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The Room Next Door
The Room Next Door

Venedig Blog 3

Leise Gewinner, große Bilder

| Pamela Jahn |
Es war ein unspektakulärer 81. Jahrgang des Filmfestival in Venedig, der am Samstagabend mit einer bewegenden Preisverleihung zu Ende ging

„Dem Kino geht es hervorragend“, sagte die diesjährige Juryvorsitzende Isabelle Huppert bei der Preisverleihung in Venedig am Samstagabend – vermutlich auch, um ihre Entscheidung über den Gewinner des Goldenen Löwen zu rechtfertigen. Die Auszeichnung für den besten Film ging in diesem Jahr an Pedro Almodóvars Euthanasie-Drama The Room Next Door. Es ist das zweite Mal, dass Almodóvar in Venedig geehrt wird, 2019 erhielt er einen Ehrenlöwen für sein Lebenswerk. Aber diesmal präsentierte er seinen ersten englischsprachigen Film, ein kunstvolles Werk mit Tilda Swinton und Julianne Moore in den Hauptrollen, das sich auf einer spartanischen Handlung aufbauend mit dem Thema Sterbehilfe auseinandersetzt.  Dennoch hatten nur die wenigsten dem Film tatsächlich Chancen auf den wichtigsten Preis des Festivals ausgerechnet, obwohl er wenige Tage zuvor bereits  vom Premierenpublikum mit einem berauschenden 17-minütigen Applaus gehuldigt wurde.

Tatsächlich gab es andere Favoriten, allen voran Brady Corbets The Brutalist, der stattdessen „nur“ mit einem silbernen Löwen für die Beste Regie ausgezeichnet wurde. Nicole Kidman erhielt erwartungsgemäß den Volpi-Pokal für die Beste Schauspielerin für ihre mutige Hauptrolle in Halina Reijns Erotik-Thriller Babygirl, konnte den Preis allerdings nicht persönlich entgegennehmen, weil ihre Mutter kurz zuvor verstorben war. Ihre Dankesrede, die in ihrer Abwesenheit von der Regisseurin verlesen wurde, beschloss sie mit den Worten: „Der Zusammenprall von Leben und Kunst ist schmerzlich. Mein Herz ist gebrochen.“

Mit Freude durfte dagegen der französische Schauspieler Vincent Lindon den Volpi-Pokal für den besten Darsteller in Händen halten. Er wurde für seine Rolle als verzweifelter, liebender und verantwortungsvoller Vater in dem Nazi-Drama Der stille Sohn geehrt. Und Lindon, der eigentlich auf der Leinwand nie enttäuscht, hatte die Auszeichnung längst verdient.

Aber noch zwei Entscheidungen überraschten: Der Große Preis der Jury ging in diesem Jahr an das italienische Historiendrama Vermiglio von Maura Delpero, ein leiser Film, der mit gewaltigen Bilder und einen großer innerer Stärke über das Leben einer Familie in den norditalienischen Bergen zur Zeit des Zweiten Weltkriegs erzählt. Trotzdem zählte der Film unter den Kritikern ebenso wenig zu den Spitzenreitern wie Dea Kulumbegashvilis nicht weniger eindrücklich gefilmtes Abtreibungsdrama April, das ebenfalls vor allem mit seiner atemberaubenden formalistischen Strenge beeindruckte. Das war der Jury am Ende den Spezialpreis wert.

Für Walter Salles‘ zutiefst ergreifendes Familiendrama I’m Still Here blieb am Ende der Drehbuchpreis. Aber alles im allen war auch das eine gute Wahl der Jury, der neben Huppert in diesem Jahr die Schauspielerin Zhang Ziyi sowie die Filmemacher James Gray, Andrew Haigh, Agnieszka Holland, Kleber Mendonça Filho, Abderrahmane Sissako, Giuseppe Tornatore und Julia von Heinz angehörten. Natürlich kann man bedauern, dass es heuer keine zukünftigen Oscar-Favoriten wie im vergangen Yorgos Lanthimos‘ Jahr Poor Things zu sehen gab und dieser 81. Jahrgang wohl als eher mittelmäßig in Erinnerung bleibt. Doch es gab sowohl mit den hier zum Teil genannten Werken als auch mit den großen Hollywood-Produktionen wie Joker: Folie à Deux durchaus genügend Film-Futter für jeden Geschmack. Und das Kino ist und bleibt lebendig und streitbar – im besten Sinn.