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Julie – Eine Frau gibt nicht auf

Filmstart

Julie – Eine Frau gibt nicht auf

| Ines Ingerle |
Porträt einer Frau im Dauerstress

 

Vollzeit Anstrengung, Vollzeit Stress, Vollzeit Verantwortung. Julie (Laure Calamy) trägt gefühlt die Last der Welt auf ihren Schultern, die jeden Tag noch einen Kilo schwerer zu werden scheint. Als alleinerziehende Mutter lebt sie in einem Vorort von Paris, wo sie Mühe hat, die Lebenshaltungskosten zu decken. Der Vater der beiden Kinder ist weder physisch anwesend noch telefonisch erreichbar, zahlt die Alimente nicht fristgerecht und schafft es selbst am Geburtstag seines Sohnes nicht, sich zu melden. Jeden Tag bringt Julie die Kinder bereits vor Sonnenaufgang zur Tagesmutter und pendelt in die Stadt, wo sie in einem Luxushotel als Hausdame arbeitet. Gleichzeitig versucht sie, in einer anderen Firma einen besseren Job zu bekommen. Ihre verzweifelte Lage lässt sie zu riskanten Methoden greifen, die sie in ordentliche Schwierigkeiten bringen. Als ein nationaler Streik das gesamte öffentliche Verkehrsnetz lahm legt, droht Julies Situation vollends aus dem Ruder zu laufen und in einem Desaster zu münden.

Keine Ruhe, keine Minute Pause, keine Entspannung: Das Hauptthema dieses Dramas ist ein Krankheitsbild unserer Gesellschaft. Die Anforderungen des Alltags sind überwältigend und unsere Ressourcen oft schon lange aufgebraucht, aber aussteigen geht nicht, gilt nicht, gibt es nicht. Laure Calamy brilliert in der Rolle der getriebenen, unermüdlichen und zunehmend entkräfteten Julie, die sich nicht erlaubt, zur Ruhe zu kommen und stets weiter läuft: Um ihr Leben und das ihrer Kinder. Besonders eindringlich wird die Rastlosigkeit in jenen Szenen, in denen sie richtiggehend manisch Bussen, Taxis oder Zügen hinterherjagt oder in High Heels in vollem Tempo durch die Stadt sprintet, nur um rechtzeitig ihr Ziel zu erreichen, während sie sich selbst mit jedem Meter mehr verliert. Es sind Calamys ausdrucksstarke Körpersprache und Mimik, die für den Zuschauenden die innere Anspannung dieser Frau spürbar machen. Spätestens als sie versucht, mit Puder ihre unaufhaltsam über die Backen kullernden Tränen zu überdecken und wütend darüber wird, dass es nicht gelingt, versteht man: Hier ist eine feinfühlige Seele sehr weit weg von ihrem wahren Selbst gerückt und findet keinen Weg zurück. Als Julie am Bahnsteig mehrmals zu nah an den Gleisen steht, hält man zurecht die Luft an: Denn es wäre verständlich, dass sie nur noch diesen Ausweg aus ihrem anstrengenden Dasein sieht.

À plein temps ist eine intensive Auseinandersetzung mit dem Wettlauf mit der Zeit und zugleich ein dringend notwendiges Wachrütteln, das vielleicht ja den einen oder die andere aus dem eigenen Alptraum reißt.