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Interview Edgar Reitz

Das taumelnde Glück des Machens

| Günter Pscheider |

Edgar Reitz im Gespräch.

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Edgar Reitz ist durch den durchschlagenden Erfolg seiner epochalen Fernsehserie Heimat – eine deutsche Chronik (1981/82) und der Folgeprojekte einer der auch international bekanntesten deutschen Filmemacher geworden. Der Autor, Regisseur, Produzent und Professor kann nicht nur aus seinem reichen Erfahrungsschatz von Experimental-, Industrie-, Kurz-, Dokumentar- und Spielfilmen schöpfen, er macht sich mit 85 Jahren auch noch intensiv Gedanken über die Zukunft des Kinos und des Filmemachens. Bei einem Gespräch anlässlich einer großen Retrospektive des Filmarchiv Austria im Wiener Metro Kinokulturhaus erzählt der Filmbesessene von seinem steinigen Weg zum Kino, von seiner Inspiration durch Jean Cocteau und vom Glücksgefühl eines Kameraschwenks.

Das Filmemachen ist mir nicht in die Wiege gelegt worden. In einem Zweitausend-Einwohner-Ort als Kind eines Uhrmachers hat man überhaupt keine Affinität zu Kunst und Kultur und wird dann auch von der Familie nicht bestärkt. Merkwürdigerweise habe ich, irgendeinem inneren Drang folgend, als Jugendlicher sehr viel geschrieben. Eines Tages schenkte mir mein Vater einen Fotoapparat, zu den Fotos verfasste ich Gedichte und erstellte damit Collagen. Jeder, der einen künstlerischen Drang verspürt, will sich auch mitteilen, da waren dann die Freunde, Klassenkameraden das erste Publikum. Damit konnte man natürlich auch den Mädels imponieren. Aus der Beschäftigung mit der Fotografie entwickelte sich ein Interesse fürs Kino, zuerst nicht am Machen, sondern am Schauen.  In der Kreisstadt, wo ich in die Schule ging, gab es einen sehr engagierten Kinobetreiber, der sich die Filme aus Italien oder Frankreich besorgte, und so bekam ich in der Nachkriegszeit die ganzen neorealistischen Meisterwerke zu sehen, die mich unglaublich bewegt haben. Es gab auch einen Deutschlehrer, der mein vermutetes Talent gefördert hat. Der setzte mir den Floh ins Ohr, dass ich Schriftsteller werden sollte. Währenddessen wanderte meine Phantasie schon in Richtung Kino, obwohl ich überhaupt keine Idee oder auch nur Ahnung hatte, wie das weitergehen sollte mit dieser Leidenschaft. Es gab in Deutschland zu der Zeit keine Filmschule. Nach dem Abitur ging ich auf Empfehlung eines anderen Lehrers nach München, um bei Artur Kutscher Seminare in Theaterwissenschaft zu belegen, was ich auch während des Germanistik-, Kunstgeschichte- und Publizistik-Studiums ständig weiter tat. Die ganze Zeit über nagte schon der Wurm an meiner Seele, der mich in Richtung des Films drängte und war auch nicht zur Ruhe zu bringen.

Es gab zum Glück unter den Kutscher-Schülern auch fünf, sechs andere, die das Fehlen einer Studienrichtung Film ebenso beklagten wie ich. Wir gründeten Mitte der fünfziger Jahre dann einen Filmclub, es herrschte ein wenig eine Aufbruchstimmung, die ersten deutsche Filmzeitschrift „Filmkritik“ wurde von Enno Patalas und Wilfried Berghahn gegründet. Unser Münchner Filmclub war von Anfang vom Traum erfüllt, nicht nur Filme zu zeigen, sondern Filme zu machen. Einer von uns hatte die Bekanntschaft eines Technikers gemacht, der in einem sehr gut beschäftigten Synchronstudio arbeitete. Der ließ uns dann mitten in der Nacht, wenn kein Betrieb mehr war, unsere Filmkopien, die wir von diversen Kinematheken und auch privaten Sammlern ausgeliehen hatten, am Schneidetisch anschauen. In diesen Jahren habe ich die Klassiker auswendig gelernt, da haben wir überlegt, wo stehen die Lampen, wie ist die Szene genau aufgebaut, wir haben jeden Aspekt des Filmemachens dort autodidaktisch analysiert. Natürlich gab es im Lauf der Zeit auch Leute, die weiterführende Auskünfte geben konnten. Jemand hatte eine Stelle als Kameraassistent, der wusste dann über technische Details besser Bescheid. Mit dessen Hilfe habe ich meinen allerersten Kurzfilm drehen können. Eines Tages war Jean Cocteau, den wir wegen seiner mythologisch gefärbten Spielfilme sehr verehrten, in München eingeladen, und da gab es eine Führung mit ihm, veranstaltet von den Kritikern der Süddeutschen Zeitung. Der schlossen wir uns einfach an und trabten hinter ihm her. München war zu dieser Zeit noch ein Ruinenfeld. Cocteau war sehr angetan von der Romantik dieser Landschaft. Als er vor dem ausgebrannten Gebäude der Staatsoper stand, sagte er, hier müsste man einen Film drehen. Als er weg war, sagten wir uns gegenseitig: Den Film machen wir. Aber wie? Niemand hatte je eine Kamera in Gang gesetzt, niemand wusste, woher man Filmmaterial bekommt. Mein Weg zum Film war der des Selbermachens und des Experimentierens. Und die Lust am Experiment hat mich bis zum heutigen Tag nicht verlassen. Ich fühle mich immer noch als Pionier. Ich habe das Gefühl, dass die Filmgeschichte so jung ist, wir sind alle eigentlich noch immer Suchende. Es soll mir keiner kommen und sagen, das sind die ehernen Gesetze der Filmkunst. Was der Film vermag ist noch lange nicht ergründet.

Es wäre vielleicht anders gelaufen, wenn ich in einem gutbürgerlichen Haushalt aufgewachsen wäre und eine Filmschule besucht hätte, so wie das heute eher die Regel ist. So hatte ich eine große Liebe auch zu den kinematografischen Erfindungen, von denen es unzählige auch im kleinen Maßstab gibt. Bei jedem Film betritt man Neuland, zumindest empfinde ich das so. Und wenn man dann eine Lösung für ein Problem findet – das kann ein einfacher Kameraschwenk oder eine Schärfenverlagerung sein – erzeugt das ein unglaubliches Glücksgefühl. Und dieses taumelnde Glück des Machens hat mich mein ganzes Leben lang begleitet. Das ist der tiefere Grund für mich, Filme zu machen. Und natürlich ist man dann auch immer auf der Suche nach anderen Leuten, Mitarbeitern, Zuschauern, die das auch zu schätzen wissen, die mit auf die Entdeckungsreise gehen. Das Filmemachen war für mich immer ein universelles Tun. Das kann  man aber nicht, wenn jemand anderer die Regie macht. Als Regisseur ist man schon an der Schaltstelle, wo die künstlerischen Entscheidungen wirklich fallen. Deswegen ist es für mich ganz unverzichtbar, Regisseur zu sein. Das war es von Anfang an, auch in einer Zeit, als der Begriff Autorenkino noch gar nicht geboren war. Es war schon damals alles miteinander verbunden: Eine Idee zu entwickeln, aus dieser ein Drehbuch zu machen, dann die Organisation zu bewältigen, die notwendig ist, um einen Film auf den Weg zu bringen. Das sind zwar alles verschiedene Sachen, aber hinter allem steht die Vision des Ergebnisses. Man hat dauernd diese Bilder im Kopf. Das kommt erst zur Ruhe, wenn es der Film auf die Leinwand geschafft hat. Das ist zwar nie genau so, wie man sich das vorgestellt hat, aber die Vorstellung selber ist ja schon nie ganz genau. Die Protagonisten, die Charaktere, ihr Aussehen stellt man sich zwar vor, aber wenn ich dann anfange, einen Schauspieler zu casten, dann verwandelt sich alles. Manchmal ist gerade eine konträre Besetzung, gegen den Typ, das Interessante, und man nimmt jemanden, der dieser ursprünglichen Idee gar nicht nahe ist. Weil das die Fantasie auch oft aufs Neue in Gang setzt.

Filmemachen ist sehr intensiv auch Teamwork. Diese Erfahrung der Zusammenarbeit mit anderen – also in einem sehr tief innerlich verbundenen Sinne – ist schon einzigartig. Ich habe das immer wieder erlebt. Wenn ich mit meinem Team an einer großen Produktion arbeite, dann kommt irgendwann der Moment, dass wir gar nicht mehr miteinander reden, weil wir verständigen uns durch Gesten, durch Blicke oder durch irgendein merkwürdiges Gestammel, das ein Außenstehender überhaupt nicht begreift. Es ist eine Art der Besessenheit, die da entsteht. Ich will nicht sagen, dass das etwas ist, was unerschütterlich ist. Es gibt natürlich, gerade wenn man in einem so einem Idealismus Filme macht, auch Verzweiflungen und auch Momente, wo man glaubt, dass es nicht weiter geht. Gerade die Entwicklung von Heimat war auch die Reaktion auf eine Krise. Also ich hatte in den Sechzigern angefangen Spielfilme zu machen. Ich hatte acht abendfüllende Filme hinter mir, der letzte war Der Schneider von Ulm, ein aufwändiger Kostümfilm, der im 18. Jahrhundert spielt. Dieser Film war ein richtiger Misserfolg, der mich auch wirtschaftlich ruinierte. Ich war knapp über 40 Jahre alt und habe schon überlegt, den Beruf zu wechseln, das geht sich in dem Alter gerade noch aus, noch einmal woanders neu anzufangen. In dieser Situation ist Heimat entstanden, eigentlich aus der Selbstreflexion heraus. Weil ich mich fragte, wo komme ich her, wie war das möglich, dass ich als Hunsrücker Enkel von Bauern und Handwerkern diesen Weg gegangen bin, der bis dahin jetzt nicht sehr erfolgreich war, wonach wir doch alle auch streben.

Ich merkte erst nach und nach, dass dieser Stoff in kein Spielfilmschema passt. Was zuerst entstand, war eine unüberschaubare Fülle von assoziativen Einzelszenen, die keine bestimmte Reihenfolge hatten. In diesem Material traten bestimmte Charaktere immer wieder auf, sodass man überlegen konnte: Lassen sich da rote Fäden knüpfen? Am Ende wurde das zum großen Planspiel. Ich hatte in meinem Büro eine Pinnwand von acht Metern mit zahllosen kleinen Zetteln, grafischen  Elementen, um die Erzähldramaturgie zu erfassen. Es war am Ende ein Drehbuch mit über zweitausend Seiten, das hat sich organisch beim Erzählen in dieser Dimension entfaltet. Ich habe das Ganze ohne Auftrag geschrieben, mich dann mit dem fertigen Manuskript mit dem Ko-Autor Peter Steinbach an den WDR gewandt, weil der damals eine ganz spezielle Rolle in der deutschen Fernsehlandschaft gespielt hat. Günter Rohrbach war Fernsehspielabteilungsleiter und forcierte amphibische Produktionen, die als Bindeglied zwischen Kino und Fernsehen dienten. Da war man dann an der richtigen Stelle. Ich sagten denen, hier ist ein Projekt, das ist vom Herzen fürs Kino, aber von der Dimension her eben nicht. So ist also diese epische Erzählform entstanden, von innen heraus ohne konkrete Vorbilder. Es wurden dann sieben Produktionsjahre, die sehr anstrengend waren, ich war ja immer auch mein eigener Produzent. Ich weiß heute auch nicht mehr, wie ich das hingekriegt habe, das Geld dafür aufzutreiben. Ich bin Monate in ganz Europa umhergefahren und habe Sender in Spanien, Portugal, Griechenland oder in den nordischen Ländern besucht. So kamen immerhin 20 Millionen DM zusammen. Ich bin eigentlich gar nicht begabt für sowas, aber wenn man so erfüllt ist von einer Sache, selber so überzeugt, dann steckt das auch an. Für Die zweite Heimat gelang es mir dann sogar, das dreifache Budget aufzustellen, sicher auch durch den internationalen Erfolg von Heimat. Die zweite Heimat ist dann unterschiedlich rezipiert worden. In Italien war es ein enormer Erfolg, er lief dort fünf Jahre lang in den Kinos und hängte dort sogar Filme wie Jurassic Park ab, wobei man natürlich sagen muss, dass es ja 13 Filme waren, für die man ein Ticket kaufen musste und nicht nur einer. Aber es hatten über eine Million Zuschauer alle 13 Teile gesehen, die meisten in der deutschen Fassung mit italienischen Untertiteln. Es gab zwar eine italienische Synchronfassung, die mochten die Leute aber nicht so gern. Synchronfassungen sind sowieso eigentlich eine Unsitte.

Dieses epische Erzählen im Film steht ja noch relativ am Anfang seiner Entwicklung, wir wissen noch nicht wirklich wie das eigentlich funktioniert. Das ist ein sehr aktuelles Thema, wie man an Hand der vielen erfolgreichen hauptsächlich amerikanischen Serien sieht, die auch bei jungen Leuten sehr gut ankommen. An den Filmschulen wird jetzt überall auch schon serielles Erzählen gelehrt. Aber in den meisten Serien wird dann doch klassisch dramatisch erzählt mit Cliffhangern und den üblichen Mustern, und dieses Prinzip erschöpft sich langsam. Ich habe 30 Jahre meines Lebens nur mit dem Versuch verbracht, eine funktionierende epische Erzählform zu finden. Wir haben damit auch im Kino experimentiert, zum Beispiel beim Filmfestival in Venedig Die zweite Heimat an drei Tagen jeweils acht Stunden zu zeigen. Die Besucher saßen also nur im Kino, haben sich in kurzen Pausen verpflegt, sind dann schlafen gegangen und am nächsten Tag wieder ins Kino. Nach diesen drei Tagen sind sie wie aus einer Tiefseeglocke wieder aufgetaucht. Da hat es Wetten gegeben, dass der Saal nach vier Stunden leer sein würde, aber das Interessante daran ist, dass fast niemand ausgestiegen ist.

Trotz meiner langjährigen Beschäftigung kann ich jetzt auch kein einfaches Rezept anbieten, wie man solch einen Film bauen kann, wie man ohne die übliche Suspense-Dramaturgie des Erwartungen-Schürens und Auf-die-Spitze-Treibens den Zuschauer bei der Stange halten kann. In Heimat gibt es natürlich auch dramatische Ereignisse, aber die stehen nicht an so exponierter Stelle, man erwartet sie nicht, und wenn sie vorbei sind, denkt man nie, jetzt ist der Film zu Ende. Gerade heute ist die Beschäftigung mit den Möglichkeiten des epischen Filmerzählens so wichtig, weil die Medienlandschaft sich fundamental ändert. Jahrzehnte lang war das Fernsehen das audiovisuelle Leitmedium, das ist schon jetzt nicht mehr so. Heimat war ein Versuch, etwas Neues zu machen, das wahrscheinlich in Zukunft die Medienlandschaft mitprägen wird. Denn die konventionelle Dramaturgie hat den Nachteil, dass man dort nicht beliebig hin und her switchen kann, wenn man das Ende vorher anschaut, wird der Rest uninteressant. Bei der epischen Erzählweise ist das sehr wohl möglich, und dieses Prinzip, das man sich sozusagen seinen eigenen Film im Kopf schafft, indem man einfach woanders weiterschaut, wenn einen eine Sequenz nicht so packt, hin und her springt, entspricht den Sehgewohnheiten der jungen Leute sehr stark. Das Kino als soziales Erlebnis wird aber bleiben, das sollte sich sogar verstärken. Wir haben Anfang der siebziger Jahre mit den Kübelkindern ein durchaus erfolgreiches Experiment gestartet, wo wir zwei Jahre lang Kurzfilme in Münchner Kneipen gezeigt haben. Die Gäste konnten aus einem eigenen Menü auswählen, bei der Kellnerin bestellen und dann lief das auf der Leinwand. Anfang April gibt es einen Kongress in Frankfurt, bei dem über die Zukunft des Kinos diskutiert wird, da werde ich ein Projekt vorstellen, das ein ganz klein wenig Ähnlichkeit mit den Kübelkindern hat, nur in viel größerem Maßstab.

 

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