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Das Kind / L´enfant (2005)

L’enfant

Sorglos wie ein Kind

| Ernst Pohn |

Mit ihrem Sozialdrama „L’enfant“ gewannen Luc und Jean-Pierre Dardenne heuer bereits zum zweiten Mal die Goldene Palme – vorläufiger Höhepunkt eines kompromisslosen Weges, den die Brüder einst mit Dokumentarfilmen begonnen haben.

Sonia kommt mit ihrem neugeborenen Kind auf dem Arm aus dem Krankenhaus nach Hause. Ein fremdes Pärchen öffnet Ihre Wohnungstür und verweigert ihr den Zutritt. Es wird ihr zu verstehen gegeben, dass ihr Freund Bruno die Wohnung vorübergehend vermietet hat. Bruno ist schon seit Tagen nicht erreichbar. Als ein Bekannter sie schließlich zu ihm bringt, schnorrt er gerade an einer Straßenkreuzung Autofahrer um Geld an. Sonia will ihm den Kleinen in den Arm geben, doch Bruno ist damit überfordert: Er dreht sich weg, ist mit den Gedanken wieder bei anderen, für ihn wichtigeren Dingen. In den ersten paar Filmminuten wird Bruno seiner Rolle als junger Vater schon nicht gerecht, ein Verhalten, dass sich im Laufe des Films fortsetzten wird.

Andere Gedanken

L’enfant (Das Kind) reiht sich thematisch nahtlos ein in die Filmografie des belgischen Regie-Brüderpaares Luc und Jean-Pierre Dardenne. Seit ihren Anfängen beschäftigen sich die beiden in ihren Filmen mit den Verlierern der westlichen Industriegesellschaft. Zu solchen zählen auch die Hauptfiguren Sonia und Bruno: Sonia ist Sozialhilfeempfängerin, Bruno lebt in den Tag hinein und verdient sein Geld mit Betteln und kleineren Diebstählen, die er bei zwei Halbwüchsigen in Auftrag gibt. „Der Vater“ hätte der Film ursprünglich heißen sollen, bevor sich die Regisseure entschlossen, den Titel umzukehren. Aber auch L’enfant passt treffend auf den jungen Vater, der sich genauso sorglos verhält wie ein Kind. Doch noch ist die Welt der drei in Ordnung. Sonia ist verliebt, sie legt ihren Kopf an Brunos Schulter, sagt ihm, dass sie glücklich ist und dass sie mit ihm schlafen möchte. Doch Bruno ist mit den Gedanken schon wieder woanders. Später tollen die jungen Eltern wie kleine Kinder herum, necken sich, haben Spaß. Schließlich geht Brunos Leichtfertigkeit zu weit. Als er mit dem Baby alleine spazieren geht, beschließt er spontan den Jungen zu verkaufen.

Zur Geschichte von L’enfant wurden die Regisseure während der Dreharbeiten zu ihrem letzten Spielfilm Le Fils (Der Sohn, 2002) inspiriert. Damals sahen sie immer wieder eine junge Frau lustlos auf der Straße einen Kinderwagen vor sich herschieben – offenbar fehlte der Vater des Kindes. Der Kinderwagen erhielt Symbolcharakter: Auch wenn er zeitweise nur leer herumgeschoben wird, der Wagen stellt damit ein dauerhaftes Zeichen für die Anwesenheit des Kindes dar. Das Kind selbst, übrigens ein Junge, den Sonia Jimmy nannte, ist zwar Auslöser aller späteren Ereignisse, bleibt aber als Person den ganzen Film hindurch nur eine Randerscheinung. Jimmy wird nie groß von der Kamera eingefangen, sondern bleibt ein in Decken gehülltes Etwas, das nur indirekt Bedeutung erlangt – bezeichnend ist, dass das Baby während des ganzen Films nie schreit. Bis auf die Tatsache, dass er es letztlich zu Geld machen konnte, bleibt es von Bruno unbeachtet. „Wir machen einfach noch eines“, meint er lapidar, als er Sonia erklärt, es veräußert zu haben. Als er seinen Fehler realisiert, macht er den Verkauf rückgängig.

Sozialkritische Themen

Aufgewachsen im ehemaligen Industriegebiet der Maas in Wallonien, drehen die Brüder Dardenne schon früh engagierte Videoreportagen, in deren Mittelpunkt Gewerkschafter, Streikende, Arbeitslose und Immigranten stehen. Nach diesen dokumentarischen Arbeiten entsteht 1987 ihr erster Spielfilm Falsch, die Geschichte eines Mordes an einer jüdischen Familie im Nationalsozialismus. Den Durchbruch schaffen die Dardennes 1996 in Cannes mit La Promesse, jenem Film, den sie als ihren ersten wirklich persönlichen Spielfilm bezeichnen. La Promesse begründet auch die inhaltliche und formale Handschrift der Dardennes – über Menschen am Rande der Gesellschaft, gedreht in rauem dokumentarischem Stil mit Handkamera, zittrig und schnörkellos.
Der große internationale Erfolg gelingt den beiden mit Rosetta, einem durchgehend mit Handkamera gedrehten Film über eine zornige junge Frau, die sich nicht mit ihrer Arbeitslosigkeit abfinden will. Rosetta gewinnt 1999 in Cannes die Goldene Palme, erreicht in ganz Europa über eine Million Zuseher.

Trotz des großen Erfolgs sind die beiden all die Jahre ihrer Arbeitsweise treu geblieben, ihre Filme produzieren sie selbst mit der 1994 gegründeten Produktionsfirma Les films du fleuve („Die Filme des Flusses“). Seit La Promesse, drehen sie außerdem alle Filme in der Kleinstadt Seraing an der Maas, das zehn Kilometer von der 200.000 Einwohner Stadt Lüttich entfernt liegt. „Wir brauchen diese uns so bekannte Umgebung um zu atmen”, so die Brüder und verweisen auf die sozialen Veränderungen und auf die Familien, die durch Arbeitslosigkeit und folgende Armut auseinandergebrochen sind. In der belgischen Provinz haben sich die beiden ihr persönliches Filmrefugium mit konstanten Produktionsbedingungen aufgebaut. Dazu gehört auch ihr Filmteam, das seit La Promesse großteils dasselbe geblieben ist. Über die Aufteilung der Regieführung bei den Dreharbeiten meint  Luc Dardenne: „Zuerst proben wir zirka eine Stunde lang die Szene mit den Darstellern, dann kommt das Drehteam hinzu und einer von uns, mein Bruder oder ich, bleibt bei den Schauspielern und dem Team. Einer führt also klassisch Regie, und der andere verfolgt die Aufnahme am Monitor. Wenn wir über eine Szene diskutieren, dann nie vor den Darstellern und dem Team. Wir diskutieren am Monitor, und danach geht jeder wieder an seinen Platz zurück. Irgendwann tauschen wir, aber wie und wann, da haben wir keinerlei System.“

Unbarmherziger Kamerablick

Wie bei den vorhergehenden Filmen verwenden die Dardennes auch in L’Enfant einen dokumentarischen Kamerastil, wodurch der Eindruck entsteht, dass Bruno auf seinen kindhaften Irrwegen von der Kamera einfach nur begleitet wird. In langen Plansequenzen verharrt die Kamera auch dann bei den Protagonisten, wenn die Aktion in dem Moment weniger interessant erscheint. Da, wo andere Regisseure längst einen Schnitt zur nächsten Szene gemacht hätten, bleiben die Dardennes beim Motiv, was zur verstörenden Wirkung des Films beiträgt. Der Blick des Zusehers wird an die Hauptpersonen gefesselt: Man ist gezwungen, Bruno dabei zuzusehen, wie er sich in jugendlichem Leichtsinn und Verantwortungslosigkeit von einem Schlamassel ins nächste manövriert. Abschweifende Handlungsstränge, die irgendwann ineinander laufen oder den Film abwechslungsreicher gestalten würden, gibt es nicht. Erklärungen zu den Hintergründen von Brunos Verhalten werden nicht geliefert, denn gesprochen wird den ganzen Film hindurch herzlich wenig. „Wie viel?“, „Wann?“, „Wo treffen wir uns?“, „Hast du Geld?“ – sowohl Fragen als auch Antworten bleiben auf ein Mindestmaß reduziert. Nur der hypernervöse Klingelton von Brunos Handy zerreißt immer wieder die Schweigsamkeit. Als Bruno mit dem Kinderwagen unterwegs ist, um das Kind zu verkaufen, wirken die ständigen Anrufe vor der Geldübergabe wie schrille Alarmglocken. Doch Bruno reagiert erst, als die Folgen seiner Fehltritte schon längst ihren Lauf genommen haben. Nur dann ist es schon zu spät.