Philippe Lioret inszeniert ein Drama rund um ein rätselhaftes Familiengeheimnis.
Es gibt Filme, die man nicht vom Ende her nacherzählen darf. Bei einem Thriller akzeptiert man es als Spielregel, den Ausgang nicht verraten zu dürfen, weil er alles Vorangegangene in ein anderes Licht taucht oder ihm gar den Boden unter den Füßen nimmt. In einem psychologischen Drama hingegen hegt man Argwohn gegenüber einem solchen Wissensvorsprung der Filmemacher; man lässt sich nicht gern manipulieren.
Aus gutem Grund, denn in diesem Genre wird ein anderer Pakt des Vertrauens zwischen Publikum und Film geschlossen. Man will nicht das Gefühl haben, sich in den Figuren und ihren Motive getäuscht zu haben. Philippe Lioret gelingt in Je vais bien, ne t‘en fais pas eine erstaunliche Gratwanderung. Er hat einen Film über die Ungewissheit der Empathie gedreht, der emotionale Suspense entsteht bei ihm aus der Schwierigkeit, sich in einen anderen hineinzuversetzen.
Als Lili aus dem Urlaub heimkehrt, erfährt sie, dass ihr Zwillingsbruder Loic seit einem Streit mit ihrem Vater spurlos verschwunden ist. Er hat nichts für sie hinterlassen, außer einem Lied, das er für sie komponiert hat. Auf ihre Anrufe reagiert er nicht. Lili wird liebeskrank, aus unerwidert geglaubter geschwisterlicher Zuneigung. Die Trennung vom Bruder wird ihr unerträglich, sie bricht ihr Studium ab, isst nicht mehr und wird schließlich in die Psychiatrie eingewiesen. Erst die Postkarten, die sie von Loic erhält, geben ihr wieder Lebensmut. Von nun an trägt ihr der Film ein zweifaches Mandat an: ihren Bruder zu finden und ihre eigene Zukunft meistern zu lernen.
Philippe Liorets Kino ist auf ganz altmodische Weise den Figuren zugeneigt (Mélanie Laurent und Kad Merad haben gerade bei der César-Verleihung zwei Darstellerpreise gewonnen). Von der französischen Kritik weitgehend unbemerkt, hat der Regisseur sich mit seinen fünf Kinoarbeiten überaus souverän und komfortabel im Zwischenbereich von Mainstream und Autorenfilm eingerichtet. Lioret sähe sich gern als Modernist, ist aber – wie sein Film Die Frau Des Leuchtturmwärters vor zwei Jahren eindrucksvoll bewies – stark den Genretraditionen verpflichtet. Ganz nebenbei gelingt es ihm auch noch, parallel zu dem ungewöhnlichen Konflikt (wann erzählt das französische Kino schon mal von Geschwisterbeziehungen?) von all den anderen Problemen zu erzählen, die sich aus dem Erwachsenwerden und dem Abgrund zwischen den Generationen ergeben.