Das formidable True-Crime-Drama „Just Mercy“ rollt einen Justizskandal auf.
Bryan Stevenson (Michael B. Jordan) hätte mit seinem Studium eigentlich schon das Fundament für eine veritable – und auch sehr gut bezahlte – Laufbahn gelegt. Denn als Absolvent der rechtswissenschaftlichen Fakultät der elitären Universität Harvard stehen dem jungen Mann so ziemlich alle Türen offen, von denen ein Jurist nur träumen kann. Doch er entscheidet sich dafür, vom heimatlichen Delaware nach Alabama zu übersiedeln, um Menschen beizustehen, denen kein faires Verfahren gewährt wurde, weil sie sich keine angemessene rechtliche Hilfe leisten konnten. Doch Bryans altruistischer Entschluss erfährt nicht einmal in der eigenen Familie ungeteilte Zustimmung, macht sich doch seine Mutter große Sorgen, dass ein afro-amerikanischer Anwalt, der im Süden der Vereinigten Staaten gegen Unzulänglichkeiten des dortigen Justizwesens angeht, sich auch noch im Jahr 1989 handfesten Bedrohungen gegenüber sehen könnte – sie wolle schließlich nicht die Beerdigung ihres Sohnes organisieren müssen.
Dixieland
Dass es sich dabei nicht bloß um Einwände einer überängstlichen Mutter handelt, wird Bryan Stevenson nach seiner Ankunft in Alabama sehr bald deutlich vor Augen geführt. Seine dort ansässige Mitstreiterin Eva Ansley (Brie Larson) hat größte Schwierigkeiten, Büroräume für die von Stevenson gegründete Equal Justice Initiative anzumieten, sobald die Absichten der Organisation bekannt werden.
Als sie Bryan anbietet, seine Arbeit zunächst von ihrem Haus aus zu machen, bleibt die erste Drohung, das Gebäude in die Luft zu sprengen, nicht lange aus. Als Bryan das erste Mal einen Klienten im Todestrakt aufsucht, wird er von einem der Gefängnisaufseher genötigt, sich zu entkleiden und einer demütigenden Prozedur – von der Anwälte per Gesetz eigentlich ausdrücklich ausgenommen wären – zu unterziehen. Eine deutliche Demonstration des weißen Beamten, wer in Alabama das Sagen hat. Nur zur Erinnerung: Das alles spielt sich nicht im 19. Jahrhundert, wenige Jahre nach Ende des Amerikanischen Bürgerkriegs, ab. Auch nicht in den sechziger Jahren, als der Kampf um Bürgerrechte seinem Höhepunkt zustrebte und in einem der Südstaaten wie Mississippi drei Aktivisten (beinahe) ungestraft ermordet werden konnten, wie dies Alan Parker in seinem auf wahren Begebenheiten beruhenden Mississippi Burning (1988) aufgerollt hat. Das alles passiert in den Vereinigten Staaten von Amerika von 1989, und das Wissen, dass Just Mercy und die Geschichte von Bryan Stevenson ebenfalls auf realen Ereignissen und Personen beruhen, macht die Sache umso bedrückender.
Dass er als Anwalt am richtigen Platz ist, wird für Stevenson jedoch rasch klar, als er einem seiner ersten Mandanten begegnet: Walter McMillian (Jamie Foxx), von allen Johnny D. genannt, und wegen Mordes an einem 18-jährigen – weißen – Mädchen zum Tode verurteilt. Beweise forensischer Natur gibt es keine, die Verurteilung beruht im Wesentlichen auf der belastenden, doch höchst fragwürdigen, Aussage eines anderen Straftäters, der im Gegenzug einen Handel mit der Staatsanwaltschaft vereinbart hatte, um sein eigenes Strafmaß zu mildern. Eine große Anzahl Entlastungszeugen, die Johnny D. ein wasserdichtes Alibi geben, wird ignoriert, weil man afro-amerikanischen Bürgern in Alabama offensichtlich keinen Glauben schenken will. Und zu schlechter Letzt wandelte der Richter die lebenslange Haftstrafe, die die Geschworenen verhängt hatten, in die Todesstrafe um. Bryan Stevenson weiß also, dass er der Einzige ist, der das Leben von Johnny D. vielleicht noch retten kann. Destin Daniel Cretton, der sich mit Short Term 12 und dem biografischen Drama The Glass Castle – in beiden Filmen spielte übrigens Brie Larson Hauptrollen – mit problematischen Seiten sozialer Realität auseinander gesetzt hat, führt dies nun thematisch in seiner neuen Regiearbeit fort, die einen ebenso bemerkenswerten wie effektiven Umgang mit einem True-Crime-Stoff pflegt.
Systemfehler
Just Mercy steht dabei durchaus in der Tradition engagierter Justizdramen wie I Want to Live! (Regie: Robert Wise, 1958), Compulsion (Richard Fleischer, 1959) oder In Cold Blood (Richard Brooks, 1967) – der Adaption von Truman Capotes gleichnamigem, stilbildendem Tatsachenroman –, die ebenfalls reale Begebenheiten zum Anlass nahmen, um in Form eines durchaus populären Genres eine klare Positionierung – etwa die Ablehnung der Todesstrafe als zutiefst inhumane Sanktion, die mehr einem archaischen Racheprinzip als Gerechtigkeitsempfinden entspricht – zu demonstrieren. Auch Just Mercy repräsentiert diese mittlerweile etwas rar gewordene Form von „Message Cinema“, das gehaltvolles, qualitatives Genrekino mit Haltung zu verbinden versteht. Doch Cretton setzt in seiner Inszenierung, fast noch mehr als seine renommierten Regiekollegen Wise, Fleischer und Brooks, auf eine betonte Nüchternheit, die erst gar nicht versucht, sich der dramaturgischen Wucht, die Justiz- und Gerichtssaaldramen nun einmal innewohnt, mit aller Macht zu bedienen.
Natürlich finden sich auch in Just Mercy vertraute Schlüsselelemente des Genres wie Zeugenbefragungen, die Bryan Stevenson im Zug seiner Recherchen durchführt, doch dabei kommt es nicht zu einer spektakulären Wendung im letzten Moment. Vielmehr werden anhand der Arbeit des jungen Juristen die Mühen der Ebenen deutlich, die die Inanspruchnahme aller Instanzen und Rechtsmittel mit sich bringt. Und es wird evident, dass es sich bei Johnny D. nicht um einen Einzelfall handelt, bei dem eine verhängnisvolle Verkettung von Irrtümern und Schlampereien – was im Justizwesen schon schlimm genug wäre – zu einem Fehlurteil geführt hat, sondern um ein durchaus unheilvolles System, in dem die Chancen derjenigen, die sich keine aufwändige Verteidigung leisten können, schon ziemlich schlecht stehen, bevor die Frage der Schuld in ihrem Kern überhaupt erläutert wurde.
In einem sozialen Umfeld, in dem Suprematismus offenbar immer noch eine Rolle spielt, besteht die Gefahr, dass ein solches System vollständig kippt und alles garantiert ist, außer der Gleichheit vor dem Gesetz, die doch Eckpfeiler jedes demokratischen Systems ist. Im Verfahren gegen Johnny D. treten die offenkundig rassistisch motivierten Vorurteile rasch zu Tage. Es mutet wie bittere Ironie an, dass Stevenson nach seiner Ankunft in Monroeville, jener Kleinstadt in Alabama, in der Johnny D. der Prozess gemacht wurde, darauf aufmerksam gemacht wird, dass er sich in der Heimat der Schriftstellerin Harper Lee – die gute Freundin Truman Capotes leistete ihm übrigens bei der Arbeit an „In Cold Blood“ maßgebliche Unterstützung – befinde. Lees mit dem Pulitzerpreis ausgezeichneter Roman „To Kill a Mockingbird“ basiert lose auf ihren Kindheitserinnerungen in besagtem Monroeville, die zentrale Figur Atticus Finch ist ein Anwalt, der in seinem Kampf gegen Intoleranz und Rassismus geradezu modellhaft moralische Integrität verkörpert.
Davon bekommt Stevenson im Verlauf seiner Bemühungen, seinem Klienten Gerechtigkeit zu verschaffen, wenig zu spüren. Mit über weite Strecken nüchterner Präzision deckt Cretton in Just Mercy – dass er auch Raum für differenzierte Charakterisierungen findet, unterstreicht die Stimmigkeit seiner Inszenierung – jene verhängnisvolle Mischung aus strukturellen Unzulänglichkeiten und individuell bedingter Bösartigkeit aus, die zumindest manchen Teilen des US-amerikanischen Justizsystems kein gutes Zeugnis ausstellt und einen immer wieder fassungslos zurücklässt. Übrigens: Walter McMillians Zellennachbar, Anthony Ray Hinton (gespielt von O’Shea Jackson Jr.) verbrachte 28 Jahre im Todestrakt, ehe er 2015 vollständig rehabilitiert seine Freiheit wiedererlangte. Er war seit 1973 der 152. Häftling in den Vereinigten Staaten, der entlastet die Todeszelle verlassen durfte.