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Accattone (1961)
Accattone (1961)

Pier Paolo Pasolini

La tristezza e la bellezza – Traurigkeit und Schönheit

| Jörg Becker |

Zum 100. Geburtstag des Filmemachers, Lyrikers, Romanciers, Theatermachers, Essayisten, Pamphletisten und Zeichners Pier Paolo Pasolini. Extended Version.

Il mio calcio – mein Fußball
Es gibt Fotos, die den Autor und Filmemacher zeigen, wie er, in Anzug und Krawatte, mit heranwachsenden Jungen auf hartem, staubigem Erdboden den Ball führend Fußball spielt, im Hintergrund gleichförmige Blöcke hoher Mietshäuser, auf anderen Bilder sieht man den Intellektuellen im blauen Fußballtrikot, wie es die Squadra Azzura trägt, auf dem Platz, durchtrainiert und voll konzentriert während eines Spiels, ganz in Action. Der zeitlebens leidenschaftliche linke Außenstürmer äußerte sich 1970 über die „Sprache des Fußballs“ als „das letzte Mysterienspiel unserer Zeit. Auch wenn er Flucht ist, so ist er im Grunde Ritus …, der einzige große Ritus, der unserer Zeit geblieben ist“. Das Leben lasse sich durch Dichtung, aber „auch allein durch sich selbst“ ausdrücken, erklärte Pasolini auch. Aber erst durch den Schnitt erhielten die die Wirklichkeit darstellenden Bilder ihren Sinn. „Die Montage bearbeitet das Material des Films, wie der Tod das Leben bearbeitet.“ (Pasolini)

„An ihm war alles anders: die Herkunft, der Stoff, aus dem er gemacht war, seine Dichterwürde, sein Lebenshunger, die wilde Mischung aus Publizistik und Religiosität, die pure vitalistische Melancholie seiner Kunst, wie sie so nur in Italien denkbar ist.“ (Durs Grünbein, „Pasolini, der Gerechte“, „Frankfurter Rundschau“, 9. November 2006)

Tod in Ostia
Rückblickend erscheint alles im Zeichen des Endes: Auf dem Höhepunkt seines Schaffens wurde Pier Paolo Pasolini umgebracht – zusammengeschlagen, ermordet und vom eigenen Auto mehrfach überfahren, gefunden am 2. November 1975 auf einer Brache, einem staubigen Fußballplatz von Ostia. Wirklich zu Ende ist dieser Fall nie ermittelt worden. Ein Strichjunge wurde verurteilt, später tauchten Indizien für einen Auftragsmord aus politischen Gründen auf, und immer wieder kam die mögliche Täterschaft der Mafia ins Spiel. Es heißt auch, er habe sein Ende selbst inszeniert, als Auftragsmord, für den Allerseelentag, der auf einen Sonntag fiel. „Im Grunde“, so äußerte sein Kollege Michelangelo Antonioni nach Filmaufnahmen am Tatort, sei Pasolini „das Opfer seiner eigenen Roman- und Filmfiguren“ geworden. Die Premiere seines letzten Films Salò oder Die 120 Tage von Sodom (1975), eine von Roland Barthes‘ Lektüre des Marquis de Sade inspirierte, grauenerregende Faschismusparabel und ein sexualpolitischer Skandal, hat er nicht mehr erlebt. Das schreckliche Ende unter nach wie vor ungeklärten Umständen überschattet weiterhin jede Lebensbetrachtung dieses Jahrhundertintellektuellen, der vom katholisch-konservativen Milieu der Democratia Cristiana und erst recht vom neofaschistischen Flügel angefeindet wurde. Eine mythische Struktur kreist um diesen Tod, in dem sich ein fundamental-dissidentes Leben zu vollenden schien. „Jeder Freiwillige, der einen bedeutungsvollen Tod ‚als Exhibitionist‘ sucht, muss es ganz klar darauf anlegen, in die Feuerlinie zu geraten.“ (Pasolini, „Empirismo heretico / Ketzererfahrungen“) Zeitlebens sei Pasolini auf der Suche nach einer Klasse gewesen, deren Vitalität sich gegen den Konformitätsdruck in der Moderne durchsetzen würde. (Bert Rebhandl, „taz“, 2. November 2005) Er selbst hatte sich als „eine Kraft der Vergangenheit“ gefühlt, dem Konzept einer artifiziellen Archaik folgend, das den Brückenschlag von der Mythologie in die Moderne unternimmt.

1950 begann Pasolinis Leben in Rom, der damals 27-jährige Lehrer und Lyriker, der seinen ersten Gedichtband in der Sprache seiner Mutter, dem bäuerlichen Dialekt von Friaul, geschrieben hatte, floh mit ihr aus der heimischen Landschaft in die Hauptstadt, nachdem er wegen Unsittlichkeit denunziert, mit Schimpf und Schande aus dem Schuldienst entlassen und aus der Kommunistischen Partei (PCI) ausgeschlossen worden war. Die Christdemokraten hätten ihn gewähren lassen, hätte er sich vom Marxismus losgesagt, was für Pasolini nicht in Frage kam. „Ich floh mit meiner Mutter, einem Koffer und ein wenig Schmuck, der sich als falsch herausstellte, im Zug, langsam wie ein Güterzug, durch die friaulische Ebene, unter ihrer dünnen und harten Schneeschicht. Wir fuhren nach Rom. Ich lebte diese Seite eines Romans, des einzigen in meinem Leben. Im Übrigen, was soll es, lebte ich lyrisch wie jeder Besessene.“ („Dichter der Asche“, 1967)

Borgate
Es kam zu einer „Neuerfindung“ der Stadt Rom, in der er zum streitbaren Filmemacher wurde, durch den Blick des Dichters – nicht nur auf die monumentalen Schönheiten, sondern auf die triste Peripherie, an der das eigentliche Leben stattfand. Pasolini war von den Borgate, den römischen Vorstädten, angezogen, in denen zu seiner Zeit die Landflüchtigen aus den verarmten Regionen des Südens unterkamen, in kargen Vierteln, improvisierten Unterkünften und Zeltstädten hausten. In solch wüsten Gegenden von Elend und Gewalt fand Pasolini eine Schönheit und Vitalität, die ihm nicht nur zur politischen, sondern auch zur künstlerischen Inspiration wurde – „die urbane Peripherie als Golgatha einer italienischen Passion“ (Wolfram Schütte). Zu dieser Welt der Randgruppen hatte er Kontakt gesucht als ein „Genosse ohne Auftrag“(Gert Mattenklott).

Die Filmarbeit begann für Pasolini mit dem Dialogschreiben für Regisseure wie Fellini und Bolognini. Den Straßenjungen von Rom, den Streunern und Gangs, setzte er mit dem Roman „Ragazzi di Vita“ (1955) ein literarisches Denkmal, jenen Jungen, zu denen er selbst, bekanntermaßen, intensiven Kontakt pflegte, es war zugleich die Vorlage seines Debütfilms Accattone (1961), für den er jeden Tag das Filmemachen neu erfinden musste.

Accattone / Das Subproletariat
Von seinem Debüt ging etwas Unverwechselbares aus, es war neu in seinem unbedingten Ausdruck, ganz im Sinne des in Frankreich propagierten „cinéma d’auteur“, das in jenen Jahren eine Zeitenwende der Filmkunst repräsentierte. Das Drehbuch selbst erscheint wie ein geschlossenes, für sich stehendes Werk, nur besitzt es im Vergleich mit der filmischen Umsetzung des Autors eine Menge komischer Anteile, wogegen der Film, allein schon im Ausdruck seines Hauptdarstellers Franco Citti, von einer ausweglosen, existenziellen Tragik erfüllt ist. Dem Film geht jene fidele, folkloristische Heiterkeit der Vorlage ab, auch jenes Interesse für Volksmythologie und Dialektforschung, das Pasolini als Schriftsteller immer verfolgt hatte; die schweren Schritte des Protagonisten durch die elenden Borgate Roms, begleitet von derben Späßen seiner Kumpane, sprechen eine andere Sprache. Der Tod als Erlösung bewegt immer wieder Dialog oder Selbstgespräch der Personen („Ich möchte sterben, wie macht man das?“) in einer Handlung, deren noch neorealistische Prägung unverkennbar ist: wenn Accattone mit seiner Clique durch die Vorstadt streunt, herumhängt, sich balgt, immer auf der Suche nach Gelegenheiten, Geld aufzutreiben oder zumindest eine warme Mahlzeit, und sei es auch mittels Lügen und Verrat an den Freunden, gar durch Diebstahl in der eigenen Familie, bis dahin, dass er die Frau, die ihn liebt, auf den Strich schickt, ist die Menschlichkeit auf der Schwundstufe angelangt.

Als Accattone auf der Flucht vor Verfolgung nach einem Diebstahl auf der Straße verunglückt und am Bordstein, unter den Augen von Passanten, sein Leben aushaucht – „Jetzt geht’s mir besser“ –, erscheint dieser Tod schließlich wie die Erlösung eines Sünders, ein Ende, auf das die Titelfigur von Beginn an zusteuert. Ein Teil des Publikums in Italien soll hysterisch gelacht haben, als in Accattone die Tragödie einer Prostituierten und ihres Zuhälters durch die Musik der Matthäuspassion eine tief religiöse Dimension unterlegt bekam.

Pasolini situiert die Handlung seiner ersten Filme im Subproletariat, einer Schicht unterhalb des Industrie- und Stadtproletariats vor allem des Nordens. Dazu gehören vor allem die ihrer traditionellen Lebenszusammenhänge auf dem Land entwurzelten Menschen, die in den Städten keine Arbeit gefunden haben und in Slums am Rand der Städte leben „ohne jedes bürgerliche oder moralische Bewusstsein, einfach wie Wilde: Kinder des Elends und der wirtschaftlichen Depression.“ (Pasolini) Im „sotto-proletario“ sei das gesellschaftliche Ungleichzeitige kapitalistisch wildwüchsiger Veränderungen zu einem Dauerzustand versteinert.

Neu und charakteristisch für sein Werk ist die Radikalität, mit der Pasolini auf der Identität von Darsteller und Rolle beharrte. „Wer den Ausgestoßenen ihre Welt zurückgeben will, kann sie im Kino nicht durch Akteure ersetzen, die so tun als ob.“ Pasolinis dramatische Charaktere sprechen für sich, statt als bloße Repräsentanten zu fungieren, ihre Sprache und Gesten sind nicht imitierbar, als Figuren ihres Autors sind diese Charaktere zugleich Autoren ihrer Rollen.

Mamma Roma
Eine nicht mehr junge Prostituierte ist von ihrem Zuhälter, der geheiratet hat, freigegeben worden und versucht, sich eine neue Existenz als Gemüsefrau auf dem Markt aufzubauen – Mamma Roma (1962). Sie holt ihren halbwüchsigen Sohn Ettore, der bisher auf dem Land gelebt hatte und von ihrer Vergangenheit nichts wissen und einmal etwas Besseres werden sollte, zu sich und träumt vom kleinbürgerlichen Glück, bis sich ihr Ex-Zuhälter wieder meldet und sie erpresst. Doch nicht die „arme Hure“ ist es jetzt, die klagt, sie hatte sich nie als Opfer, vielmehr selbstverantwortlich gesehen – es ist der Zuhälter, der ihr die Schuld zuschreibt für sein miserables Leben („Wer hat mich denn zum Zuhälter gemacht?“). Der Sohn, derweil zum Anführer einer Straßengang avanciert, wird bei einem Diebstahl gefasst und stirbt hinter Gefängnismauern; Mamma Roma hört seinen Todesschrei an ihrem Gemüsestand.

In den Auslandskopien wurde viel vom Dialog gekappt, in Italien die Obszönität der Rede angezeigt, in Rom kam es nach Vorstellungen zu Ausschreitungen im neofaschistischen Umfeld. Thematisch und in Sachen politischer Moral zeigt sich Mamma Roma noch dem Neorealismus nah, ästhetisch überwand Pasolini diese Richtung, indem er das Leben in den Vorstädten in Fahrten und Tableaus im Stil alter Meister aufnahm: den jungen Ettore in der Haftanstalt zeigt Pasolini wie den „toten Christus“ des Renaissancemalers Andrea Mantegna, aus schräger Untersicht, ein sterbender Körper als Ikone. Wie bei Accattone setzte Pasolini auch hier Laien ein, mit Ausnahme von Anna Magnani, der seit Roma, città aperta (1945, Rossellini) populären Verkörperung der Frau aus dem Volke, der Römerin schlechthin.

„La tristezza e la bellezza“
Pasolinis Erstling ist eine Passionsgeschichte, mit der neben vielen Darstellern von der Straße der junge Laiendarsteller Franco Citti in der Rolle des gleichnamigen Zuhälters Accattone [dt.: Schmarotzer, Bettler] für immer verbunden ist. Sein ebenso zarter, sensibler wie trotzig gewalttätiger Ausdruck, wie aus weiter Ferne, könnte einem vorbürgerlichen Zeitalter entstammen. Rom sei verkleinbürgerlicht, erklärte 2013 Bernardo Bertolucci, der Pasolini als Schüler kennengelernt hatte und als 21-Jähriger ein Drehbuch, das jener ihm überließ, verfilmte (La Commare Secca / Die dürre Gevatterin, 1962). „Die Gestalten, die er so sehr liebte, gibt es heute nicht mehr.“ Noch die Gesichter der Jünger in seiner Verfilmung des Matthäus-Evangeliums, Il Vangelo secondo Matteo (1964) scheinen von einer untergegangenen Welt zu zeugen, es sind Physiognomien, durch deren Anblick man sich in die Antike versetzt fühlen könnte („Ich will ein reines Werk der Poesie schaffen“, so Pasolini 1963 an seinen Produzenten Alfredo Bini; sein filmischer Geschmack rühre von seiner Leidenschaft für die Malerei der Frührenaissance, Fresken von Masaccio, Giotto hätten ihm die Vorstellungen des sichtbaren Bildfelds eingegeben), ebenso wie angesichts von Maria Callas, die er für seinen Medea-Film (1969) als Titelfigur gewann.

Auch die Schönheit von Marylin Monroe, ausgebeutet von der Bilderindustrie der Gegenwart, schien dem Dichter hervorgegangen aus der Antike. Das in sein grandioses, durchweg aus Wochenschau-Aufnahmen montiertes Filmpoem La Rabbia (1963) eingegangene Gedicht um „La tristezza e la bellezza“ spricht davon: „Von der alten Welt / und von der zukünftigen Welt / war nur die Schönheit geblieben, / und du, armes kleines Schwesterchen, / das hinter den großen Brüdern herläuft / und lacht und weint mit ihnen, / um sie zu imitieren, / du, kleines Schwesterchen, / hattest diese Schönheit angenommen in Demut. / Und deine Seele einer Tochter kleiner Leute / hat von ihr nie etwas gewusst, / denn sonst wäre es nicht Schönheit gewesen. / Die Welt hat es dir beigebracht – so ist deine Schönheit die ihre geworden. / (…)“ – La Rabbia: der Zorn – „eine kinematographische Theorie des Bösen“ (Thomas Medicus, „Filmkritik“ 331/332, 1984); Pasolini spielt theologische Perspektiven und heilsgeschichtliche Topoi durch angesichts von Bildern der Gegenwart, durch welche die Omnipräsenz des Mythischen hindurchscheint. Und die Erlösung? „Wenn die klassische Welt erschöpft sein wird, wenn alle Bauern und Handwerker tot sein werden, wenn die Industrie den Produktionszyklus unaufhaltsam gemacht haben wird, wird unsere Geschichte zu Ende sein“, heißt es in La Rabbia auch. „Ein Rückgewinn der Ursprünglichkeit“, diagnostizierte 1994 der Pasolini-Kenner Peter Kammerer, sei für den Autor aus der Zuspitzung der Widersprüche zwischen einem „totalen Sieg der Marktwirtschaft“ und einer „neuen Revolution, die von den Rändern der Zivilisation ausgeht“, zu erwarten gewesen, möglicherweise auch in Gestalt einer neuen, barbarischen Vorgeschichte.

Für die Söhne von armen Leuten
Mit dem Auto bereiste Pasolini die italienischen Regionen, um für eine Zeitschrift das Urlaubsverhalten seiner Landsleute zu erkunden. Für seinen Dokumentarfilm Comizi d’amore (Gastmahl der Liebe, 1963) interviewte er die Italiener zu Themen moderner Sexualität – Jugendliche am Strand, Besucher eines Tanzlokals, Fabrikarbeiterinnen und Soldaten in einer Kaserne. Michel Foucault verfasste eine Lobeshymne darüber.

Im Consumismo, der die regionalen bäuerlichen Traditionen vernichtet, indem er in ihrer Einfachheit anmutige Menschen durch fatale Versprechungen der Warenwelt von Aufstieg und Besitz kulturell verelendet, ihnen ihre eigene Sprache nimmt und sie in ihrem authentischen Ausdruck degeneriert, diagnostizierte Pasolini den Fluch der Gegenwart. Die Neigung zu den einfachsten Leuten, zu den armen Randständigen, die sich mit keiner Partei, keiner Interessenvertretung identifizieren konnten, welche sie über eine reformistische Ideologie von Aufstieg, Fleiß und Ambition ins herrschende System zu integrieren trachtete, machte den Intellektuellen Pasolini für die Genossen aller Fraktionen unbequem, die sich auf eine technokratisch-konsumistische Idee von Fortschritt geeinigt hatten. Ein im Wochenmagazin „L’Espresso“ erschienenes polemisches Gedicht über die rebellischen Studenten, die sich 1968 Straßenschlachten mit Polizisten lieferten, hatte heftige Debatten zur Folge. Pasolini brandmarkte die künftige akademische Elite von morgen als „Vatersöhnchen“, die sich über vom Staat erbärmlich entlohnte Kinder aus armen Familien hermachten und noch stolz darauf seien: „Die Journalisten aus aller Welt lecken euch den Arsch. Ich nicht, Freunde. Ihr habt Gesichter von Vatersöhnchen. Die rechte Art schlägt immer durch. Ihr habt denselben bösen Blick. Ihr seid furchtsam, unsicher, verzweifelt, aber ihr wisst auch, wie man arrogant, erpresserisch und sicher ist: kleinbürgerliche Vorrechte, Freunde. Als ihr euch gestern in der Valle Giulia geprügelt habt mit den Polizisten, hielt ich es mit den Polizisten. Weil sie Söhne von armen Leuten sind.“

Körper und Schauplätze – filmische Ausdrücke bei Pasolini
Pasolini ist einer der ersten Regisseure, deren Filme systematisch in Photogrammen nach Motiven angeordnet und damit für die Filmbild-Forschung erschlossen worden sind: „Die Straße / Auf der Straße stehen“, „Die Straße / Die Straße und die Wahl“ (dazu: Bilder von Ödipus, der am Scheideweg das Gesicht hinter den Händen verbirgt; Wegweiser nach Istanbul und Kuba in Große Vögel, kleine Vögel); Die Straße / Gehen und Sprechen“ (Accattone im Gespräch mit seiner Ehefrau und, auf dem gleichen Weg, mit Stella, einer Frau, die ihn liebt). Die Rubriken sind so zahlreich und ausdifferenziert, dass man sich vorstellen könnte, sie enthielten jede denkbare Pasolini-Einstellung. Über-Systematisierung führt zu Begriffen, die das Besondere treffen, etwa: „Das Sterben auf der Straße“, oder „Die Gegenstände, Exkremente, Spucken“. Die Bilderfolgen machen deutlich, wie oft Pasolinis Bewegungsfolgen zu einem feststehenden Bild gerinnen, oder aus der Bewegung die Vorstellung von einem solchen zugrundeliegenden Bild erzeugen, wie sehr sie etwa Vorbilder in der Malerei besitzen. Man begegnet offensichtlichen Obsessionen des Autors, zum Beispiel: Zum-Munde-Führen, In-den-Mund-Stecken, das Kauen von Blumen. Man lernt Pasolinis Bildtypik kennen, angesichts der leeren („marginalen“) Räume, der großen Freiflächen vor Sozialbauten, Industrieanlagen oder Hütten, im Umfeld von Brachland. Es war Harun Farocki, den angesichts dieser Untersuchung von Filmmotiven Pasolinis die Möglichkeit eines Studiums von Filmen ohne viel Schrift interessierte, der Versuch, „mit Bildern Bilder aufzuschließen“ (Farocki, „Wie soll man das nennen, was ich vermisse?“ in: „Suchbilder“ [2003] bezieht sich auf die Veröffentlichung von Michele Mancini / Guiseppe Perrella: „Pier Paolo Pasolini. Corpi e luoghi“ [Körper und Schauplätze], Rom 1981)

Plebejer und Intellektuelle, Hunger und gute Ratschläge
„Wohin die Menschheit geht? Wer weiß das!“ Eingangs von Pasolinis Uccellacci e Uccellini (Große Vögel, kleine Vögel, 1965/66) begegnet man diesem Mao-Zitat. Dann sieht man Vater (Totò) und Sohn (Ninetto Davoli) – der berühmte Komiker Totò repräsentiert das alte, volkstümliche Neapel, Ninetto indessen, vielfacher Filmdarsteller und Freund Pasolinis, die „ragazzi di vita“, die aus dem bäuerlichen Süden zugewanderten, vitalen Vorstadt-Jungen von Rom – auf einer Landstraße, wo sie einen sprechenden Raben treffen, der sie in der Folge begleitet. Er komme aus „dem Land Ideologie; ich lebe in der Hauptstadt, Karl-Marx-Straße“, die alte und die junge Menschheit „aus dem Dorf der Not (..), aus der Straße des Hungers, am Fuße des Berges Dummheit, in der ganzen Welt bekannt durch das Martyrium der Heiligen Analphabeta“. Diese wandernde Menschheit wird der Vogel den Film hindurch unentwegt redend zu belehren suchen, bis sie ihn schließlich, aus Hunger und weil er sie zunehmend nervt, verspeist.

Vom ewigen Hunger des Volkes und den guten Ratschläge der Intelligenz, ihn zu überwinden, handeln die märchenhaften Episoden des Film, in denen jede ihrer Belehrungen nach hinten losgeht, jede Mission scheitert und sich durchweg beweist, dass der Rabe die Sprache der nur an den Bauch denkenden Plebejer nicht gefunden hat, mithin an deren Erlösung aus historischem Bewusstsein nicht zu denken ist. Das Problem der 68er-Bewegung mit dem traditionellen Partei-Engagement sowie der politischen Rolle der Intellektuellen wird hier von Pasolini auf eine universelle Ebene gehoben. „Die Lehrmeister sind dazu da, in scharfer Soße gegessen zu werden“ zitiert er auf einer Schrifttafel Giorgio Pasquali. Die Epoche, welche die Kunst des Neorealismus und des sozialen Engagements hervorbrachte, wird für beendet erklärt, dem Begräbnis des Generalsekretärs der Kommunistischen Partei Italiens (PCI), Palmiro Togliatti, einer ergreifenden Abschiedsfeier, die im Film als Dokument enthalten ist, folgen Totò und Ninetto voller Neugier, doch ohne jedes Verständnis.

Die Wüste, das Wunder
Pasolini galt als Erforscher und Mythologe einer plebejisch-subproletarischen Welt, als er 1968 die Bourgeoisie ins Zentrum seines Films Teorema rückte, in einer Phase, in der man in Italien das Establishment insgesamt infrage stellte, und damit einen scheinbar unzeitgemäßes Werk präsentierte. Teorema (Teorema – Geometrie der Liebe) provozierte Linke wie Rechte, Katholiken wie Marxisten, indem der Film eine Kritik an den Besitzenden im Namen des Heiligen vortrug. Im Jahr der Revolte sorgte Pasolini auf dem Festival in Venedig außerdem dadurch für einen Eklat, dass er die Vorführung platzen ließ und sie in eine Protestveranstaltung gegen das kommerzielle „Produzentenkino“ umfunktionierte.

Das Heilige dringt in eine bourgeoise, materialistische Welt – in Gestalt eines schönen, schweigsamen jungen Mannes (Terence Stamp), ein geheimnisvoll angekündigter Besucher in einer Mailänder Industriellenfamilie. Er weckt bei allen Hausbewohnern bisher verdrängte Wünsche, die sich zunächst als sexuelles Begehren ausdrücken. Nach der ersehnten Vereinigung mit allen verschwindet der Unbekannte, und nichts ist mehr wie zuvor. Jede Person des Haushalts ist aus der Bahn geworfen, versucht in einem Bedürfnis nach dem Authentischen sein Leben zu ändern und scheitert, bis hin zu dem Vater (Massimo Girotti), der seine Fabrik an die Arbeiter verschenkt und nackt und schreiend in die Wüste läuft, die hier als utopischer Ort immer wieder eingeschnitten wird und im Roman mit Gedichten bedacht. Einzig die Flucht des Hausmädchens (Laura Betti), zurück in ihre emilianische Heimat, nimmt ein positives Ende, dort wird sie nach einer Levitation als Heilige verehrt, die Wunder bewirkt hatte. Die Bourgeoisie dagegen kann auf die Begegnung mit dem Heiligen nur in Verstörung fallen, einzig der noch nicht bürgerlich korrumpierte Mensch scheint eine Chance auf Rettung zu haben. „Die Zivilisationsstufen, die der unseren vorausgegangen sind, sind nicht verschwunden. Sie überlagern einander nur. So liegt die bäuerliche Kultur begraben unter der Arbeiterwelt, unter der industriellen Kultur. Vielleicht ist das der einzige optimistische Moment des Films.“ (Pasolini, 1970)

Die drei Höllenkreise
Salò o Le 120 Giornate di Sodoma (Salò oder Die 120 Tage von Sodom, 1975) Wer einen solchen Film macht, wie wolle und könne der weiterleben? Die absolute Negativität dieses Werkes, dessen Uraufführung Pasolini nicht mehr erlebte, hat die Spekulationen über seine nie restlos aufgeklärten Mordumstände angeheizt. Ursprünglich war das Vorhaben, Marquis de Sades Werk „Die 120 Tage von Sodom“ zu verfilmen, der Haupttitel „Salò“ hat die Endphase des faschistischen Regimes in Italien hinzugefügt, als Mussolini von Salò aus einen Reststaat regierte. Die Struktur des Films folgt, von Dantes „Inferno“ inspiriert, den drei Höllenkreisen: der Leidenschaft, der Scheiße, des Blutes. Im Prolog („Vor dem Inferno“) veranstalten vier faschistische Repräsentanten – Bischof, Herzog, Richter, Bankier – die weltlichen und geistigen Machthaber – eine Selektion von Mädchen und Jungen aus dem bäuerlichen Umland einer Villa als lebendigen Fundus für ihre perversen Praktiken menschlicher Erniedrigung bis hin zum Mord, wobei der Ritus dominiert: Koprophagie, psychische und physische Folter, blutige Gemetzel werden nach genauen Regeln wie Tischsitten zelebriert, ein Genuss der Triebtäter am Sadistischen vermittelt sich an keiner Stelle, vielmehr der Ekel gegenüber dieser Beherrschung und Konsumtion von lebendigen Körpern in extremer Unterwerfung unter perverse Gewaltakte.

Man hat in Salò die Bildadaption seiner Kulturkritik an einem gleichmachenden Konsumismus gesehen, der zur Auslöschung alles Lebendigen führe und mit den Köpfen auch die Körper seiner „universellen Irrealität“ anpasse. Ein Neokapitalismus durchdringe die Milieus und individuellen Lebensäußerungen, damit wäre auch die Feier des Lebens und die Lust an der historischen Welt ohne Sinn. Quellen authentischen Lebens hatte Pasolini in den Borgate von Rom, in der Armut Neapels, in arabischen Städten, Indien und Afrika entdeckt; in seinen vorangegangenen Filmen war Sexualität Lebensmetapher; in Salò dagegen ist sie tödlich, die Erscheinungsweise einer Degeneration, die Leben vernichtet. Pasolinis Motive scheinen hier umgedeutet, theatralisch steif werden im fahlen Licht geschlossener Innenräume Exerzitien des Grauens gemäß einem erregungsgesteuerten Terror vollzogen; an Stellen zwingt die Kamera dem Zuschauer die indifferente Betrachtung auf, mit der sich ein entfernter Folterer durch ein umgekehrtes Fernrohr das Geschehen auf Abstand hält. Der intendierte Schock, die Zumutung jenseits der Ekelschwelle provozierte neben physiologischen Abwehrreaktionen auch eine Ablehnung, die bis zum staatsanwaltlichen Eingreifen reichte.

Radikalisierung des Kinos – Apostel Paulus, posthum
Pasolini stand – allein, denn mit Fellini, Visconti, De Sica erst recht, war nicht mehr zu rechnen, einzig Rossellinis pädagogische Enzyklopädie versprach Neuerung – für eine Radikalisierung des Kinos, das „seinem Wesen nach poetisch ist, weil eine Art der Dichtung, die prähistorisch, amorph, unnatürlich ist“. So begründet sich wohl seine Vorliebe für die Verfilmung universaler Stoffe – des Mythos von Ödipus in Edipo Re (1967) und des Mutterdramas von „Medea“ (1969), der Geschichte des Jesus von Nazareth (Il Vangelo Secondo Mattheo, 1964), der „Canterbury Tales“ (I Raconti di Canterbury / Pasolinis tolldreiste Geschichten, 1971), „Geschichten aus Tausendundeiner Nacht“ (Il Fiore delle Mille e una Notte / Erotische Geschichten aus 1001 Nacht, 1973) und des „Decamerone“ (Il Decameron, 1970) nach Boccaccio in seiner „Trilogie des Lebens“. Ein nie realisierter Film über den heiligen Paulus, das schlichte Vorhaben, dessen „Lebensgeschichte … auf heutige Zeiten zu übertragen“, basiert auch auf dem Gedanken, dass der Widerstand gegen die „kapitalistische Zivilisation“ religiös begründet sein wolle: „Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und Gottes Geist in euch wohnt?“ Das Film-Skript liegt in Buchform vor. „Posthum aber“, so Durs Grünbein, „sehen wir diesen Film, mit jedem Tag dieser gewalttätigen Gegenwart, außerhalb des Kinos.“ (FR, 9.11.2006)

 


Neue und wieder erscheinende Bücher im Berliner Wagenbach-Verlag

„Pier Paolo Pasolini in persona. Gespräche und Selbstzeugnisse“ – Die Auswahl von Gesprächen und kaum bekannten autobiografischen Texten zeichnet ein vielfältiges Porträt Pasolinis als kämpferischer Medienintellektueller, der Interviews jedoch nur widerwillig gegeben haben soll; dennoch gelang es Gaetano Biccari, eine beträchtliche Anzahl solcher Zeugnisse zu versammeln, aus Zeitungen, Magazinen, Monografien und dem Fernsehen, bis zum letzten Interview wenige Stunden vor seinem Tod.

Es geht Pasolini vor allem um den alten und neuen Faschismus, um seine Probleme mit den 68ern, die antidemokratischen Massenmedien, Sex als Metapher („Die Sexualität ist heute die Befriedigung einer gesellschaftlichen Pflicht, nicht eine Lust gegen die gesellschaftliche Pflicht.“ 1975). Er erprobt Thesen, argumentiert vehement gegen Kritik, zeigt sich als linker Ketzer und angefeindeter wie wehrhafter Polemiker.

Teorema oder Die nackten Füße“ – Eine Mailänder Industriellenfamilie erhält Besuch vom Messias. „Komme morgen an“ verheißt ein Telegramm, mehr nicht. Die Begegnung mit einem Verführer, sexuell wie spirituell, die Intimität mit dem heiligen Geist, lässt die bürgerlichen Verhältnisse kollabieren, führt zu ungekannter Libertinage, einem Chaos libidinöser Bedürfnisse, aber auch zur Kollektivierung einer Fabrik und der Entdeckung einer Heiligen. Im Jahr der Uraufführung des Films Teorema, 1968, erschien auch die Romanfassung, die jetzt vom Verlag Klaus Wagenbach, Berlin, wieder zugänglich gemacht ist; ebenso Pasolinis Geschichten „Rom, Rom“ – ein anderer Baedeker der ewigen Stadt, dem Überlebenswillen und Dolce Vita seiner Bewohner, zwischen den kargen Landschaften am Stadtrand, im milden Abendlicht, der Armut der Borgate und dem Reichtum des urbanen Zentrums.