Pete Docters Gefühlsfabel „Inside Out“ trifft Pixars Sweetspot zwischen himmelhoch-jauchzend und zu Tode betrübt.
Vor etwa fünf Jahren versuchte Pete Docter sich vorzustellen, welcher Film im präpubertären Kopf seiner elfjährigen Tochter läuft. Das Resultat sieht aus wie eine animierte Variante der KommandozStar Trek, wo fünf personifizierte Emotionen vor einer prächtigen Kulisse archivierter Erinnerungen abwechselnd das Steuer in die Hand nehmen. Diese Erinnerungen haben – so wie die Gefühle selbst – Farben und rollen in Gelb, Rot, Lila, Blau oder Grün wie Bowlingkugeln ins Hauptquartier, wo sie gespeichert oder auf die Müllhalde ausgelagert werden. Wenn es nach Freude (Stimme in der Originalfassung: Amy Poehler) ginge, dann wären alle Kugeln gelb, sprich glücklich, aber sie muss den Kontrollraum mit schmollender Traurigkeit (stiehlt allen die Show: Phyllis Smith), reizbarer Wut (Lewis Black), zitternder Angst (Bill Hader) und augenrollendem Ekel (Mindy Kaling) teilen.
Im Alter von elf Jahren ist Freude die überwiegende Kraft in der Welt der Protagonistin Riley, aber ihre Heiterkeit wird getrübt, als die Familie von Minnesota nach San Francisco umzieht. Die Stimmen in Rileys Kopf wollen, ähnlich wie Woody und Buzz in Toy Story, nur das Beste für das Kind, doch Riley und ihre Gefühle sind noch jung, und jedes von ihnen kämpft um seine Daseinsberechtigung. Nur was die Aufgabe von Traurigkeit sein soll, das weiß niemand so recht. Sie liebt Riley, aber sie kann nur seufzen und heulen. „Crying helps me slow down and obsess about the weight of life’s problems“, sagt sie. Eine emotionale Krise schickt Freude und Traurigkeit auf eine Odyssee in Rileys regenbogenfarbene Innenwelt: in ein Mini-Hollywood-Studio, das Träume produziert; eine abstrakte Ideenkammer, in der die Heldinnen zu Miró-Figuren abgeflacht werden; vorbei an einer Fabrik für Traummänner und in die Höhlen des Unterbewusstseins, wo Unruhestifter hinkommen. Für überflüssige Erinnerungen gibt es Reinigungspersonal, das US-Präsidenten löscht, aber eine Kaugummiwerbung zurücklässt. In Begleitung von Bing Bong, Rileys vergessenem imaginärem Freund aus Kindertagen, will Freude die Richtung angeben, doch muss sie erkennen, dass nur mit Hilfe des kleinen blauen Häufchen Elends an ihrer Seite ein Ausweg gefunden werden kann.
Insgesamt ist das alles eine ziemlich große Metapher für unterdrückte Gefühle, die womöglich über den Kopf der ganz kleinen Zuseher hinausgeht. Es ist ein wunderbarer Ort der kleinen Ordnung und der großen Geheimnisse. „It’s really simple if you think about it, except it isn’t“, sagt Ko-Regisseur Ronnie Del Carmen über den Fünf-Jahres-Prozess. Im Durchschnitt benötigt ein Pixar-Animator eine Woche für die Fertigstellung von drei Sekunden. Zum Glück steckt der Oscar-prämierte Up-Regisseur Pete Docter hinter dem Projekt, der vielleicht sentimentalste Kerl im Haus von John Lasseter, der alle Projekte von Pixar und Disney kreativ überwacht. Gemeinsam mit Del Carmen und den Ko-Autoren Meg LeFauve und Josh Cooley wurden Wissenschafter konsultiert und Gefühle erforscht. Wohlgemerkt, die Idee hat Disney bereits 1943 in seinem Propaganda-Kurzfilm Reason and Emotion angedeutet, der die Beziehung zwischen Gefühl und Verstand in Nazis erforschte.
Von Mickey Mouse bis Buzz Lightyear
Es benötigt eine besondere Art von Phantasten, um den Unterhaltungswert in, sagen wir, einer Montage über das Ende einer liebevollen Ehe (Up), einer stillen Meditation von Einsamkeit in einem Roboter (Wall-E) oder dem Ende der Kindheit (Inside Out) zu sehen, aber Pixar gelingt es, vermeintlich nicht marktgerechte Konzepte nicht nur wirtschaftlich profitabel, sondern auch urkomisch und emotional wie visuell anspruchsvoll zu gestalten. Inside Out spielt fast vollständig innerhalb einer theoretischen Welt. Die größten Lacher kommen, wenn wir Rileys Kopf verlassen und Einblick in die Hirnzentralen anderer bekommen (unbedingt sitzen bleiben für den Abspann!). Es zeigt sehr schön, warum Docter und der Rest von Pixars Kernkreativen sich den „Brain Trust“ nennen. Wir befinden uns inmitten eines Freud’schen Psychodramas.
Wenn man das Hauptquartier von Pixar – durch die Oakland Bay Bridge mit San Francisco verbunden – betritt, schleicht sich leise ein Gefühl des Neids ein. Auf dem Campus gibt es einen Swimmingpool, der ganzjährig geheizt wird; einen Fußballplatz, ein Volleyballfeld, ein Amphitheater und einen Massageraum, um die „kreativen Säfte in Bewegung zu halten“. Die Mitarbeiter werden ermutigt, ihre Büros gemäß ihrer Fetische zu dekorieren, und zu Exkursionen nach Paris, Schottland oder Südamerika verpflichtet. Ja, es ist ein knallhartes Leben. Am Eingang stehen lebensgroße Legofiguren von Woody und Buzz, in den Regalen stehen goldene Oscar-Statuetten, und an den Wänden hängen bezaubernde Storyboards von Brave und Skizzen von Inside Out. Das verglaste Hauptquartier ist an schönen Tagen mit Sonnenlicht durchflutet. Docter erinnert sich, dass Steve Jobs hoffte, in seinem nächsten Leben als Pixar-Animator geboren zu werden. Ein Wunsch, den man nach einem Besuch in der Animationsfabrik nachvollziehen kann.
Es begann vor sechzig Jahren damit, dass ein kleiner Junge mit dem Namen Ed Catmull sich jeden Sonntagabend The Wonderful World of Disney ansah und sich nichts sehnlicher wünschte, als unbelebte Objekte zu beseelen. Seine Idole waren Walt Disney und Albert Einstein, weil der Eine Dinge in die Welt brachte, die es noch nicht gab, und der Andere ein Meister darin war, jene Dinge zu erklären, die bereits existierten. Vier Jahrzehnte später, an einem Montagmorgen 1986, kaufte Steve Jobs, der gerade aus jener Firma verbannt worden war, die er gegründet hatte (ja, genau: Apple), die Computerdivision von Lucasfilm, damals unter der Führung von Catmull. John Lasseter, der wegen seiner Affinität für Computeranimation Disney verlassen hatte, avancierte zu Pixars kreativem Zentralnervensystem. Die weiße Schreibtischlampe in seinem Kurzfilm Luxor Jr. sollte zum Logo des Animationshauses werden. Pixar war also geboren, aber keiner der Beteiligten hatte jemals einen Film gemacht, der länger als fünf Minuten lang war. Mit Toy Story (1995), dem ersten vollständig computeranimierten Film, emanzipierten sich die Kreativen von jenem Haus, das sie einst als Kinder so sehr geliebt hatten. Die befürchtete „Disneyfizierung“ nach der Übernahme von Pixar blieb aus, denn bis heute gibt es eine konzeptionelle Kluft zwischen den Filmen des Mutterkonzerns und den nostalgischen Fabeln der Tochterfirma, die mit ihren Projekten narrative Risiken eingeht und in schmerzhaften Gefühlen wühlt, die sich die meisten „kinderfreundlichen“ Filme bemühen zu umgehen. Die Menschen erwarten sich von einem Pixar-Film, dass sie lachen, während sie sich noch eine Träne von der Wange wischen.
Inside Out ist eine leise Revolution, denn es ist ein kritischer Blick auf die Essenz der amerikanischen Glücksgesellschaft, die ihre Kinder mit Trophäen überhäuft und ihre Erwachsenen mit Antidepressiva beschwingt. Ein spektakulärer Triumph, der zutiefst wohltuend argumentiert, dass gewisse Erinnerungen im Laufe des Lebens einfach ein bisschen blau werden und Traurigsein manchmal nicht nur unvermeidlich, sondern notwendig ist.