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Die Zukunft des Kinos | Interview

Ist das Kino museumsreif?

| Benjamin Moldenhauer |
Lars Henrik Gass, Leiter der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen, hat ein sehr klärendes Buch über die Krise des Kinos und über Wege hin zu einer möglichen Zukunft geschrieben: „Film und Kunst nach dem Kino“. Im Gespräch skizziert er, worüber man jetzt, angesichts seit Jahren sinkender Besuchszahlen und der aktuellen Krise, nachdenken müsste.

Filme werden nach wie vor geschaut, wahrscheinlich mehr noch als früher. Was zeichnet das Kino als Ort aus, in Abgrenzung zum Film, den man inzwischen nahezu überall schauen kann?
Lars Henrik Gass:
Man muss sich vergegenwärtigen, dass das Wort „Kino“ eine mediengeschichtliche Besonderheit des Films bezeichnet: eine bestimmte Ereignisform, die sich genuin von den anderen Künsten unterscheidet. Und zwar dadurch, dass sie, wie ich es gerne nenne, einen Zwang zur Wahrnehmung ausübt. Ich werde im Kino über eine bestimmte Dauer gezwungen, den Blick eines anderen einzunehmen.

Nun ist seit 2020 wieder verstärkt von der Krise des Kinos die Rede. Wie ernst ist die Lage denn in Ihren Augen?
Lars Henrik Gass: Als ein wirtschaftlicher Faktor ist das Kino ja nicht erst seit Beginn der momentanen Krise in einem Abwärtstrend. Die Besucherzahlen sind schon seit den sechziger Jahren rückläufig. Was gerade sichtbar wird, ist eine strukturelle Krise des Kinos, der Umstand, dass sich die gewerbliche Auswertung von Filmen, ihre Refinanzierung und Monetarisierung, vom Kino abwendet. Mit Sicherheit wird das Kino in beschränktem Umfang auch weiterhin eine bestimmte Rolle spielen – man denke an große Premierenkinos oder an die Oscar-Verleihung, den Deutschen Filmpreis und so weiter. Aber das Kino als Auswertungsform für Filme ist ein Auslaufmodell.

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In meiner Erfahrung schafft das Kino noch immer die idealen Bedingungen für einen Film. Ich sehe aber auch, dass dieser Ort vielen Menschen, die heute zwanzig oder auch dreißig sind, nicht mehr wichtig ist. Was sind die Gründe dafür, dass das Kino für das Publikum an Bedeutung verloren hat?
Lars Henrik Gass: Das Kino, so wie wir es jetzt gerade noch als Standard erleben, stand nicht am Anfang der Filmgeschichte, sondern hat erst nach 20, 25 Jahren seine jetzige Ausprägung erfahren. In der heutigen Form ist das Kino noch stark an das Theater angelehnt, also an Konventionen der bürgerlichen Kunst und Kultur. Und diese ganze Verabredung, wie man Kulturangebote wahrnimmt, die funktioniert heute einfach nicht mehr. Die Arbeitswelt ist inzwischen derart dereguliert, dass viele Leute nicht mehr um 19 Uhr ins Kino gehen können. Und entsprechend dereguliert ist das Freizeitverhalten. Wir wollen einen Film dann sehen, wenn wir Lust darauf und die Zeit haben. Da ist es wirklich widersinnig, zu warten, bis mein Kino um die Ecke den Film – möglicherweise, aber wahrscheinlich gar nicht – irgendwann mal ins Programm aufnimmt.

Was wäre denn eine adäquate Antwort auf die Krise?
Lars Henrik Gass: Wir stehen gerade vor der Frage, ob wir den Prozess dieses weitgehenden Verschwindens aktiv gestalten wollen oder ob wir ihn dem Markt überlassen. Was gesellschaftlich vor etwa 150 Jahren für die Bildende Kunst, für das Theater, für die sogenannte ernste Musik geleistet wurde, müssten wir jetzt für das Kino leisten: Orte zu schaffen, die keiner Marktlogik mehr unterliegen. Das meine ich mit der geregelten Musealisierung des Kinos. Nun sind aber die Bedingungen dafür denkbar schlecht, einerseits, weil das Kino keine gute Lobby hat, zumindest als kulturelle Praxis. Andererseits ist gerade diese momentane Krise ein Moment, in dem neue Lösungen gefunden werden können.

„Musealisierung“ klingt allerdings auch nach dem Abschluss einer Geschichte. Wie könnte ein Aufführungsort „Kino“ nach dem Endes des Kinos aussehen?
Lars Henrik Gass: Ich spreche mit Bedacht nicht von „Filmmuseum“. Der Begriff „Museum“ ist nicht sonderlich gut beleumundet. Man vermutet Konservierung, also etwas sehr Konservatives. Faktisch geht es bei der Musealisierung aber nur darum, Kulturgüter dem Spiel der Marktkräfte zu entziehen. Das ist etwas, was wir in anderen Kultursparten mit Selbstverständlichkeit annehmen und massiv finanziell befördern. Es geht mir nicht um eine nostalgische Rekonstruktion von Kino, als Ort der guten alten Zeit. Kino muss immer ein Ort sein, der schwierige, anspruchsvolle Filme, die sich am Markt nicht behaupten können, im öffentlichen Raum hält. Darüber hinaus erleben wir einen Moment, in dem viele Kulturbauten wie Denkmäler einer Gesellschaft erscheinen, die gerade untergeht – ausgestorbene Innenstädte, völlig übertriebene Sanierungsszenarien, zum Beispiel im Falle des Frankfurter Schauspielhauses. Man muss sich die Frage stellen, welche Rolle ein Kulturbau in unseren Städten hat. Wer soll da hingehen? Wie soll das funktionieren? Das Interessante wäre jetzt, da der Prozess für die anderen Sparten schon historisch ausbuchstabiert wurde, neu über solche Fragen nachzudenken. Und zwar mit Hilfe des Kinos: Was könnte das Kino jetzt dieser Gesellschaft in den urbanen Räumen für ein Angebot machen? Wie muss er beschaffen sein, damit er überhaupt angenommen wird?

Das Kino würde dann sozusagen vom Objekt der Krise zu einem Medium ihrer Lösung.
Lars Henrik Gass: Es ergibt ja keinen Sinn, jetzt den nächsten Kulturbau in eine ausgestorbene Innenstadt zu stellen, abgesehen von der Frage, ob das bei Wahnsinns-Immobilienpreisen überhaupt noch möglich wäre. Ein Kulturbau muss heute, will er ein progressiver Ort sein, ganz andere gesellschaftliche Fragen beantworten als ein Opernhaus oder eben auch ein klassisches Filmmuseum – von Klimanachhaltigkeit bis zu Veränderungen der Arbeits- und Freizeitgesellschaft. Ein Kino nach dem Ende des Kinos könnte sehr viel billiger errichtet werden, zum Beispiel multifunktional sein und ganz unterschiedliche kulturelle Praktiken beherbergen. Es könnte nicht nur als Freizeitangebot verstanden werden, sondern auch als Arbeitsplatz. Ich könnte mir vorstellen, dass die Bauten auch ambulant und temporär gedacht werden könnten. Muss dieser Bau unbedingt mitten im Stadtzentrum oder kann er auch in bestimmten Außenbezirken stehen? Kann er nicht auch von einem Ort zum anderen ziehen, wenn die Voraussetzungen dafür gegeben sind? Solche Fragen sind eine großartige Herausforderung.

Lars Henrik Gass ist Autor und Leiter der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen. „Film und Kunst nach dem Kino“ ist 2017 in zweiter, überarbeiteter Auflage erschienen. Zuletzt hat er das Buch „Filmgeschichte als Kinogeschichte: Eine kleine Theorie des Kinos“ veröffentlicht.