Der südkoreanische Regisseur Kim Ji-woon, vielerorts als Entdeckung gehandelt, hat es beim Internationalen Filmfestival von Thessaloniki zu einer Werkschau gebracht. Endlich.
Die ersten Sonnenstrahlen brechen durch den Spalt der dicken Vorhänge. Das junge Mädchen schreckt hoch. Bilder eines Alptraums – verzerrte Gesichter, ein Kind auf der Flucht, eine blutüberströmte Hand – haben es aus dem Schlaf gerissen. Allmählich kommt es wieder zu Atem und sinkt erschöpft in den Polster zurück. Die Schwester neben ihm schläft tief und fest. Da fällt sein Blick auf das Fußende des Bettes – und erstarrt: Eine Frau, schwarz gekleidet und das Gesicht verborgen hinter langem schwarzem Haar, kriecht auf dem Boden. Plötzlich erhebt sie sich zu voller Größe, steigt auf das Bett und über das Mädchen, das der Frau nun ins Antlitz sehen kann – und zum zweiten Mal erwacht. Aus einem Traum vom Traum.
Spätestens seit A Tale of Two Sisters (2003; Viennale 2004) ist Kim Ji-woon hier zu Lande kein ganz Unbekannter mehr. Und spätestens seit A Tale of Two Sisters ist ersichtlich, wie schwer sich die Filmberichterstattung, mit Schubladen ansonsten schnell zur Hand, mit der Einordnung des Werks des Südkoreaners tut. Die Geschichte rund um zwei Mädchen, denen in einem abgelegenen Haus in Anwesenheit einer bösen Stiefmutter Böses widerfährt, ist dem ersten Anschein nach ein Horrorfilm, gewiss. Aber ein Horrorfilm, der, auf einem korea-nischen Märchen beruhend, mit der Erwartungshaltung des Publikums (und der Kritik) ebenso frei umgeht wie mit seiner Vorlage.
Doppelte Böden
Dass im Kino oft nichts so ist, wie es scheint, ist heute nicht mehr der Rede wert. In den Filmen von Kim Ji-woon aber wird diese latente Unsicherheit erneut auf die Probe gestellt: Denn nicht der einfache falsche Schein wird am Ende einer Verifizierung unterzogen, sondern oftmals ein doppelter Boden, der die Protagonisten – und damit einmal mehr den Zuschauer – in die Falle gehen lässt. Dies funktioniert natürlich (nur) als Spiel mit Erwartungshaltungen und als solches auf der Basis eines akzeptierten beziehungsweise kanonisierten Regelwerks, wie es das Genrekino auch heute noch vorschreibt.
Auf den ersten Blick sind deshalb auch alle vier bisherigen Langfilme Kim Ji-woons klassische Genrearbeiten: Am Beginn steht eine schwarze Komödie (The Quiet Family, 1998), gefolgt von einer solchen mit ernsten Zwischentönen (The Foul King, 1999). Danach folgt der Wechsel ins Horrorfach: Auf die Episode Memories für den Episodenfilm Three (2002) folgt A Tale of Two Sisters, und den bisherigen Abschluss macht mit A Bittersweet Life (2005) wohl einer der spektakulärsten Rachethriller des vergangenen Jahres.
Doch in all diesen Arbeiten macht sich Kim Ji-woon die Genreregeln nicht zu Eigen, indem er den Rahmen des Genres sprengen würde (im Sinne einer Autorentheorie), sondern denkt sie vielmehr konsequent zu Ende (im Sinne einer Überhöhung). Es ist eher ein unverbindlicher Umgang mit Konventionen, der diese Filme auszeichnet, konzipiert für ein Publikum, das sich in der Rolle eines Komplizen wieder findet, der dem Regisseur gehorsam den ausgetretenen Weg folgt, um von plötzlichen Abzweigungen überrascht zu werden – und dann allein dasteht. Das ist (neben vielen anderen) auch der größte Unterschied zu den Arbeiten von Park Chan-wook (Old Boy), mit dem Kim Ji-woon – nicht gerade zu seiner Freude – vor allem seit A Bittersweet Life verglichen wird. „Der Unterschied: Park ist ein Poet, Kim ein Stilist, sozusagen ein Ridley Scott im Vergleich zu Parks Stanley Kubrick. Ein Mann, der Oberflächen liebt und daraus lupenreines Kino schafft, das süchtig macht“, wie es im Katalog des Fantasy Film Fests 2005 so treffend heißt.
Formen und Flächen
Doch was bedeutet es, „Stilist“ zu sein? Gerne wird damit jemand etikettiert, dem die Form wichtiger sei als die Erzählung, den die „Oberfläche“ mehr interessiere als die Psychologie. In diesem Sinne trifft die Beschreibung auf Kim Ji-woon durchaus zu, doch die Frage müsste in Wirklichkeit lauten, wofür die „stilisierten“, exakt auf ihre Wirksamkeit berechneten Bilder stehen. Denn die schrägen Perspektiven, extremen Winkel oder das bis ins kleinste Tapetenmuster komponierte Interieur, die man in den Filmen Kim Ji-woons zu sehen bekommt, stehen zunächst ganz einfach für eine Inszenierung, die sich in den Dienst der unmittelbaren Wirkung stellt.
Und diese kommt bei Kim Ji-woon stets von außen (und nie aus einem inneren Antrieb der Protagonisten heraus): In The Quiet Family, dem noch relativ stringent erzählten Erstlingsfilm, pachtet eine zwischen Dummheit und Chaos changierende Familie ein Landgasthaus und wird durch eine Verkettung unglücklicher Umstände – oder besser: dem Selbstmord ihres ersten Gastes – immer tiefer in einen Strudel der Verirrungen und Verleugnungen gezogen; in Memories, der als eine Art Fingerübung zu A Tale of Two Sisters betrachtet werden kann, hängt das tödliche Verschwinden einer Frau unmittelbar mit den Auswirkungen der Stadt und des Gebäudes zusammen; in A Tale of Two Sisters schließlich bewirkt das Eindringen des Horrors (im wiederkehrenden Motiv des abgelegenen Hauses) keinen Zusammenhalt der ohnehin labilen Familienmitglieder, sondern sprengt die Gemeinschaft förmlich von innen; und in A Bittersweet Life, in dem schon im penibel choreographierten Vorspann die Namen der Darsteller sich in kleine Rauchwolken auflösen, ist es ebenfalls eine von außen in die „Familie“ hinein getragene Störung, die am Ende zu deren völliger Auflösung führt: Der Gangster Kim Sun-woo, rechte Hand des Bosses eines Clans, muss die Aufgabe übernehmen, die Geliebte seines Herrn zu observieren und – falls sich dessen Verdacht der Untreue bestätigt – das heimliche Glück auszulöschen. Doch Kim Sun-woo lässt im Moment der Entdeckung eine Schwäche zu und das junge Paar am Leben. Es ist dieser einzige Fehler des Helden, der eine Kette von symbolisch aufgeladenen Gewalttaten, Racheakten und physischen und psychischen Grausamkeiten sondergleichen nach sich zieht („Even by Korean standards of movie brutality, A Bittersweet Life raises the bar to a new level”, wie das amerikanische Branchenblatt Variety urteilte). Diese „Ursprungstat“ findet sich in allen Filmen Kim Ji-woons, und sie ist es, die den Stein ins Rollen bringt. Ein Stein, von dem man als Zuschauer glaubt zu wissen, wohin er sich bewegt, bis man von ihm überrollt worden ist.