Filme auf langer Strecke zwischen Nachkriegszeit und Gegenwart: Der bedeutende deutsche Drehbuchautor und Schriftsteller Wolfgang Kohlhaase wird am 13. März 90 Jahre alt – dazu erscheinen Erzählungen und DVDs.
Zu den wichtigsten Filmen nach seinen Drehbüchern zählen Berlin – Ecke Schönhauser (1957), Der Fall Gleiwitz (1961), Berlin um die Ecke (1966/88), Ich war neunzehn (1968), Solo Sunny (1979), Die Grünsteinvariante (1984), Die Stille nach dem Schuss (2009), Sommer vorm Balkon (2005), und zuletzt Als wir träumten (2015) oder In Zeiten des abnehmenden Lichts (2017) – und zu den bedeutendsten Regisseuren, mit denen ihn eine dauerhafte freundschaftliche Kooperation verband und verbindet, gehören seit den fünfziger Jahren, in zeitlicher Folge, Gerhard Klein, Konrad Wolf, Frank Beyer und Andreas Dresen. An die siebzig Jahre als Drehbuchautor, teils auch als Regisseur tätig, hat er Nationalpreise, Verdienstorden, Banner der Arbeit und einen Ehrenbären als obligate Lebenswerk-Ehrung längst hinter sich, während seine Erzählstoffe eine lebendige Quelle visueller Darstellung bleiben, wie unlängst „Erfindung einer Sprache“ für den Film Persischstunden / Persian Lessons (2020, R: Vadim Perelman) unter Beweis gestellt hat.
Seit den fünfziger Jahren ist Wolfgang Kohlhaase mit Geschichten umgegangen, die teils die Zeit berühren, in denen er noch ein Kind gewesen ist, Nationalsozialismus, den Zweiten Weltkrieg, das Nachkriegs-Berlin in Trümmern. Meist zielten seine Stoffe ins Herz der Gegenwart – in Form von Geschichten, die stets gegenwärtig erzählt sind.
Wolfgang Kohlhaase gilt als einer der wichtigsten Drehbuchautoren der deutschen Filmgeschichte – sein schriftstellerisches Werk hingegen ist bislang kaum bekannt. Lebensklug und gelassen, voller Sprachwitz und genauer Beobachtungsgabe der Milieus, welche ihn für manche Cineasten und Regisseure in die Tradition von Erich Kästner oder Billie (Billy) Wilder rücken, dabei durchweg lakonisch, teils komisch, teils eher melancholisch, zumeist das eine im anderen, sind diese Erzählungen präzise und ehrlich: Ihren Anfang haben sie noch in der Kriegszeit und werfen dann Schlaglichter auf das Leben wie es war, danach, in der DDR. Deren Ende nach dem Mauerfall bedeutete nicht das Ende seines Schaffens. Im Gegenteil.
Persischstunden
Einige von Kohlhaases Kurzgeschichten oder Novellen sind Vorlagen für Filme geworden, zuletzt war Persischstunden in den Kinos. Seine Erzählung „Erfindung einer Sprache“, Schauplatz ist ein Konzentrationslager während der NS-Zeit, handelt von dem gefangenen holländischen Studenten Straat, der mit einem Mal behauptet, Persisch zu können, um sich im Lager eine Überlebenschance zu sichern. Nun soll er dem Kapo Battenbach, der nach Kriegsende nach Persien will, Sprachunterricht geben. Es bleibt ihm nur der Ausweg, eine Sprache zu erfinden. Buchstäblich alles steht auf dem Spiel, hängt von den richtigen Worten ab.
„Straats Sprache wird keinen anderen erreichen als Battenbach, sie wird keine Botschaft tragen, sie stellt nichts dar als sich selbst, sie rettet den einen, der sie ausdenkt, und einen zweiten, der sie mühsam lernt, einen krummen Hund, keinen Bluthund, macht sie sanfter. Sonst ist sie unnütz. Aber Straat braucht die Phantasie der großen Entdeckungen, den Mut der große Hypothesen, die Mühe der großen Versuche für seine Sprache. Und Battenbach, Küchenkapo, Zuhälter aus Hamburg, braucht die fleißige Einfalt, mit der er vor langem in einer Schulbank saß.“ (Wolfgang Kohlhaase, „Erfindung einer Sprache“. Berlin 2021; erschienen erstmals u. d. Titel „Silvester mit Balzac und andere Erzählungen“. Berlin/Weimar 1977)
Im Frühling 2004 bekommt der Regisseur Andreas Dresen einen Drehbuchentwurf von gerade mal 30 Seiten, mit dem die erste gemeinsame Arbeit des Regisseurs mit Wolfgang Kohlhaase beginnt, einem Autor, mit dessen Geschichten er in der DDR aufgewachsen war: „Da schreibt einer von den Schwierigkeiten, den richtigen Menschen zu finden, von Einsamkeit und Alter, von erster Liebe und erstem Schmerz, vom Absturz und vom Aufgefangen-Werden. Vom ganzen Leben in einem halben Berliner Sommer. Er schreibt es so, dass man lachen muss, obwohl es ziemlich traurig ist. Es ist nicht das große konstruierte Drama, es sind all die banalen, kleinen, traurigen, lustigen Geschichten, die Alltag bedeuten.“ (Andreas Dresen: „Liebe, Tod und Wetter“. Nachwort zu „Erfindung einer Sprache“; seine Hommage erschien erstmals in „Die Zeit“, 11.2.2010) Komplizierte Dinge mit einfachen Worten beschreibend, vermag der Autor es durchweg, die Verletzlichkeit seiner Personen hinter einer robusten Schale zu vermitteln, ihr Bestreben, sich unverwundbar zu machen, er respektiert damit ihr Selbstbild des Geheimnisvollen, das sie entwerfen, um geliebt zu werden – „Ronald, der Trucker, meint in Sommer vorm Balkon auf die Frage Nikes, was er denn in seinem großen Auto eigentlich transportiere: ,Meistens Teppiche. Aber das füllt mich nicht aus. Nicht beruflich und auch nicht menschlich.‘“
Schulterzuckende Direktheit und ganz heutige Figuren
„Große historische Brüche haben sein Leben geprägt. Das Ende der Nazizeit, der Bau und der Fall der Mauer. Dass er sich immer für Menschen interessiert hat und nicht für Ideologien, machte die Übergänge leichter und prägt auch diese Erzählungen. Historisch ist dabei nur die Zeit, in denen manche von ihnen spielen, das Umfeld. Die Figuren sind dabei in ihren Zweifeln, ihrer Not, aber auch ihren komischen Verwicklungen ganz heutig. Und immer wieder verblüfft es, wie einfach und einleuchtend selbst schwierige Gefühlslagen beschrieben werden.“ So Andreas Dresen, der nach Kohlhaases Drehbüchern Sommer vorm Balkon, 2005, Whiskey und Wodka, 2009, und Als wir träumten, 2015, drehte und hier ein paar Sätze des Autors einflicht in sein neigungsvolles, liebevolles Nachwort, Sätze des Autors, die ihn „in Versuchung“ gebracht hätten, „ständig mitzuschreiben“: „Ein Drehbuch schreiben ist das Notieren einer Geschichte zum Zwecke ihrer Verfilmung.“ Oder: „Dramaturgie ist ein System von Regeln gegen die permanente Bereitschaft eines Publikums, sich zu langweilen.“
„Gerade in der schulterzuckenden Direktheit tun sich häufig Abgründe auf. (…) In ihrer Lakonie trifft sie (die Sprache Kohlhaases) mitten ins Herz. Das hat damit zu tun, dass er die Menschen und seine Figuren mit den Augen der Liebe betrachtet.“ (Andreas Dresen)
„Start“, „Junge Welt“ und die DEFA
Der Sohn eines Maschinenschlossers wuchs in Berlin-Adlershof im Südosten der Hauptstadt auf, schrieb schon zu Schulzeiten und wurde bereits 1947, 16-jährig und Autodidakt, Volontär und Redakteur bei einer Jugendzeitschrift namens „Start“. Dass ein Exemplar des Blattes mit einem Artikel Kohlhaases das sowjetische Kriegsgefangenenlager erreichte, in dem sich sein Vater befand, soll diesem neben einem gesteigerten Ansehen bei der Gefängnisleitung auch leichtere Arbeit und Extra-Essensportionen verschafft haben, also lebensrettend gewesen sein. Kohlhaase junior wurde Mitarbeiter der FDJ (Freie Deutsche Jugend)-Zeitung „Junge Welt“ und arbeitete seit 1950 bereits als Dramaturgie-Assistent bei der DEFA in Potsdam-Babelsberg, seit 1952 freischaffend als Drehbuchautor und Schriftsteller.
Ein Kinderfilm der DEFA, Die Störenfriede (Regie: Wolfgang Schleif, vor 1945 u.a. Schnittmeister von propagandistischen Filmen Veit Harlans, ging nach diesem Film infolge des 17. Juni in den Westen) aus dem Frühjahr 1953 bildet das Drehbuchdebüt Kohlhaases, ein „pädagogisches Opus um zwei undisziplinierte Jungen einer siebenten Klasse, die von einer neuen Mitschülerin bei ihren Interessen gepackt und ins Kollektiv integriert werden“. (Ralf Schenk, 1992)
Neorealismus und Berliner Schauplätze
Mit Alarm im Zirkus (1954), einem Jugendkrimi, beginnt die Zusammenarbeit von Regisseur Gerhard Klein und Kohlhaase, eine Reihe von Berlin-Filmen eröffnend, die später als bedeutendes Zeugnis der fünfziger DEFA-Jahre gelten wird. Die Freundschaft währt 17 Jahre und endet mit Kleins Tod 1970: „Die Poesie seiner Filme, in denen selbst die leeren Straßen von denen reden, die in ihnen wohnen, gewann er aus seinem tiefen Respekt vor der Wirklichkeit. Er war überzeugt, dass ein Satz in der Küche anders gesagt wird als in der Stube. Er konnte zeigen, wie ein Hof riecht…“ (Kohlhaase in seinem Nachruf auf den Freund Gerhard Klein, „Neues Deutschland“ 1.6.1970)
Klein und Kohlhaase begegnen sich in ihrer Neigung zum Neorealismus. Sie suchen nach einer Geschichte, von der sie zunächst nur wissen, dass sie in Berlin spielen und die soziale Wirklichkeit als Sujet ernst nehmen soll. Sie finden eine Zeitungsnotiz über den missglückten Überfall einer westberliner Bande, die im April 1953 die Pferde aus dem Zirkus Barlay stehlen wollte, und benutzen dieses Motiv, vor allem aber erzählen sie die Geschichte von zwei berliner Jungen und ihrer Freundschaft. Kein halbes Jahr nach der Zeitungsnotiz, am 22. September 1953, ist das Drehbuch fertig: Alarm im Zirkus (1954).
Immer wieder wird Kohlhaase auf jene Motive zurückkommen: Freundschaft zwischen zwei Jungen und einem Mädchen zwischen ihnen, Kino, Kneipen, Rummel, Zirkus, Boxkämpfe, Konflikte mit der Polizei, Ostberlin, Westberlin – bis zum letzten Film vor dem Mauerfall: Der Bruch (1988, Frank Beyer). Im August 1955 liegt das Drehbuch zu Eine Berliner Romanze (1956) vor, ein „normaler“ Film, der sich vom bis dahin vorherrschen sowjetischen Monumentalismus entfernt und von Romeo und Julia handelt, die im geteilten Berlin, zwischen Ost und West, einander begegnen und verlieren, bis sie schließlich im östlichen Teil aufgenommen werden.
Unangepasste Helden und konstruktive Kritik
Berlin – Ecke Schönhauser (1957) mit dem Brecht-Schwiegersohn Ekkehard Schall (1952 von Bertolt Brecht ans Berliner Ensemble geholt) als rebellischer Hauptfigur von aufrechtem Charakter, eine Rock’n‘Roll-proletarische Variante James Deans, die in dieser Geschichte einer sozialen, moralischen Orientierung sich behauptet und durch ein Unglück aufgrund krimineller Verführungen des Westens reift, ohne dem sozialistischen Propagandabild angepasst zu sein, dieser Film wurde vom SED-Zentralkomitee missbilligt wegen zu negativer Sichtweise und zu großer Konzessionen an den Neorealismus. Dass dieses Werk um eine Gruppe von „Halbstarken“ vom Prenzlauer Berg (zu denken an Georg Tresslers gleichnamigen Film aus demselben Jahr in West-Berlin), die sich unter der Hochbahnstation Eberswalder Straße trifft, mitunter Unfug veranstaltet und die VoPo auf den Plan ruft, einmal zum Kanon des Kinos der frühen DDR gehören würde, hätte seinerzeit wohl keiner der Beteiligten für möglich gehalten.
Der Kommissar der Volkspolizei, gespielt von Raimund Schelcher, oft Vorzeige-Proletarier in Filmen der frühen 50er-Jahre-DEFA (siehe die beiden „Thälmann“-Monumentalfilme, Schlösser und Katen zur Kollektivierung auf dem Land oder Das Lied der Matrosen zu den Ansätzen einer Revolution 1918 u.a.), erscheint hier als verständnisvoller Ordnungshüter wie ein Sozialarbeiter mit großer Menschenkenntnis, der Anständigkeit sogleich erkennt, und dessen Erfahrung von der immergleichen Verführbarkeit durch das Falsche aus seinen etwas müden, gleichmütigen Zügen spricht.
Charme hat der wiedererkennbare authentische Drehort im Stadtteil, ähnlich wie man es in Andreas Dresens Sommer vorm Balkon (2005) mit Blick auf den Prenzlauer Berg-Kiez wahrnehmen kann.
Der Fall Gleiwitz (1961) handelt von der SS-Inszenierung des Überfalls auf den schlesischen Rundfunksender Gleiwitz am 31. August 1939, der Hitler als Vorwand für den Angriff auf Polen, den Beginn des zweiten Weltkriegs diente. Für das Projekt des Films, für den sich Regisseur Gerhard Klein einer experimentellen, avancierten geometrischen Bildsprache bediente, in welcher die Propagandaprinzipien des Nationalsozialismus umso deutlicher hervortreten, entwarfen Kohlhaase und sein Ko-Autor Günther Rücker 1960 ein formal stilisiertes Szenario, das bis in die letzte Kameraposition vorbedacht war. Auf der Basis von Dokumenten und dem Besuch von Originalszenerien in Polen zeigt der Text ein Bemühen um Rekonstruktion, wie es für die DEFA-Geschichte neu war. Wenige Tage nach dem Mauerbau uraufgeführt, hielt sich das Interesse an dem Film allerdings in Grenzen.
„Dass alles nicht noch einmal verloren gehen könnte?“ – Berlin um die Ecke
1965 wurde das in der Nachfolge von Berlin – Ecke Schönhauser stehende Filmprojekt Berlin um die Ecke durch Intervention der Partei nach Beschlüssen des XI. Plenums des Zentralkomitees der SED vorzeitig beendet und verboten. Eine zu kritische Haltung im Generationenkonflikt, Pessimismus und Subjektivismus wurde dem Film vorgeworfen, der erst 1987 fertiggestellt werden konnte und zu den besten jener auf Authentizität setzenden, kritisch-konstruktiven Sechziger-Jahre-Alltagsporträts gehört, die von den Lebensumständen im real existierenden Sozialismus handeln, in dem es trotz allem Klassenbewusstsein auch eine Form von Generationenkonflikt auf der Ebene der Produktion gab. Gedreht wurde in einem Ost-Berliner Betrieb in Oberschöneweide, wo einst Kohlhaase senior als Reparaturschlosser tätig gewesen war.
Innerhalb allen Alltagsgeschehens gelingt es den Hauptpersonen in Kohlhaases Drehbuchstoffen, das eigene Leben in die Hand zu nehmen, die eigenen Lebensentwürfe und Ansprüche nicht aufzugeben, ihre Wünschen zu verteidigen, ihr Glück zu finden und zu gestalten – solche Erzählungen von Selbstbestimmung, politisch auch im Privaten, erscheinen für Kohlhaase charakteristisch. Mit offener Direktheit, aufrichtig und beharrlich gegen Widerstände und scheinbare Aussichtslosigkeit angehend, gewinnt der junge Mann aus der Jugendbrigade einer Metallfabrik (Dieter Mann) eine Sängerin (Monika Gabriel) für sich, die in Scheidung lebt und tagsüber in einer Großküche arbeitet. Im Arbeitsalltag des Jungen erlebt man den älteren, gewissenhaften Vorarbeiter (Erwin Geschonneck), dem die Mängel und Schwächen im Produktionsablauf an die Gesundheit gehen. „Der alte Arbeiter Paul… sieht die Fabrik so an, als wäre sie seine, er nimmt Volkseigentum wörtlich.“ (Regine Sylvester, 1988) Daneben gibt es die Vertreter der Nachwuchsbrigade, die gegen schlechtere Bezahlung protestieren – sie bringen Arbeitskonflikte zum Ausdruck, die gesellschaftliche Widersprüche abbilden. In gewalttätigen Übergriffen wird eine wachsende Kluft der Lebenseinstellungen zwischen der Nachkriegsgeneration und der Gründergeneration des Sozialismus in der DDR deutlich, der die Jugend nicht immer zu Dankbarkeit verpflichtet sein wollte. „Denkst du nicht, dass das alles nicht noch einmal verloren gehen könnte?“ gibt ein Betriebssekretär einem jüngeren Parteifunktionär zu bedenken, der nach einem langen Moment, den dieser Satz nachhallen kann, mit zuversichtlichem Lächeln erwidert: „Das denk‘ ich nie!“ – und den Altkommunisten in tiefer Nachdenklichkeit zurücklässt.
„Authentizität“
Es scheint bezeichnend, dass der vielleicht bedeutendste 68er-Film der DEFA noch einmal das im Film der DDR vertraute Narrativ des Antifaschismus über die Befreiung durch die Rote Armee naherückt, allerdings auf neue Weise, als autobiografisches Sujet, der Heimkehr eines emigrierten Deutschen als Rotarmist 1945: Ich war neunzehn (1968) erzählt, wie Konrad Wolf, als Kind mit den Eltern vor den Nazis in die Sowjetunion emigriert, 19-jährig als Leutnant der Roten Armee aus Moskau zurückkommt in das Land, das ihn vertrieben hatte. Mit Wolfgang Kohlhaase, der ihm geholfen habe, „unerwünschte subjektive Färbung zu verhindern“, beschreibt Wolf in episodenhaft-tagebuchartig gefügten Szenen die Erlebnisse seines Filmprotagonisten (Jaecki Schwarz) als Kommandant von Bernau, also unmittelbare Nachkriegswirklichkeit, in der ihm Misstrauen und Opportunismus, Lethargie, Hass und Freude entgegenschlagen. Ambivalent sind auch die Gefühle der Befreier. Das Wort „Authentizität“ habe sich der Kameramann, Werner Bergmann, von Kohlhaase auf einen Zettel schreiben lassen, den er ins Drehbuch geklebt habe wie ein Motto. Der Film über einen neunzehnjährigen deutschen Rotarmisten sei, so der Schriftsteller Stephan Hermlin, „unter allen Kriegsfilmen der am meisten beredte und verschwiegendste“.
Die Grünstein-Variante und andere Hörspiele
Seit Ende der sechziger Jahre verlegte sich Kohlhaase eher auf schriftstellerische Arbeit, verfasste zahlreiche Hörspiele, die in den Folgejahren zu Kernkonzepten von Spielfilmen wurden – etwa „Fisch zu viert“ (TV 1970), „Fragen an ein Foto“ (verfilmt von Konrad Wolf unter dem Titel Mama, ich lebe, 1976) oder Die „Grünstein-Variante“ (1977, „Hörspiel in Erinnerung an Geschichten, die Ludwig Turek erzählt hat“; 1984 in den DEFA-Studios inszeniert von Bernhard Wicki; die Erstsendung von 1977, Radio DDR I, ist seit 2002 als Hörbuch erhältlich).
In der dreckigen Zelle eines Untersuchungsgefängnisses sitzen 1939, kurz vor Kriegsbeginn, drei Männer in Abschiebehaft. Die drei Männer unterschiedlichster Herkunft und Temperaments fangen eines Tages an, sich zu verständigen. Einer von ihnen, der Seemann Lodek, schlägt seinen Mithäftlingen vor, ihnen das Schachspielen beizubringen, und Grünstein, ein polnisch-jüdischer Metzger, setzt schon im 19. Spiel seinen Lehrmeister schachmatt. Die Schachfiguren, mühsam aus der Brotration geformt, werden konfisziert, und der Gefängnisdirektor schlägt Lodek eine Partie vor, die dieser mit Absicht verliert – und damit seine Freiheit gewinnt und den Krieg überlebt. Vergessen hat er nur die Grünstein-Variante, die wie ihr Erfinder, der Jude Grünstein, verschollen bleibt.
Das Hörspiel „Die Grünstein-Variante“ (1976) wird in über 20 Ländern gesendet. „Drei Männer sitzen im Pariser Knast, alles Nichtfranzosen, mit der eigenen kleinen Geschichte in die große verwickelt, von deren Fortgang sie in diesem Sommer ‘39 noch nichts ahnen. Weil sich der Zuschauer die Fortsetzung denken kann für die unerwünschten Ausländer, bekommen die komischen Dialoge, die unglaublichen Lebensdetails, die Sprachverwirrungen, die Behauptung der Figuren eine Verlängerung in die Tragödie, einen doppelten Boden.“ (Regine Sylvester, 1988)
Wieder für Konrad Wolf beschäftigte sich Kohlhaase in seinem Drehbuch für Der nackte Mann auf dem Sportplatz (1974) mit Reflexionen eines Bildhauers (Kurt Böwe) darüber, für wen der Künstler seine Werke produziert. Kohlhaases Freundschaft mit dem Bildhauer Werner Stötzer, hatte sein Bewusstsein dafür geweckt, dass es keinen anderen Zugang zur Kunst geben könne als den Umgang mit ihr.
Mama, ich lebe (1977), entstand nach Kohlhaases Hörspiel „Fragen an ein Foto“. Vier junge deutsche Soldaten kämpfen in den Reihen der Sowjetarmee. Über Jahre hatte der Autor Biografien recherchiert, im literarischen Umfeld ebenso wie im Freundeskreis, sammelte die Lebensgeschichte von Menschen, die während des Kriegs von der deutschen auf die russische Seite gewechselt waren. Es entsteht ein Film von vier jungen Deutschen, die moralisch motiviert und nach ihrem Gewissen handelnd, in fremdem Land und fremden Uniformen zu einem Einsatz transportiert werden, von dem sie nicht wissen, wo sie ankommen. Fast zehn Jahre darauf knüpft der Film an Ich war neunzehn an. Es war abermals der Krieg, Antifaschismus, Befreiung – aber was war mit den Gegenwartskonflikten?
Kehre zur Alltagswirklichkeit der Gegenwart
Ende der siebziger Jahre, als der DEFA-Film sich eine Kehre zurück zur Alltagswirklichkeit der DDR-Bevölkerung verordnete, entwarf Wolfgang Kohlhaase die Figur einer emanzipierten, einsamen Schlagersängerin (Renate Krößner), die mit einer Band durch eine triste DDR-Provinz zieht, bis die Widersprüche zwischen ihren Ansprüchen an das Leben und der allgemeinen Lethargie sie in die Krise bringen: Solo Sunny (1980, Konrad Wolf), ein Film um das Bohème-Milieu, für den Kohlhaase auch als Ko-Regisseur fungiert, setzt etwas von den Berlin-Filmen von Gerhard Klein und ihm aus den Fünfzigern fort. Nach dem großen Krieg, nach Antifaschismus und der richtigen Parteilinie in der Produktion wandte sich das Augenmerk des Spielfilms der DDR nun dem Alltag der Menschen zu.
„Is‘ ohne Frühstück!“ – Ehrlicher Film über die eigenen Belange
In einer Rede von 1977 äussert sich Kohlhaase programmatisch: „Man muss nicht einen Krimi für eine Zeitbombe und einen Hintern für ein Weltbild halten, um dennoch zu verstehen, dass es auf die Dauer nicht gleichgültig ist, welcher Widerschein der Welt auf unseren Leinwänden vorherrscht, ob es sozialistische Filme sind oder der kommerzielle, also der bürgerlichste bürgerliche Film. Wir haben diesen Kampf nicht gewonnen, und wir sind mit konkreten Fragestellungen für ihn mangelhaft versehen. Wenn wir uns, ob wir wollen oder nicht, mit bürgerlichen Filmen messen, können wir es, wie mir scheint, nicht teurer machen, nicht bunter, nicht nackter, nicht modischer, wir können keine größeren Autos von höheren Brücken stürzen lassen. Was also dann? Vielleicht können wir vor allem ein tun, und niemand außer uns könnte es. Wir können Filme machen, die von uns selber handeln. Es hört sich so selbstverständlich an, wie es schwierig ist, und Abenteuer stehen uns durchaus bevor und auch Streit. Wir können, auch im Kino, miteinander ehrlich sein … Miteinander ehrlich sein, das ist eine Dimension menschlicher Freiheit.“
Ergebnis war Solo Sunny, der ehrliche Film über die eigenen Belange – „Der Roman einer Schlagersängerin, eine Geschichte von Liebe suchen, Liebe finden, auf die Fresse fallen, wieder aufstehen. Da sie nicht gestorben ist, wird sie – kräftiger, wünschen wir ihr – weiterleben“ (Kohlhaase) Ein Film für die Leute in dieser Stadt, gedreht im alten Bezirk Prenzlauer Berg.
Renate Krößner bekommt auf der Berlinale 1980 den Schauspielerpreis, sie bringt eine spröde Zärtlichkeit in den Film, etwas Unsentimentales und doch Verwundbares, sie trägt den Ton von Anfang an mit, wenn sie den Liebhaber vom Vorabend am Morgen wegschickt: „Is‘ ohne Frühstück!“ – und als der Verschlafene anfängt zu nörgeln, gleich nachsetzt: – „Is‘ auch ohne Diskussion!“
Mit seinem Drehbuch zu Der Bruch (1988) entwarf Kohlhaase für Frank Beyer in einer frühen Ost-West-Kooperation unter Teilnahme von Schauspielern wie Götz George und Otto Sander eine Gangsterkomödie aus dem Nachkriegs-Berlin, die sich an Dekor, Kostüm und Maskenbild delektiert. Für Beyer hatte er 1982 nach dem Roman von Hermann Kant die Geschichte eines 19-jährigen deutschen Soldaten geschrieben, der 1945 in Polen fälschlicherweise als Mörder verdächtigt wird – Der Aufenthalt (1982). Konfrontiert mit anderen Inhaftierten kann dieser in den acht Monaten seiner Gefangenschaft über Schuldfragen nachdenken. Durch die ungeschönte Darstellung des deutsch-polnischen Verhältnisses in der unmittelbaren Nachkriegszeit kommt es zu diplomatischen Verstimmungen, so dass der Film als Beitrag zur Berlinale 1983 kurzfristig zurückgezogen wird, dafür ist der Publikumszuspruch in der DDR groß.
Die Stimmen hinter der Wand
Inge, April und Mai (1992/93; Regie: Kohlhaase / Gabriele Denecke) folgt einer längeren Erzählung des Autors, die ebenfalls im Band „Erfindung einer Sprache“ enthalten ist: Der Autor erinnert sich an das Frühjahr 1945, als ein Krieg zum Ende kommt und eine Liebe anfängt, die allererste wohl: „Am dreißigsten März habe ich Inge Kaliska geküsst“ – mit diesem Kuss begann sie. „Die Jahre nach dem Krieg, in meiner Erinnerung, sind eine Zeit fast grenzenloser Freiheit. Wenn ich nicht alles für möglich gehalten hätte, dann sicher auch nicht, daß ich bei einer Zeitung arbeiten würde, ein Beruf, für den in meiner Umgebung kein Beispiel war und von dem ich ein oder zwei Jahre vorher nicht einmal hätte sagen können, daß es ihn gab. Jedenfalls schrieb ich Volontör statt Volontär, als ich meine Bewerbungen an alle Berliner Zeitungen in Ost und West richtete (Kohlhaase, 1979)
1997 ist Kohlhaase für den Regisseur Frank Beyer mit der Neuadaption eines der meistverfilmten Stoffe des deutschen Films, Der Hauptmann von Köpernick befasst, in der Titelrolle das Phänomen Harald Juhncke, dem folgt eine Adaption der Victor Klemperer-Tagebücher (Victor Klemperer – Mein Leben ist so sündhaft lang, 1998, Buch und Regie mit Ulrich H. Kasten). Im Anschluss widmet er sich den Folgen des deutschen Terrorismus-Phänomens um Baader/Meinhof für Volker Schlöndorffs Film Die Stille nach dem Schuss (2000) über den Lebensweg eines in der DDR untergetauchten RAF-Mitglieds bis zum Mauerfall. Für Philipp Stölzls Spielfilm-Debüt Baby (2002), das eine ganz junge Alice Dwyer in ihrer zweiten Spielfilmrolle zeigt, schreibt er eine Story, die schräg und massiv mit Gewaltausbrüchen und Lebensverfehlungen umgeht, quasi eine Sozialgroteske um prekäre, exzessive Familienverhältnisse zweier Männer (Filip Peeters, Lars Rudolph – der eine leiblicher Vater, der andere Lolita-Verführter), die sich nach dem Unfalltod ihrer Frauen in einer Art chaotisch-kriminellen Durchschlageübung für ein heranwachsendes frühreifes Mädchen zuständig fühlen, bis das Chaos in einem tröstlichen Wunder kulminiert.
Als zweite Zusammenarbeit mit Andreas Dresen nach Sommer vorm Balkon (2005) – siehe oben – entstand Whiskey und Wodka (2009), eine melancholische Komödie im Schauspielermilieu (mit Henry Hübchen, Corinna Harfouch, Sylvester Groth u.a.), die den Filmbetrieb hochnimmt: Ein älterer Schauspieler, dem ein alkoholischer Pegel zur Ausübung seines Metiers unabdingbar wird, sieht sich neuerdings in einer Konkurrenzsituation mit einem jüngeren Ersatzmann konfrontiert, muss um seine Rolle kämpfen und überhaupt mit den Schwächen seines Lebens.
Die Erzählung des TV-Films Haus und Kind (2009, Andreas Kleinert) geht aus von der gesichert erscheinenden Lebensperspektive eines nach Berlin gezogenen jungen Professors (Stefan Kurt), der ein Haus im Umland erwirbt, seine Ehefrau (Marie Bäumer) nachziehen lässt und von seiner Geliebten vor Ort, von der jene bald weiß, Abstand nimmt. Teils aus Lust, teils wohl auch aus Rachegefühlen für die Untreue des Gatten verbringt die Ehefrau des Professors während seiner Abwesenheit eine Nacht mit einem anderen. Nun wäre es an der Zeit für ein Kind, das die Beziehung des Ehepaars aus der Krise holen, festigen könnte, allein es dauert, und schließlich ergibt eine ärztliche Untersuchung, dass er unfruchtbar sei. Als er von dem Befund verstört nach Hause kommt, eröffnet sie ihm die Nachricht von ihrer Schwangerschaft.
Wolfgang Kohlhaase adaptiert den Nachwende-Roman „Als wir träumten“ (2006) von Clemens Meyer um eine Jungs-Clique aus Leipzig, ebendort 2013 gedreht, für die Leinwand (2015, Regie: Andreas Dresen). Auch sein Drehbuch für In Zeiten des abnehmenden Lichts (2017, Matti Geschonneck) basiert auf einer sehr erfolgreichen literarischen Vorlage: Eugen Kluges gleichnamigem Roman von 2011 um eine jahrhundertübergreifende Familiengeschichte sozialistischer Traditionslinie, eine Geschichte, die Kohlhaase für die Filmfassung auf die letzten Tage der DDR im Frühherbst 1989 verdichtet, als das Oberhaupt, Wilhelm Powileit (Bruno Ganz), altgedientes hochdekoriertes KPD- später SED-Mitglied, das 1952 aus dem mexikanischen Exil zurückgekehrt war, seinen 90. Geburtstag begeht, und auf dem man erfährt, dass sein Enkel vor Tagen in den Westen gegangen ist.
„Filme machen ist gesellig, im Guten wie im Bösen, Prosa wird in einem anderen, stilleren Raum geschrieben. Indem ich versuche, das zu tun, folge ich dem Bedürfnis, ein zweites Zimmer zu haben, so daß ich hin- und hergehen, aber auch die Tür zumachen kann, um allein zu sein, mit Stimmen hinter der Wand.“ (Wolfgang Kohlhaase)