Ein Gipfeltreffen: Paul Thomas Anderson verfilmte Thomas Pynchons Roman “Inherent Vice” mit gewohnt großartiger Besetzung
Im Oktober 2013 listete “Entertainment Weekly” die “25 Greatest Working Directors” auf – eine Aufstellung, über die man, wie über alle Best-of-Listen, trefflich streiten kann: Spielberg Erster, Tarantino Zweiter. Soweit okay. Scorsese Dritter? Naja. Woody Allen Neunter, weit vor Roman Polanski? Hhhmm. Ben Affleck Elfter, drei Plätze vor Michael Haneke? Wie bitte? Ang Lee 18., einige Plätze hinter Darren Aronofsky? Im Ernst? Wie auch immer: Es gibt vermutlich nur wenige der hier Gelisteten, die sowohl in der Branche, als auch bei der Kritik, in der strengen “ray”-Redaktion und bei jenem verschwindend geringen Teil des Publikums, der Regisseurinnen und Regisseure überhaupt namentlich wahrnimmt, unumstritten sind. Dazu gehören ohne Zweifel Kathryn Bigelow (Vierte) und Paul Thomas Anderson (Achter).
Das ehemalige “Wunderkind” Anderson, geboren 1970 mitten im Herzen der Filmindustrie, in Studio City, fiel schon 1996 mit seinem Debütfilm, Hard Eight (aka Sydney, aka Last Exit Reno) auf, einer lakonischen Tragödie im Spielermilieu. Philip Baker Hall, John C. Reilly, Gwyneth Paltrow, Samuel L. Jackson und Philip Seymour Hoffman: Das war ein illustrer Cast für den ersten, eher sparsam budgetierten Film eines 26-Jährigen. Und schon im folgenden Jahr gelang dem jungen Mann mit Boogie Nights ein Werk, das man getrost zu den Highlights der jüngeren Filmgeschichte zählen darf und das wohl noch einige Jahrzehnte Bestand haben wird. Wie es Anderson gelang, ein Ensemble von gut einem Dutzend glänzend charakterisierter Figuren zweieinhalb Stunden lang zu dirigieren, eine zutiefst bewegende Geschichte über Aufstieg und Fall eines jungen Mannes (Mark Wahlberg) zu schreiben, der in die “Goldene Ära” des Pornofilms hineinschlittert und zugleich ein fulminantes Zeitbild der siebziger und frühen achtziger Jahre zu entwerfen, das war schon mehr als beeindruckend. In dieser Tonart ging es mit Magnolia (1999) weiter, den manche noch über Boogie Nights stellen. Die Szene, in der es Frösche vom Himmel regnet, wird wohl vielen unvergesslich geblieben sein. Es folgte die sehr schräge Komödie Punch-Drunk Love (2002), in der Anderson u.a. bewies, dass er nicht nur Tom Cruise (Magnolia), sondern auch Adam Sandler in den Griff bekommen kann – keine leichte Übung, wie man in der Branche weiß. There Will Be Blood (2007) wurde mit zwei Oscars ausgezeichnet (Daniel Day-Lewis, needless to say, als bester Hauptdarsteller und Robert Elswit als bester Kameramann); The Master (2012), das nur wenig verschlüsselte Porträt des Scientology-Gründers L. Ron Hubbard, bleibt vor allem wegen der grandiosen Performance des 2014 tragisch aus dem Leben geschiedenen Philip Seymour Hoffman, einem engen Vertrauten des Filmemachers, in Erinnerung.
Alle Filme Paul Thomas Andersons tragen eine Handschrift: Sie sind komplex, um nicht zu sagen: labyrinthisch angelegt, versammeln vielschichtige und reichhaltige Figurenensembles, verfügen über äußerst einprägsame Scores und Soundtracks, dauern in der Regel zweieinhalb Stunden und mehr, und werden von der Kritik nahezu einhellig geschätzt. Kein Wunder, wenn die Hollywood-Schauspielelite sich nicht lange bitten lässt, wenn es darum geht, in seinen Filmen mitzuwirken (siehe auch das nachfolgende Interview mit Owen Wilson). Als Kassenschlager eignen sich seine Werke hingegen nur bedingt, dazu sind sie einfach zu fordernd. There Will Be Blood, satte 158 Minuten lang, spielte aber immerhin 40 Millionen Dollar ein.
Was der erst 44-jährige Anderson für die Filmbranche ist, ist in gewisser Weise der 77-jährige Thomas Pynchon für den US-amerikanischen Literaturbetrieb: eine Instanz, deren Einfluss man sich schwer entziehen kann. Dass der enigmatische, öffentlichkeitsscheue Schriftsteller von der Ostküste, dessen Familie bis zu den Gründervätern zurückverfolgt werden kann, und der Regie-Hot-Shot mitten aus L.A., Bruder von acht Geschwistern und Sohn eines Fernsehschauspielers der sechziger Jahre, nun anlässlich von Inherent Vice aufeinandertreffen, kann man nur als künstlerischen Glücksfall bezeichnen.
Was Paul Thomas Anderson, einen erklärten Fan des Autors, zu Pynchons 2009 erschienenem, vergleichsweise zugänglichem und mit knapp 500 Seiten eher schmalem Roman (deutscher Titel: “Natürliche Mängel”) hingezogen haben mag, lässt sich leicht nachvollziehen: Da ist zum einen Pynchons hinreißende Fabulierkunst, seine unnachahmliche Fähigkeit, in vergangene Epochen einzutauchen (man denke nur an “V.”) und, wahrscheinlich am wichtigsten, sein Genie, was das Entwerfen bunt schillernder Charaktere betrifft. Noch dazu ist der Roman eine Hommage an Los Angeles (nahezu alle Filme Andersons spielen in Kalifornien), an Raymond Chandlers Philip-Marlowe-Romane und an all die großartigen L.A.-Gangster-, Polizei- und Detektivfilme, notabene Roman Polanskis Chinatown und Curtis Hansons L.A. Confidential. Hier also “ermittelt” der Privatdetektiv Larry “Doc” Sportello (Joaquin Phoenix, der schon in The Master brillierte), oder besser gesagt: er stolpert durch eine Story, gegen die die legendär undurchschaubare Geschichte von Chandlers “The Big Sleep” geradezu linear erscheint. Da wir uns aber nicht in den vierziger Jahren, sondern im Jahr 1970 befinden, wird hier nicht (nur) viel getrunken, sondern es werden Drogen aller Art konsumiert. Der stets ein wenig benebelte “Doc” sieht sich einer Vielzahl bizarrer Männer, darunter ein sexsüchtiger Zahnarzt und ein heroinsüchtiger Saxofonspieler, und bisweilen recht undurchschaubarer Frauen gegenüber, die seine Suche nach einem verschwundenen Immobilienmakler nicht einfacher machen. Und natürlich, das muss einfach so sein, hat der Privatschnüffler so seine Probleme mit der Polizei, hier in Gestalt von Lieutenant Detective Christian F. „Bigfoot“ Bjornsen, der im Film von Josh Brolin dargestellt wird.
Diesen Dschungel filmgerecht zu lichten, war, wie Paul Thomas Anderson in einem “New York Times”-Interview im Vorfeld eingestand, keine Kleinigkeit. Dass Pynchon dabei kooperierte, kann allein schon als Sensation gelten, auch wenn Anderson anmerkte: “Statt Drehbuchautor sollte der Credit ,Sekretär des Autors’ lauten. Aber das heißt nicht, dass es keinen Spaß macht.” Immerhin handelt es sich bei Inherent Vice um die erste offizielle Leinwandadaption eines Pynchon-Romans, wenn man von einem deutschen Film, der lose auf “Gravity’s Rainbow” (1973) basiert, einmal absieht. Anderson hat das alles in dem Bestreben, “zumindest so lustig zu sein wie Pynchon”, noch angereichert mit “the best fart and poop jokes I could find”, wie er selbst sagt, ganz im Geiste seiner Lieblings-Underground-Comicsserie “The Fabulous Furry Freak Brothers”, die ihren Ausgangspunkt in der Hippie-Szene im San Francisco der späten sechziger Jahre hatte.
Alle Zutaten zu einem großen Film sind jedenfalls vorhanden, auch Andersons Langzeit-Kameramann Robert Elswit, mit dem er seit Boogie Nights alle seine Filme gedreht hat, ist wieder dabei. Und über allem schwebt die grandiose Musik von Neil Youngs zeitlosem Album “Harvest”.