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Jan Švankmajer

Metamorphose der Materie

| Philipp Döring |

Anlässlich der Ausstellung in der Kunsthalle Wien: Ein Überblick über das fantastische Universum Jan Švankmajers, des Meisters des surrealistischen Animationsfilms, mit Originaltönen aus einem Gespräch mit dem Künstler.

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Mit dem großen weißen Bart und der runden Brille ähnelt er selbst ein wenig Sigmund Freud, so wie er da vor der Leinwand steht und erklärt, warum er seinem neuen Film Surviving Life (im Original Prezít svuj zivot) einen Prolog vorangestellt hat. In Büchern gebe es oft ein Vorwort des Autors, warum also nicht auch in einem Film? Außerdem sei der Film zu kurz geraten – was daran liege, dass Animation eben schneller erzähle als Realfilm – und zwar genau zweieinhalb Minuten, da sei der Prolog gerade recht gekommen. Sehr wohl scheint er sich nicht zu fühlen auf der Bühne vor dem Kinopublikum beim Filmfestival in Dresden. „Alle Interpretationen, die Ihnen während des Films einfallen, sind richtig!“ gibt er den Zuschauern noch mit auf den Weg, dann verschwindet er schnell.

Surviving Life ist Jan Švankmajers sechstes Werk in Spielfilmlänge. Der Tscheche Švankmajer ist einer der ganz Großen des Animationsfilms, zu seinen bekanntesten Bewunderern gehören Tim Burton und Terry Gilliam – und trotzdem ist er hierzulande dem breiten Publikum immer noch weitgehend unbekannt. Auch für seinen neuesten Film, der 2010 beim Filmfestival in Venedig Premiere hatte, gibt es bisher nur in Tschechien und in der Slowakei einen Verleih. Immerhin haben die Festivals von Rotterdam und Wiesbaden kürzlich eine Švankmajer-Retrospektive gezeigt und die Kunsthalle Wien widmet dem Künstler im September eine große Ausstellung unter dem Titel „Das Kabinett des Jan Švankmajer – Das Pendel, die Grube und andere Absonderlichkeiten“.

 

Obwohl er inzwischen schon fast achtzig ist, hat er sich mit seinem jüngsten Film auf Neuland gewagt. Wie alle Filme Švankmajers besteht Surviving Life aus einer Mischung real gefilmter Szenen und Animationen, diesmal jedoch hat er eine Technik intensiv benutzt, die er zuvor nur sehr sporadisch eingesetzt hat: die sogenannte Cut-Out-Animation. Dabei werden Formen aus Papier ausgeschnitten und per Stoptrick über gemalten Hintergründen zusammengesetzt und animiert. Švankmajer hat dazu aber nichts selbst gezeichnet, sondern Schauspieler in Serienaufnahmen bei unterschiedlichem Licht und in verschiedenen Einstellungsgrößen abfotografiert, diese Fotos dann später mit der Hand ausgeschnitten, wieder zusammengesetzt und per Legetrick animiert. Auf diese Weise habe er an Übernachtungen und Catering sparen können, begründet er seine Wahl im Gespräch schmunzelnd.

Freud vs. Jung

Surviving Life
ist der bisher unbeschwerteste und auch ironischste Film des Künstlers geworden. Den bereits erwähnten Prolog spricht er selbst, natürlich in Form einer Fotoanimation. Er erzählt dem Publikum, dass der Film eine „psychoanalytische Komödie“ sei, bei der es aber nur wenig zu lachen gebe (was übrigens ganz und gar nicht stimmt).

Der Film handelt von Evzen, der bisweilen auch Milan heißt. Evzen/Milan hat einen Traum. Darin begegnet ihm eine wunderschöne Frau ganz in Rot und lächelt ihm zu. Sie heißt zunächst Eva, im nächsten Traum dann aber Emily, danach Evzenie und  hat noch viele andere Namen. Da der Traum Evzen/Milan nicht mehr loslässt, geht er zu einer Psychoanalytikerin, von deren Wand Sigmund Freud und C.G. Jung streng von der Wand

herunterblicken – und die im Verlauf der Therapiesitzungen einen
eigenen (animierten) Wettstreit um die Deutungshoheit über Milans Träume beginnen. Milan aber ist nicht gekommen, um verdrängte Probleme zu bekämpfen oder gar den Traum loszuwerden, sondern um im Gegenteil noch viel mehr von dieser Frau träumen zu können. Nach und nach drängt der Traum auch in sein Leben hinein. Die Grenzen zwischen Traum und Realität verschwimmen immer stärker, je tiefer Milan in das Geheimnis der Frau und seines eigenen Lebens eindringt. Auf diesem Weg füllt sich Milans Welt mit einem Sammelsurium an seltsamen Gestalten wie wilden, lechzenden Hunden, nackten Frauen mit Hühnerköpfen, einer Schlange mit verführerischem Apfel oder einem abgeschmusten Teddy mit Dauererektion, um nur einige zu nennen.

Es ist eine Grundidee der Psychoanalyse, dass es eine Trennlinie zwischen bewussten und unbewussten psychischen Vorgängen gibt und sich deswegen hinter dem beobachtbaren Verhalten eines Menschen häufig etwas ganz anderes verbirgt, das dann mithilfe einer Analyse wieder an die Oberfläche geholt werden kann. Diese Idee verträgt sich ganz wunderbar mit der surrealistischen Welt Jan Švankmajers. Ein Grundthema, das der Filmemacher immer wieder verfolgt, ist die Frage nach der Substanz dessen, was wir sehen. Anders formuliert: Sind die Dinge, die wir sehen, wirklich sie selbst oder könnten sie nicht auch etwas ganz anderes sein?

Schon seit seinen frühesten Kurzfilmen spielen Transformationen eine zentrale Rolle für den Künstler: Dinge verwandeln sich, fressen sich auf und speien sich aus, die Materie ist in einem Fluss der ewigen Veränderung begriffen. In Alice (1988) zum Beispiel, Švankmajers Adaption von „Alice in Wonderland“, werden aus leblosen Socken der Caterpillar und andere Würmer und Schlangen – und sind am Ende dann doch wieder nur
Gegenstände aus Alices Zimmer. Zuweilen gibt er die grundsätzliche Ambiguität, bei der ein Ding immerhin entweder das eine oder das andere ist,  auch grundsätzlich auf, wie etwa in seinem vielleicht berühmtesten Kurzfilm Dimensions of Dialogue (1982). Hier wird die Verwandlung selbst zum Thema: Im ersten Teil des Films verschlingen sich zu Beginn noch
ordentlich aus verschiedenen Objekten (Küchengegenstände, Zeichenutensilien, Gemüse à la Archimboldo) zusammengesetzte Köpfe immer wieder gegenseitig, bis nur noch reine Lehmköpfe übrig bleiben.

In Surviving Life hat Švankmajer dieses Prinzip der Uneindeutigkeit von Materie auf die Identität der Figuren und ihrer Beziehungen untereinander übertragen. Es wird immer unklarer, ob der Einzelne wirklich der ist, für den er sich ausgibt. Die Substanz des Menschen selbst wird durchlässig. Es ist eine grandiose Idee, dies mit dieser speziellen Animationstechnik umzusetzen, bei der die Protagonisten in ihre Teile zerlegt und erst später wieder zusammengesetzt werden. Die Ganzheit des Menschen wird so ganz prinzipiell gebrochen.

Gleichzeitig wird der Film mit dieser Technik auch zu einer physiologischen Studie. Švankmajer-Filme sind immer Filme „zum Anfassen“, die Materialität der Welt und der Körper sind stets präsent. Und das nicht zu knapp: Der „Ekelfaktor“ ist bei Surviving Life zwar vergleichsweise gering, aber es fließen auch hier Körperflüssigkeiten aller Art. Wenn kopuliert wird, dann ist das bestimmt nicht langweilig, und wenn etwas erbrochen wird, dann genüsslich, nicht zu kurz und bis zum bitteren Ende. Auch das ist natürlich wieder eine Variation der Metamorphose von Materie.
Humor, Meisterschaft und Perfektion

Es gibt aber auch einige Dinge, die man so noch nie in einem Švankmajer-Film gesehen hat. Das ist zum einen der Schnitt, der Kameraperspektiven hauptsächlich nach einem 90-Grad-Muster kombiniert. Die Menschen werden fast immer im Profil oder frontal aufgenommen und schauen dabei auch meist in die Kamera, eine Art der Montage, die tatsächlich ein wenig an die Filme von Ozu Yasujirô erinnert.

Eine vielleicht noch bemerkenswertere Neuerung ist der Humor, der hier in bisher ungekannter Weise zutage tritt. Witzig waren Švankmajers Filme häufig auf die eine oder andere Weise, aber dieser ist tatsächlich seine erste Komödie, so traurig und bissig diese auch immer wieder daherkommt. Dabei spielt die Animationstechnik eine große Rolle: Wie der Meister selbst im Prolog des Films erzählt, wurde die Cut-Out-Animation hauptsächlich in alten Kinderfilmen eingesetzt. Alle Bewegungen sehen immer ein wenig unbeholfen und holprig aus. Diese Holprigkeit haben auch die Bewegungen in Surviving Life, aber Švankmajers Timing ist so vollendet, die Durchführung von einer solchen Perfektion, dass aus der Diskrepanz zwischen wackeliger Technik und minutiösem Einsatz eine Menge an Witz entsteht.

Überhaupt: Die Meisterschaft und Perfektion merkt man an jeder Stelle – und trotz des enorm komplexen Enstehungsprozesses ist der Film von einer ungeheueren Leichtigkeit. Es gibt ein kurzes Making-Of zu Surviving Life, in dem man Jan Švankmajer ein wenig bei der Arbeit zusehen kann. Er wirkt ungemein konzentriert und ist immer völlig klar in seinen Anweisungen. Die Arbeit ist nicht leicht für die Schauspieler, denn sie müssen eine völlig andere Art zu spielen entwickeln, als man es aus einem gewöhnlichen Film kennt. Viele Gesichtsausdrücke und Gesten sind größer und deklamatorischer als beim Spielfilm. Beim „normalen“ Drehen wird die Handlung zwar auch in kleine Abschnitte aufgelöst, aber hier werden sogar diese Szenenhäppchen noch einmal fragmentiert und nur einzelne Körperteile gefilmt. Es wird viel improvisiert – aber das bedeutet kein zielloses Suchen, ganz im Gegenteil. Es wird ausprobiert, und der Regisseur sagt sofort, was er behalten will und welche Geste verworfen werden soll. Er weiß genau, was er will, und erst das macht die Improvisation fruchtbar. „Es ist wie beim Jazz“, meint Švankmajers Produzent Jaromir Kallista, mit dem er wie mit seinen meisten Teammitgliedern schon seit Jahrzehnten zusammen arbeitet.

Ein eigenes Universum

Und Švankmajer hat alles in seinem Kopf. Es gibt in Surviving Life keine einzige Einstellung, die nur real gefilmt oder nur animiert ist. Jedes einzelne Bild ist eine Mischung aus verschiedenen Komponenten. Die meisten Einstellungen haben mindestens ein halbes Dutzend Entwicklungsschritte hinter sich. Eine typische Einstellung etwa sieht so aus: Die Schauspieler werden erst mit Serienbildaufnahmen fotografiert. Am Computer werden die verschiedenen Körperteile auseinandergenommen und teilweise wieder zusammengesetzt. Dieses Material wird  ausgedruckt und mit der Schere ausgeschnitten. Anschließend wird ein Hintergrund erstellt, zum Beispiel eine Häuserwand, die ihrerseits in der Regel wieder aus mehreren Elementen besteht. Auf diesem Hintergrund werden die ausgeschnittenen Körperteile dann zusammengefügt und einzelbildweise animiert. Daran beteiligt sind Animatoren, die mit dem Computer groß geworden sind, genau so wie Stoptrick-Animatoren der „alten Schule“, die grundsätzlich mit Schere und Kleber arbeiten. Manche Details, wie etwa die Münder, werden für jeden einzelnen Laut und zusätzlich für spezielle Lautkombinationen fotografiert, damit sie nachher auf den gesprochenen Dialog passen.

Ein riesiger Aufwand? In der Tat. Der Film hat 264 Drehtage gebraucht, mehr als bei allen seinen bisherigen Filmen. Aber wenn eine Szene einmal abgedreht ist, wird sie nie mehr wiederholt. „Es kann mir nicht passieren, dass es nicht stimmt“, sagt Švankmajer. Und wenn er sich doch einmal unsicher ist, dann merkt er das vorher und dreht unterschiedliche Varianten, von denen eine die richtige sein wird.

So wie er ein eigenes filmisches Universum erschaffen hat, arbeitet der Künstler auch in seinem kleinen persönlichen Universum. Mit seiner Produktionsfirma Athanor hat er eine Hütte zum Studio ausgebaut, in der der Film komplett gedreht worden ist. Der klassische Schneidetisch, der genau wie die 35mm-Kamera schon ein paar Jahrzehnte auf dem Buckel hat und an dem er alle seine Filme geschnitten hat (eine Rarität: Niemand möchte oder kann heute noch auf die Bequemlichkeiten des Computers verzichten), steht nebenan. Er hat alles da, um seinen Film von Anfang bis Ende zu machen, nur das Team holt er sich dazu. Anders als bei der Wahl der Methode der Cut-Out-Animation dürfte die Entscheidung, alles „zu Hause“ zu produzieren, auch eine finanzielle Notwendigkeit sein. Viel billiger als ein normaler Spielfilm ist diese Art von Animationsfilm nämlich nicht. Das Team ist zwar klein, wird jedoch für sehr viele Drehtage benötigt, und die Animatoren-Mannschaft dürfte noch einmal doppelt so lang mit an Bord sein. So wird eben an Studio und Equipment „gespart“.

Trotz seines künstlerischen Renommees ist es für Švankmajer nicht leicht, seine Filme zu finanzieren. In den Siebziger Jahren war er lange Zeit mit einem Berufsverbot belegt und arbeitete an Installationen, Zeichnungen und Objekten (einige davon werden in der Wiener Ausstellung zu sehen sein). Ein Berufsverbot braucht er heute zwar nicht mehr zu fürchten, dafür kämpft auch er mit den Zwängen eines auf „Markttauglichkeit“ ausgerichteten Kinos, denn natürlich wird so ein Film seine Kosten niemals wieder einspielen. Und das ist schade. Denn vielleicht ist das eigentliche Wunder, dass ein solcher Film mit seiner überall präsenten Verfremdung, der auf alle klassischen Identifikationsmechanismen des Kinos verzichtet, so sehr zu Herzen gehen kann.