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The Shape of Water

Alles entsteht gleichzeitig

| Thomas Abeltshauser |
Der vielbeschäftigte französische Filmkomponist Alexandre Desplat im Gespräch

Er ist einer der wichtigsten und vielseitigsten Filmkomponisten der Gegenwart und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Im Jänner erhielt Alexandre Desplat den Golden Globe für seinen Score zu The Shape of Water und gilt dafür auch als Favorit bei der Oscar-Verleihung am 4. März. Zuvor wird Wes Andersons The Isle of Dogs, zu dem Desplat ebenfalls die Musik komponiert hat, am 15. Februar die Berlinale eröffnen. Am Rande des Filmfestivals in Venedig gab der 56-jährige Maestro eines seiner seltenen Interviews.

Monsieur Desplat, Sie haben bislang für mehr als 150 Film- und TV-Produktionen Scores komponiert. Wie lassen Sie sich immer wieder neu inspirieren?

Jeder neue Film inspiriert mich, ich sehe ihn und er geht mir in Fleisch und Blut über. Den Zuschauer in einen Film hineinzuziehen, ist immer eine besondere Aufgabe und daran arbeite ich zumeist am längsten, denn es prägt, wie der Film wahrgenommen wird. Die schwarze Leinwand, wenn die Musik einsetzt, das ist wie die Ouvertüre einer Oper. Ich nehme mir Zeit dafür. Schon der Beginn von Shape of Water, wenn alles durch das Wasser schwebt, hat diese fließende Bewegung, die sich durch den ganzen Film zieht, die Kamera ruht nie. Diese Bewegung ist bereits musikalisch, ich muss dafür nur noch die Emotionen der Hauptfigur und ihre Beziehung vertonen und dann im Grunde auf den Bildern mitgleiten.

Viele Scores sind heute entweder sehr rhythmisch oder sie versuchen, das Publikum möglichst wenig zu „manipulieren“. Wie würden Sie Ihren Ansatz beschreiben?

Meine Einflüsse kommen aus der Nouvelle Vague, von New Hollywood und von italienischen Filmkomponisten wie Nino Rota. Ich bevorzuge es, wenn die Musik zurückgenommen ist. Meine Kompositionen bestehen meist aus einer Architektur, die horizontal und vertikal aufgebaut ist. Vertikal heißt Rhythmus, Harmonie, Melodie, und horizontal folgt sie der Dramaturgie des Films. Ich mag es nicht, wenn jede Szene einen anderen Track hat wie bei einer Jukebox. Und ich mag organischen Sound, ich benutze größtenteils echte Instrumente, die ich nur hin und wieder durch elektronisch erzeugte Töne ergänze. Ich bin mitten im Geschehen, Teil einer Szene mit den Darstellern und muss zugleich den Überblick über das Ganze behalten. Und manchmal sprengt die Musik den Rahmen und drückt aus, was außerhalb des Bildausschnitts stattfindet und fügt dem Film so eine weitere Dimension zu. All das versuche ich.

Wie wichtig ist für Sie die Recherche bei einem neuen Projekt? Bei „Shape of Water“ etwa spielt die Handlung in den frühen sechziger Jahren …

Da musste ich nicht recherchieren, die Musik aus der Zeit war mir bekannt. Ich hörte schon als Kind amerikanische Musik aus den dreißiger, vierziger und fünfziger Jahren. Meine Eltern hatten eine große Plattensammlung, das ist Teil meiner Bildung, genauso wie ich nicht mehr Strawinsky oder Bach recherchieren muss, weil ich damit aufgewachsen bin. Ich mache meine Hausaufgaben seit meinem fünften Lebensjahr. Meine Recherche ist vor allem, den Zugang zu einem Film zu finden, den geheimen Weg, den ich in Musik verwandle, die das Publikum leitet. Mit dem passenden Score wird aus den einzelnen Szenen ein fließendes Ganzes.

Wie viel künstlerische Freiheit haben Sie als Komponist bzw. inwieweit müssen Sie die spezifischen Anforderungen des Regisseurs erfüllen?

Ein Film ist wie ein Mosaik, das aus unzähligen Teilen besteht. Und ich bin eines dieser Teilchen, das zum Schluss dazukommt und dem Mosaik den letzten Schliff gibt. Wenn ich mit einem Regisseur über einen Film rede, will ich die Leidenschaft und Ästhetik dahinter verstehen. Welcher Aspekt, welche Figur, welche Szene sind wichtig? Soll der Bösewicht durch die Musik noch furchteinflößender werden oder steht er für sich? All das besprechen wir, bevor ich zu komponieren beginne. Und dann mache ich Vorschläge und der Regisseur entscheidet. Das muss dann nicht unbedingt mein Favorit sein, aber es heißt nicht, dass ich recht habe. Bisweilen sind meine Scores zu zurückhaltend und der Regisseur ermuntert mich, dicker aufzutragen, weniger „europäisch“ zu sein. Und manchmal ist mehr wirklich mehr. Es ist gut, wenn mich ein Regisseur in eine bestimmte Richtung schiebt, denn er weiß am besten, was sein Film braucht. Und ich bin da, ihn dabei zu unterstützen.

Sie wollten schon sehr früh Filmkomponist werden und haben in all den Jahren mit diversen Regisseuren kollaboriert, von Stephen Frears bis Wes Anderson. Inwieweit hat das Ihre Arbeit oder Ihren Stil beeinflusst?

Es hilft mir zu wachsen, in jeder Hinsicht. Ich kann einen Blockbuster wie Valerian mit bombastischem Sound vertonen und danach für ein Drama wie Polanskis Based on a True Story einen Score mit kleinem Orchester einspielen. George Clooneys Suburbicon mit seinem Vierziger-Jahre-Sound ist völlig anders als The Shape of Water oder jetzt Wes Andersons Isle of Dogs. Es würde mich und die Zuschauer unendlich langweilen, wenn ich immer für dieselbe Art von Filmen Musik komponieren würde. Guillermo del Toro zum Beispiel nannte für The Shape of Water zwei Referenzpunkte, die mich sofort für ihn einnahmen, weil es zwei meiner großen Vorbilder sind: Georges Delerue und Nino Rota. Ich wusste sofort, was er wollte.

Allein im Lauf eines Jahres hatten sieben Kinofilme Premiere, zu denen Sie die Soundtracks komponiert haben. Gibt es für Sie auch ein Leben abseits der Musik?

Nein. Meinen ersten Score für einen Kurzfilm komponierte ich mit 22, aber meine US-Karriere begann erst, als ich bereits 44 Jahre alt war. Und weil das so spät passierte, wollte ich so hart wie möglich arbeiten, um mir keine großartigen Projekte entgehen zu lassen. Das war vor 13 Jahren, und ich habe seitdem nicht damit aufgehört. Für mich war das die einzige Option. Ich musste diese Chance einfach ergreifen.

Folgen Sie beim Komponieren einer bestimmten Prozedur?

Alles entsteht gleichzeitig. Während ich Harmonien, Akkorde und Melodien suche, denke ich bereits über die Instrumentalisierung nach. Ich arbeite da wie Cole Porter oder Serge Gainsbourg, die Lyrics und Musik gleichzeitig geschrieben haben.

Sie spielen gern mit Widersprüchen, komponieren Musik, die zunächst nicht zum Genre zu passen scheint …

Es kommt immer auf den Film an. Mein Score zu Polanskis Ghostwriter ist eine Hommage an Bernard Herrmann, aber ich habe etwas völlig Anderes daraus gemacht. Es ist zwar ein Echo, geht aber in eine ganz andere Richtung. Mir gefällt die Idee, dass ich Erbe einer langen Reihe von Komponisten bin, und ich mag Traditionen, aber ich liebe es, sie zu verdrehen. Und ich nehme es mit Humor, ich versuche nicht verbissen, ein „Meisterwerk“ zu schaffen. So denke ich nicht, so habe ich nie gedacht. Ich arbeite hart und versuche mein Bestes, ohne mich dabei selbst zu ernst zu nehmen.