weiter als die meisten seiner Kollegen. In „the P project“ etwa bot er einem Paar aus dem Publikum 200 Euro für die Simulation eines Geschlechtsverkehrs auf der Bühne; in „Fest“ zeigte er den Festivalbetrieb als Branche, in der jeder jeden fickt – im übertragenen, aber durchaus auch im wortwörtlichen Sinn; in „I-cure“ trat er als Wellness-Guru auf, der den Zuschauern versprach, sie von allen Sorgen und Leiden zu heilen – um ihnen am Ende schockartig vor Augen zu führen, dass es Schmerzen gibt, die niemand lindern kann. Und immer wieder schlüpft er in die Rolle und die High Heels der androgynen Kunstfigur Lili Handel – einer kahlköpfigen, schamlosen, queeren Diva.
Ja, man kann seine Arbeiten radikal oder extrem nennen. Man kann aber auch einfach festhalten, dass der Mann seinen Job ernst nimmt. „Manchmal gibt es in der Kunst das Gefühl, dass nichts mehr geht, weil alle Tabus bereits gebrochen sind“, meinte Dimchev in einem Interview mit der „Zeit“ einmal dazu. „Dann kannst du dich auf einen Trend draufsetzen – oder du nimmst dir die Freiheit, genau das Gegenteil zu tun und nur das zu machen, wozu du Lust hast. Wenn du dabei an die Grenze gehst und darüber hinaus, dann wird das immer aufregend sein.“
Manchen macht Ivo Dimchev Angst. Er kennt auf der Bühne keine Tabus, und er liebt es, Erwartungshaltungen auszuhebeln. Man weiß nie, was auf einen zukommt: Wird er als Mann oder als Frau auftreten? Wird er tanzen, singen oder sprechen? Wird er das Publikum mit hineinziehen? Der 42-jährige Performer, Choreograf, Musiker, Autor und bildende Künstler gehört aber nicht nur zu den unberechenbarsten Künstlern der Szene, sondern auch zu den vielseitigsten.
Der Allrounder
Bei ImPulsTanz ist Ivo Dimchev seit 2007, als er sein Debüt „Lili Handel“ zeigte, Stammgast. Alle in diesem Text erwähnten Produktionen – und etliche mehr – waren dort in den vergangenen Jahren zu sehen. Auch eine Ausstellung mit seinen Zeichnungen oder Konzerte mit seinen Songs standen schon auf dem Programm. Heuer zeigt er unter anderem seine neue Solo-Performance „Avoiding deLIFEath“. Dabei handelt es sich um die Bühnenversion einer gleichnamigen Aktion aus dem Vorjahr, als Dimchev sich in den Mumok-Hofstallungen sechs Tage lang seinen sieben Lieblingsbeschäftigungen – unterrichten, Gedichte schreiben, malen, Songs schreiben, Klavier spielen, Konzerte geben, Musikvideos drehen und Interviews geben – widmete. Damals praktizierte er jede dieser Aktivitäten jeweils eine halbe Stunde lang auch vor Publikum. In der Bühnenfassung werden es nur je 15 Minuten sein. „Das macht es intensiver und hoffentlich auch weniger langweilig.“ Wahrscheinlich ist „Avoiding deLIFEath“ also der ideale Abend für Dimchev-Einsteiger. Er bietet die Möglichkeit, in kompakter Form viele Facetten des vielseitigen Künstlers kennen zu lernen.
Der Heimatlose
Vor zehn Jahren lebte Ivo Dimchev eine Zeit lang in Paris, aber dort hat er sich nicht wohlgefühlt. „Ich hatte ein bisschen das Gefühl, ich sei hier unerwünscht“, erinnert er sich. „Das ist allerdings eine Erfahrung, die man als Bulgare fast überall macht. Man wird immer gleich in eine Schublade gesteckt, ich merke das zum Beispiel an den Journalistenfragen. Ob ich will oder nicht: Die Tatsache, dass ich Bulgare bin, beeinflusst die Art und Weise, wie meine Arbeit rezipiert wird. Und ich habe das Gefühl, dass das als potenziell gefährlich gilt.“
Vor ein paar Jahren hat Dimchev in Wien, in der Kaiserstraße, gewohnt, dann übersiedelte er nach Sofia. Er hatte dort ein günstiges Häuschen mit Garten gefunden, und er fand auch, dass es gerade in schwierigen Zeiten wie diesen in seiner Heimatstadt Leute wie ihn braucht. Inzwischen hat Dimchev seinen Wohnsitz schon wieder gewechselt, er lebt jetzt in London. Wahrscheinlich ist der Mann eben einfach nicht so der sesshafte Typ. Und in einem Häuschen mit Garten kann man sich Ivo Dimchev ohnedies nur schwer vorstellen.
Der Lehrer
Ivo Dimchev ist auch nicht der Lehrer-Typ, sollte man meinen. Aber das täuscht. Am Unterrichten gefällt ihm vor allem die Tatsache, dass es „nicht egozentrisch“ ist. „Man öffnet seine Tasche und teilt das, was drinnen ist, mit den Schülerinnen und Schülern. Das ist schön.“ Aber was kann man als Künstler überhaupt lehren? „Ich unterrichte Selbstbewusstsein und Mut“, sagt er. „Ich lehre meine Schülerinnen und Schüler, wie sie mich wieder loswerden.“
Im Workshop-Programm von ImPulsTanz ist Dimchev dieses Jahr mit zwei Kursen vertreten. In einem wird er mit jungen Künstlerinnen und Künstlern ein Stück namens „Voilà – the most important thing in the universe“ erarbeiten, das am Ende dann auch präsentiert wird. Dimchev möchte den Kursteilnehmern dabei vor allem Fokussierung vermitteln. Sie sollen sich zuerst einmal klar machen, was ihnen wirklich wichtig ist, und was davon beim Publikum ankommen soll.
Außerdem leitet Dimchev einen Workshop zum Thema „Love Song“. Das hat er noch nie unterrichtet, und er hofft, dass er dabei selbst etwas über Songwriting lernen wird. Entstehen bessere Liebeslieder, wenn man verliebt ist, oder wenn man Liebeskummer hat? Weder noch, findet Dimchev. „Für mich ist es am besten, wenn ich in neutraler Stimmung bin.“ Sein liebster Love Song ist übrigens „My All“ vom Mariah Carey.
Der Musiker
Noch vor seiner Tanzausbildung, mit 20, hatte Ivo Dimchev ein Jahr lang Operngesang studiert, und eigentlich könnte er auch als Popstar Karriere machen. Er hat eine tolle, sehr facettenreiche Stimme, und als Performer ist er ohnedies eine Klasse für sich. Trotzdem ist er, bisher zumindest, kein Popstar geworden, für seine Performances aber hat er immer wieder Songs – hauptsächlich Balladen – geschrieben, die er inzwischen auch in Konzertform präsentiert; voriges Jahr ist ein Live-Album („Songs from my shows“) erschienen. Bei ImPulsTanz wird er dieses Jahr ein „Selfie Concert“ geben; dabei sind die Fans herzlich eingeladen, während (!) des Konzerts für ein Selfie mit dem Künstler auf die Bühne zu kommen. „Ich liebe es, Selfies zu machen“, sagt Dimchev. „Es bringt mich meinem Publikum näher, weil wir dabei normalerweise ja auch ein bisschen reden. Ich bekomme auf diese Weise Feedback, oder zumindest kann ich in ihren Augen sehen, wie die Show bei ihnen ankommt.“
Der Amateurfilmer
Film ist eines der wenigen Felder, die Ivo Dimchev bisher kaum bearbeitet hat. Erst kürzlich hat er begonnen, Musikvideos zu seinen Songs zu drehen – was auch in „Avoiding deLIFEath“ ein Thema sein wird. „Manche meiner Videos finde ich richtig cool“, sagt Dimchev. „Ich habe keine Hemmungen vor Formaten, mit denen ich keine Erfahrungen habe. Ich finde ,learning by doing‘ okay. Es macht auf jeden Fall Spaß, und wenn es dann auch noch funktioniert: umso besser. Und wenn nicht, dann war’s eben nur ein Experiment, sorry!“
Es gibt nicht wenige Theaterkünstler, die offen zugeben, dass sie eigentlich lieber ins Kino als ins Theater gehen. Ivo Dimchev gehört nicht dazu. Und er beneidet die Filmemacher auch nicht um ihre Möglichkeiten. „Ich finde, die Live-Performance ist die größere Herausforderung“, sagt er. „Auf der Bühne musst du mit einer begrenzten Zahl von Elementen auskommen, es gibt auch viel weniger Möglichkeiten, zu überraschen oder interessante Übergänge zu finden. Es ist also schwieriger, auf der anderen Seite aber respektieren die Menschen die Anstrengung des Live-Künstlers, und wenn du wirklich wahrhaftig bist auf der Bühne, kann der Effekt sehr stark sein.“ Ins Kino geht Ivo Dimchev nur sehr selten. „Ich weiß gar nicht, warum, es ist seltsam. Ich lese auch keine Bücher.“ Dementsprechend hat er auch keinen Lieblingsregisseur, sein Lieblingsfilm war eine Zeit lang Gummo von Harmony Korine. Und welchen Film hat er zuletzt gesehen? „Im Flugzeug von Tokyo nach London habe ich Call Me by Your Name gesehen – und geweint. Wenn ich Filme schaue, dann meistens im Flugzeug, und ich weine immer. Ich liebe das.“
Wolfgang Kralicek ist freier Journalist und schreibt u.a. für „Theater heute“ und die „Süddeutsche Zeitung“. Außerdem ist er Mitglied im Kuratorium für Theater, Tanz & Performance in Wien.