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Netflix-Serie | Interview

Inspiriert vom Brexit

| Dieter Oßwald |
Regisseur Philip Koch über den von ihm entworfenen futuristischen Endzeit-Sechsteiler „Tribes of Europa“, der jetzt auf Netflix startet.

Mit seinem rigorosen Gefängnisdrama Picco gelang Philip Koch 2010 ein viel beachtetes Debüt, das auch auf dem Festival von Cannes für Furore sorgte. Die Komödie Outside the Box (20015) war eine vergnüglich böse Satire auf karriereversessene Manager. Nach vier Tatort-Folgen präsentiert der Münchner nun bei Netflix eine Science-Fiction-Serie über ein zerfallenes Europa, inspiriert vom Brexit-Referendum, wie er sagt. „2029 führte ein mysteriöser globaler Blackout zu Jahrzehnten von Chaos und Anarchie. Die alten Nationen verschwanden. Zahllose Mikro-Staaten entstanden, die ihren eigenen Glauben und ihre eigene Kultur entwickelten“, erläutert der Vorspann. 45 Jahre später leben sehr unterschiedliche Stämme, die titelgebenden Tribes, auf dem Kontinent. Da gibt es etwa die Origines, ein Hippie-Völkchen, das pazifistisch im Einklang mit der Natur lebt. Als nahe dem Dorf ein Flugzeug der geheimnisvollen Atlantier abstürzt, finden die drei Geschwister Kiano, Liv und Elja vom Öko-Stamm ein mysteriöses Kästchen in dem Wrack. Weil diese kleine Box ganz große Macht verspricht, will jeder Tribe sie haben. Die brutalen Crows schrecken dabei vor keiner Gewalttat zurück – derweil sie ansonsten einer vergnüglichen Party- und Sexkultur frönen. Crimson Republic entpuppt sich gleichfalls als widersprüchlich: Zum einen leben die Ex-Soldaten auf einer Militärbaisis, zum anderen treten sie als Beschützer der Zivilisation auf. Last not least gibt es noch einen kauzigen Schrotthändler namens Moses (Oliver Masucci), der für reichlich Humoreinlagen sorgt. Mit ihm begibt sich der junge Held Kiano auf eine abenteuerliche Odyssee, um seine Geschwister, den eigenen Stamm sowie die ganze Welt zu retten. Die Dark-Produzenten lassen es bei ihrem Sci-Fi-Spektakel ordentlich krachen und setzen auf ein üppiges Effekt-Feuerwerk. Die Dialoge geraten bisweilen albern à la „Wir haben jetzt keine Zeit, das auszudiskutieren!“ oder „Egal, was passiert. Ihr bleibt immer zusammen.“ Andererseits gibt es auch gelungene Komik, wenn die Herrscherin dem hübschen Sklaven beim Sex die Warnung gibt: „Wenn du vor mir kommst, schneid ich dir die Kehle durch.“ Starke Frauen sind in diesem Genre traditionell selten, bei Philip Koch bezwingen sie locker jeden Muskelprotz. Abenteuer mit Action und Humor – als Sechsteiler bestes Binge-Watching-Material.

 

Herr Koch, weshalb schreiben Sie im englischen Titel Europa mit „a“ statt mit „e“?
Philip Koch:
Unsere Serie erzählt von einem postapokalyptischen Europa, in dem sich nach einer großen Katastrophe alle Sprachen und Kulturen vermischt haben. Der Titel ist eine Mischung aus englischer lingua franca und einem metaphorischen Neuanfang für diesen Kontinent.

In der guten alten „Raumpatrouille Orion“ wurden Bügeleisen und andere Haushaltsgegenstände als futuristische Objekte genutzt. Woraus besteht Ihr mysteriöser Würfel, den alle haben wollen?
Philip Koch: Wir hatten verschiedene Würfel, um sie für unterschiedliche Zwecke einzusetzen. Das Hauptmaterial bestand aus Hartplastik, in das Lichteffekte eingebaut werden konnten. Es gab auch welche aus Gummi, die man problemlos werfen konnte. Nur jene Titanlegierung, von der im Film die Rede ist, gibt es in Wirklichkeit nicht – das hätte unsere Budget vermutlich gesprengt! (Lacht).

Für Ihren Erstling „Picco“ gab es vor zehn Jahren euphorische Kritiken. Gerät das zum Fluch oder Segen für die nächsten Filme, wenn die Latte gleich zu Beginn so hoch liegt?
Philip Koch: Picco wurde für mich nie zum Fluch, ganz im Gegenteil: Der Erfolg hat mir sehr viele Türen geöffnet. Ich habe nur gute Erinnerungen an dieses Projekt und freue mich immer, wenn ich Picco mal wieder sehe.

Apropos Erwartungen: Ihre Produzenten haben zuvor mit „Dark“ den großen Coup gelandet. Wird das zu einer Messlatte?
Philip Koch: Für mich war es ein Glück, dass mir die Dark-Produzenten die Möglichkeit gegeben haben, mit Tribes of Europa solch eine große Geschichte zu erzählen. Auch von Netflix finde ich es wahnsinnig mutig, ein derart aufwändiges Projekt zu machen, zumal es keine Comic- oder Romanvorlage dafür gibt. Vergleiche mit Dark fände ich allerdings falsch, weil auf der kreativen Seite ganz andere Leute tätig sind und die Ideen sehr verschieden sind. Dem Erfolg von Dark hat die deutsche Filmbranche viel zu verdanken, das internationale Ansehen ist dadurch sehr gestiegen.

Wie viel kostet denn so ein „aufwändiges Projekt“ von Netflix?
Philip Koch: Ich glaube, das Budget ist relativ geheim. Daher möchte ich lieber keine Zahlen nennen, um Ärger zu vermeiden. (Lacht)

Es heißt, die Brexit-Abstimmung habe Sie zu dieser Geschichte eines zerstrittenen Europa inspiriert. Ist das eine Anekdote oder tatsächlich die Wahrheit?
Philip Koch: Zugegeben, es klingt sehr anekdotisch, aber tatsächlich hat es sich so zugetragen. Drei Tage nach dem Brexit-Referendum habe ich dem Produzenten Qurin Berg ein zweiseitiges Exposée geschickt, das sogar bereits den Titel „Tribes of Europa“ trug. Mit dem Ausstieg der Briten und der Ausstrahlung der Serie schließt sich gleichsam der Kreis.

Wie düster darf ein futuristisches Drama sein?
Philip Koch: Tribes of Europa präsentiert keine extrem düstere Zukunftsvision. Im Kern ist es überhaupt keine dystopische Serie. Es geht um einen Neuanfang nach dieser Katastrophe. Natürlich gibt es einen gewaltbereiten Stamm, gleichzeitig gibt es sehr freundliche Stämme. Es herrscht ein bisschen eine Wildwest-Atmosphäre, in der durchaus Hoffnung und Humor vorkommen sowie Abenteuer, die Spaß machen.

Welche Rolle spielt das Zielpublikum bei der Mischung aus düsterem Spektakel und lustigem Abenteuer?
Philip Koch: Für mich selbst spielt ein Zielpublikum keine Rolle, ich schreibe meine Geschichten aus dem Bauch heraus. Klar können Marketing-Strategen sich anschließend freuen, dass es hier eine unfassbar starke und ambivalente Frauenfigur gibt, die keineswegs allein ist. Am Schluss treten sogar noch Femen auf. Meine Motivation kommt jedoch nicht vom Marketing, sondern von meiner Vorliebe für starke oder gebrochene Frauenfiguren.

Wie sehr beeinflussen die vielen Spezialeffekte die Freiheit des Erzählens?
Philip Koch: Die Effekte machen den Drehrhythmus und die ganze Produktion unglaublich langsam. Es dauert einfach viel Zeit, bis eine grüne Wand für die Computeraufnahmen richtig eingerichtet ist. Für ungeduldige Typen wie mich gerät das oft zu einer Geduldsprobe. Andererseits eröffnen sich durch virtuelle Effekte ganz neue Möglichkeiten des Erzählens, die man sonst einfach gar nicht hätte.