ray Filmmagazin » Filmkritiken » Kleine Wahre Lügen / Les Petits Mouchoirs
Kleine Wahre Lügen

Kleine Wahre Lügen

Kleine Wahre Lügen / Les Petits Mouchoirs

| Ralph Umard |

Emotionaler Showdown statt Savoir-vivre: Der Strandurlaub einiger privilegierter Pariser gerät zur Nervenprobe.

Eben noch genoss er das Leben in Saus und Braus mit Freunden, Frauen und Drogen. Wenig später liegt Ludo nach einem Verkehrsunfall zerschmettert und bewegungsunfähig auf der Intensivstation einer Pariser Klinik. Die Mitglieder seiner Clique finden sich bestürzt an Ludos Krankenbett ein und beschließen nach kurzer Diskussion, trotz des Unglücks ohne den lebensgefährlich verletzten Freund in die lange geplanten gemeinsamen Sommerferien zum Cap Ferret an die Altlantikküste zu fahren.

Schon zu Beginn deutet sich so die Ich-Fixierung der Urlauber an, am Ferienort werden Beziehungsprobleme, Schwächen und Lebenslügen aufgedeckt, die Nerven liegen zunehmend blank. Max, der Älteste und geschäftlich Erfolgreichste in der Gruppe, besitzt eine Ferienvilla am Strand … und ein äußerst cholerisches Temperament. Ein Mann wie eine Tretmine: Wenn ihm etwas auf den Zünder geht, explodiert er förmlich vor Wut. Seine Frau hat dann Mühe, die Situation zu entschärfen. Vincent leidet unter seiner latenten Homosexualität, die sexuell unbefriedigte Gattin schaut Pornos im Internet. Die neurotische Marie und der Schürzenjäger Éric sind mit ihrem polygamen Lebensstil nicht glücklich, der Kindskopf Antoine nervt alle mit seinem Liebeskummer.

Zunächst betrachtet man die Reibereien und das teilweise lächerliche Verhalten der Urlauber amüsiert und ohne große Anteilnahme. Aber mit der Zeit – der Film ist über zweieinhalb Stunden lang, aber nie langweilig – sorgen die psychologisch stimmige Charakterzeichnung und das lebensecht wirkende Ensemblespiel dafür, dass man zunehmend das Gefühl bekommt, selbst vor Ort dabei zu sein. Einige der Darsteller und der Regisseur Guillaume Canet kennen einander seit Jahren, Marie wird sensibel verkörpert von CanetsLebensgefährtin, der Oscar-Preisträgerin Marion Cotillard. Man spürt die menschliche Nähe und den Esprit im Ensemble. Canet, selbst auch Schauspieler, wollte ursprünglich die Rolle des Antoine selber übernehmen. Laut Canet steckt in allen Figuren etwas von ihm, vor der Fertigstellung seines Drehbuchs unterzog er sich einer Psychotherapie.

Manche Wesenszüge der Protagonisten kennt man aus eigenen Erfahrungen, das Grundproblem ist universell: Die meisten Menschen machen sich und anderen mehr oder weniger bewusst etwas vor im Leben. Zwischen dem Bild, das man von sich hat, und der tatsächlichen Lebenslage herrscht oft eine große Diskrepanz.