Das IFFI #33 fand Zusammenhänge und Widersprüche, machte froh und betroffen. Bericht von einer gelungenen Festwoche des Films.
Soeben ging die 33. Ausgabe des International Film Festival Innsbruck zu Ende, zuerst mit einem verdient festlichen Preisverleihungsabend inklusive Drag-Party sowie Konzert des ugandischen Künstlers Faizal Mostrixx, am letzten Spieltag dann mit Screenings der Gewinnerfilme und schließlich eines obskuren Kult-Werks: Powaqqatsi (1988) auf der großen Leinwand, Teil zwei von Godfrey Reggios Qatsi-Trilogie, auch heute (oder: heute wieder) ein Staunen hervorrufendes Ereignis. Die von Philip Glass’ sinfonisch vertonte Zick-Zack-Tour durch drei Kontinente brennt sich im Jahr 2024 als nicht unproblematisches New-Age-Guilty-Pleasure und beinahe prophetischer Meilenstein ein; eine hemmungslos verkitschte Offenbarung des kapitalistischen Wahns, über die sich trefflich streiten lässt. Jedenfalls lässt sich von diesem Bilderstrom als Ausgangspunkt auf vieles von dem zurückblicken, was die vorangegangenen Tage in Innsbruck, genauer: im Leokino und im Cinematograph, zum Vorschein brachten.
EIGENE REPRÄSENTATION
Dies thematisch einerseits auf einige Filme bezogen, die zwar ebenfalls cineastische Abbildungen des Globalen Südens zeigen, die darin lebenden Menschen jedoch zu Wort kommen lassen. Viele gute und sehr gute Filme des Programms zeichnen sich durch ihre ästhetisch ansprechende und trotzdem greifbare, realitätsnahe Beschäftigung mit Lebens- und Arbeitswelten aus. Einnehmende Kinoerzählungen, die die sogenannte „globalisierte“ Welt mitunter dahingehend ergründen, dass diese für so viele Orte einen maßlos komplizierten Neustart nach einer Kolonialherrschaft bedeutet. Herausragend und nachvollziehbar bringt diesen komplexen Status Quo Eat Bitter von Ningyi Sun und Pascale Appora-Gnekindy nahe, der im Dokumentarfilmwettbewerb mit einer „Special Mention“ bedacht wurde. Es treffen sich darin ein einheimischer Sandtaucher und ein aus China immigrierter Bauleiter in der Hauptstadt der Zentralafrikanischen Republik; zwei Perspektiven und zwei Individuen, die beide, wenngleich mit unterschiedlichen Vorzeichen, nach sozialem Aufstieg streben. Einem typischen Macht- und Klassen-Gefälle, spürt auch Baavgai Bolohson (If Only I Could Hibernate), der die Südwind-Jugendjury am meisten überzeugte, nach: Im ersten Langfilm von Zoljargal Purevdash – es ist der erste mongolische Film, der in die Official Selection von Cannes eingeladen wurde – bahnt sich das naturwissenschaftliche Talent des jungen Protagonisten als möglicher Ausweg aus der extrem prekären finanziellen Situation seiner Familie an, eine gute Schule in Ulaanbaatar verspricht die große Chance. Fernab von romantischer Verklärung ist hier aber sichtbar, dass „höhere“ Bildung schon ein gewisses Startgeld erfordert, so oft schon im Keim verunmöglicht wird.
Die „Special Mention“ des Spielfilmwettbewerbs, The Bride von Myriam U. Birara, baut hingegen auf den gesellschaftlichen Trümmern des Genozids in Ruanda, verbrochen von extremistischen Hutu vor allem an Tutsi, welchem unter anderem eine Verschärfung der Polarisierung der beiden Volksgruppen unter deutscher und belgischer Kolonialherrschaft vorausgegangen war. Der Genozid ist präsent, wenn auch nicht Hauptgegenstand: Die Regisseurin behandelt mit bravourösem Fingerspitzengefühl und Verzicht auf allzu künstlich hinzugefügtes Drama einen gewaltsamen Heirats-Brauch, der, wie sie im Q&A erklärt, heute zum Glück quasi nicht mehr vorkommt. Mit geringen Mitteln als wahrhaftiges Indie-Kino gedreht, gelingt ihr darin überdies ein vorzügliches Beispiel davon, was Female Gaze sein kann. Am direktesten der zeitgenössischen Filme des Festivalprogramms stellt mit Sicherheit Das leere Grab die Wirklichkeit dessen vor, was die zirkulierenden Begriffe von Post- und Dekolonialität für Menschen tatsächlich bedeuten können: Agnes Lisa Wegners und Cece Mlays Film ist, wiewohl gebührend sachlich und unaufgeregt gestaltet, eine bedrückende, erschütternde Aufarbeitung des Umstands, das zehntausende Gebeine aus den ehemals kolonial beherrschten Gebieten und Ländern in Deutschland lagernd sind, namenlos in Lagerräumen, Archiven, Museen. Das leere Grab begleitet zwei Familien aus Tansania, für die Rückgabe von Knochen eines bestimmten Gesellschaftsmitglieds kämpft, zeigt parallel im Anliegen verbündeten Aktivismus in Berlin. Ein Film, der über Jahre hinweg von einem riesigen Publikum gesehen werden sollte, Prognosen darüber muss man wohl realistisch halten. Dass ein solch „schwerer“ Film ein Publikumsvoting bei einem Filmfestival gewinnt, ist durchaus nicht alltäglich, schön, dass es hier passiert ist.
UM DIE WELT
Letzteres ist einer von unzähligen kleinen und großen Beweisen dessen, dass das IFFI seinem diesjährigen Festivalmotto gerecht werden konnte: Raus aus der Komfort- und rein in den Bereich der Kontaktzone, der Zone der Auseinandersetzungen. Mit „Enter the Contact Zone“ sollte der Titel der Retrospektive, die dem Taschkent Filmfestival gewidmet war – eine wegweisende Institution, die sich auf das Zeigen von Filmen aus Asien, Afrika und Lateinamerika konzentrierte; später wurde auch Powaqqatsi dort aufgeführt –, über alle Programmpunkte hinweg einen Bogen des Gemeinschaftlichen spannen. Ausgehend vom bezaubernd schönen, in Taschkent selbst spielendem Nežnost’ (Tenderness, 1966) von Ėl’er Išmuchamedov, führte die Retrospektive zu Filmen, die auch Jahrzehnte später kaum altmodisch, schon gar nicht überholt wirken: die komisch-schlau verwinkelten Interpretation der von schier bürokratischer Hierarchie und strengen Geschlechter- und Klassenrollen geprägten Kultur im Japan der Edo-Periode in Jôi-uchi: Hairyô tsuma shimatsu (Samurai Rebellion, 1967, R: Kobayashi Masaki). Oder, viel eindeutiger, zum einen in Interview (1970) von Mrinal Sen, der indische Regisseur setzt experimentelle Elemente und Reflexionen über die britische Kolonialregentschaft in eine turbulente Komödie, die dem beliebten Topos von „Was-kann-an-einem-wichtigen-Tag-denn-alles-schiefgehen“ nur fast immer folgsam ist. Zum anderen in Xala (1975), Ousmane Sembènes Satire über korrupte Eliten, und sehr bemerkenswert in Mueda, mémoria e massacre: Dessen Ansatz mit Laien im Wechsel von Fiktionsspiel, Reenactment und monologischen Zeugnissen, könnte genauso als heutig eingeordnet werden, Regisseur Ray Guerra veranschaulicht so bereits 1980 einen Tag der Auflehnung, der Dutzende Todesopfer forderte und ein prägendes Geschehnis für den Kampf um die Unabhängigkeit Mosambiks werden sollte.
Auch die Sektion „Weltweite Visionen“ kreiste diesmal besonders eng um den Festivalschwerpunkt, was teils einem äußerst traurigen Anlass geschuldet war, aus dem das IFFI das Bestmögliche machte: Das Bereisen der Welt, um das menschlich Verbindende in den diversen geografisch-kulturellen Eigenheiten zu finden, und das dementsprechende Verständnis von Film- und Kinokultur, das Brücken zu bauen beabsichtigt, verkörperte Helmut Groschup wie kaum jemand sonst. Der Gründer des Festivals, der am 1. Juli 2023 überraschend verstorben war, fehlte erstmals und dies sehr. Seiner wurde mit einem eigenen Schwerpunkt in den „Weltweiten Visionen“ gedacht, mit Filmen ausgewählt von Menschen, die ihn auf seiner persönlichen, so stark dem Medium Film gewidmeten Reise begleiteten. Vorgestellt wurde außerdem sein nun posthum erschienenes Buch „Weltreise in 40 plus 3 Tagen“. In der Filmauswahl war Außergewöhnliches zu entdecken, ein Highlight davon Kummatty (R: Govindan Aravindan), getragen von der fantastischen Kameraarbeit von Shaji N. Karun, seines Zeichens langjähriger Gast und Verbundener des Festivals. Groschups IFFI-Mitstreiter und Freund Franz Frei verlas vor dem Screening des Films, den er gewählt hatte, einen langen elektronischen Brief von Shaji N. Karun, der u. a. von den schwierigen Drehbedingungen – eine Gefahr: Giftschlangen – berichtete. Der Film selbst: Durchweg umwerfend komponierte Aufnahmen, die versuchsweise als schillernder Wachtraum charakterisiert werden könnte. Während Kummatty in der wirklich gelungenen, von Shaji N. Karun selbst begleiteten 4K-Restaurierung (realisiert von Martin Scorseses The Film Foundation) zu sehen war, fanden gerade mit der „Erinnerung an Helmut Groschup“ auch (nur mehr) selten bzw. sehr selten projizierte Analogkopien wieder in den Vorführraum, etwa eine 35mm-Kopie von Eliseo Subielas No te mueras sin decirme adónde vas (1995), die zu beeindrucken wusste, oder eine Es herrscht Ruhe im Land von Peter Lilienthal. Die 16mm-Kopie dieser 1975 veröffentlichten, nüchtern-paranoiden Studie über Widerstand in einer Diktatur verfehlt ihre Wirkung nicht – sowohl weil als auch obwohl sie nicht mehr ewig lange wird gespielt werden können. Elegant trocken, eine schöne Entdeckung.
FÜR DAS BILDERMACHEN
IFFI #33 betonte sie eindringlich und kurzweilig: die vielfältigen materiellen Möglichkeiten des Mediums sowie die Erkenntnis, dass Bilder erzeugen und bewahren nichts weniger als ein Akt der Selbstbestimmung und -ermächtigung ist. Womit sich ein Gesamt-Fazit einer beeindruckenden Kino-Woche in jenen zwei Filmen realisiert findet, die die beiden Hauptpreise gewannen: Die Spielfilmjury sprach 78 Dana (78 Days) den Preis zu, Filmemacherin Emilija Gašić erzählt darin im Kontext des Sich-Versteckens vor den NATO-Bomben auf Serbien im Ende der neunziger Jahre eine Geschichte von Frauen, vor allem von drei jungen Schwestern. Hergestellt mit Magnetband-Camcorder, vollzieht sich wie in Videotagebucheinträgen deren Leben und Aufwachsen, mitten im Krieg und doch weit davon entfernt. Dass der Härte der Hintergründe auch noch derart berührende, menschliche Alltagskomik entgegengesetzt wird, tut sehr gut. Bezüglich Materialität lassen sich im Spielfilmwettbewerb überdies A Batalha da Rua Maria Antônia (The Battle) und Mantagheye bohrani (Critical Zone): Vera Egito macht in Ersterem von 16mm-Schwarzweißfilm Gebrauch, um in einem mitreißend choreografierten Countdown die fatale Eskalation eines Studierenden-Protests im Angesicht regimetreuer Widersacher zu schildern; Ali Ahmadzadeh nutzt die Hindernisse für filmische Arbeit in Teheran für ein enervierend-klaustrophobisches Porträt der urbanen Nacht, das verschiedene Zellen des Ungehorsams erahnen lässt. In gänzlich anderer Form mit der Situation im Iran befasst sich mit Sayyareye dozdide shodeye man (My Stolen Planet) ein großartiger filmischer Essay, in dem die Filmemacherin Farahnaz Sharifi ihr persönliches Bewegtbild- und Foto-Archiv zu einer Zustandsbeschreibung des repressiven Staates montiert. Der Film gewann den Dokumentarfilmpreis, Produzent Farzad Pak war zu Gast. In My Stolen Planet vereinen sich gefundene Aufnahmen, Handyvideos, filmische Versatzstücke und poetisch-analytische Sprachlichkeit zu einem Plädoyer für das Recht, Bilder zu machen, zu sammeln, weiterzugeben – und zugleich zu einer tief ins Mark treffenden Anklage all jener Kräfte, die diese kulturelle Praxis und Freiheit systematisch angreifen. Die Welt vor den eigenen Augen zu filmen, filmen zu dürfen, ist keine Selbstverständlichkeit. Filme wie diesen, überhaupt Filme wie jene, die beim IFFI zu entdecken sind, im Kino sehen zu können – tatsächlich auch hier: zu dürfen –, ebenso wenig. Das Bestreben des IFFI, Filmkunst, Unterhaltung und politischen Ernst zu verknüpfen, funktioniert, dieses Jahr auch erfreulicherweise belegt durch einen neuen Besuchszahlrekord von über 3000 gelösten Tickets. Wobei sich das Ausmaß, in dem sich die Anreise lohnt, natürlich keineswegs in blanken Zahlen erfassen lässt.