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The Executioner’s Song

True Crime

Let’s Do It

| Andreas Ungerböck |
Am 17. Januar 1977 wurde der zweifache Mörder Gary Gilmore im US-Bundesstaat Utah hingerichtet, auf seinen eigenen Wunsch hin durch Erschießen. Lawrence Schiller drehte 1982 nach dem Buch von Norman Mailer den sehr frühen und bis heute höchst eindringlichen True-Crime-Film „The Executioner’s Song“.

 

„Gary don’t need his eyes to see,
Gary and his eyes have parted company.“
(The Adverts, „Gary Gilmore’s Eyes“, 1977)

 

Ein toter Tankwart, ein toter Motel-Rezeptionist in zwei Kleinstädten in Utah – gemessen an dem, was man an US-amerikanischen Verbrechen gewohnt ist, nichts Besonderes. Verstörend war allerdings, mit welcher Kaltblütigkeit der 35-jährige Gary Gilmore am 19. bzw. am 20. Juli 1976 seine beiden wehrlosen, ihm völlig unbekannten Opfer von hinten erschoss. Verstörend auch, dass die beiden vor allem deshalb sterben mussten, weil Gilmore gerade von seiner Freundin Nicole Barrett (später Baker) – trotz ihres zarten Alters von 19 Jahren bereits zweimal geschieden und zweifache Mutter – verlassen worden war. Weil er Nicole nicht töten konnte bzw. wollte, mussten zwei Unbeteiligte ihr Leben lassen. Gilmore wurde umgehend festgenommen, weil er gesehen worden war, weil er jedem in der Gegend bekannt war und weil vielen sofort klar war: „Das kann nur Gary gewesen sein.“ Er leistete keinerlei Widerstand.

Dass sich Gilmores Fall zu einem der spektakulärsten der US-Kriminalgeschichte entwickelte, hat andere Gründe. Eben erst hatte der Oberste Gerichtshof – nach einem zehnjährigen Moratorium – die Wiedereinführung der Todesstrafe beschlossen. (Exkurs: Diesem Moratorium hatten es u.a. Charles Manson und seine mörderischen Family-Mitglieder zu „verdanken“, dass sie zu Beginn der siebziger Jahre nicht hingerichtet wurden.) Doch Gilmore wurde nicht nur „als Erster“ wieder zum Tode verurteilt, er bestand auch darauf, dass das Urteil vollstreckt werde, und zwar möglichst „sofort“. Er wollte nichts mit dem üblichen langwierigen Prozedere (Aufschub, Eingaben, Berufungen, Begnadigungen usw.) zu tun haben, und das schockierte die Medien, die Politik und die Öffentlichkeit. Noch dazu bestand er darauf – Auge um Auge, Zahn um Zahn –, erschossen zu werden. Und das geschah dann auch, auf dem Gelände des State Prison in Draper, Utah, nach einer bizarren „Abschiedsparty“ im Gefängnis. Der Medienrummel war, wie man das ja mittlerweile kennt, enorm, zumal Gilmore auch die (inzwischen wiederhergestellte) Beziehung zu seiner Freundin, die ihn oft im Gefängnis besuchte, intensiv fortführte. Die beiden schmiedeten, als sich die Hinrichtung zu verschieben drohte, einen Selbstmordpakt. Dafür schmuggelte Nicole Tabletten für Gilmore in ihrer Vagina ins Gefängnis, beide wurden jedoch gerettet.

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Der Journalist und Autor Lawrence Schiller – er kommt auch als Figur im Film vor – führte zahlreiche Interviews mit dem Mörder, teilweise selbst, teilweise über Gilmores Anwälte; er stand Nicole Barrett und Gilmores Onkel Vern nahe, und er war bei der Hinrichtung anwesend. 1982 drehte er für den Fernsehsender NBC seinen ursprünglich zweiteiligen Film. Das Drehbuch schrieb der prominente Literat Norman Mailer nach seinem 1979 veröffentlichten, mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten True-Crime-Buch mit dem ein wenig rätselhaften Titel, das wiederum zum Teil nach Schillers Recherchen entstanden war. Während Mailer von manchen vorgeworfen wurde, er habe Gilmore in seinem Buch teilweise ungebührlich glorifiziert, ist Schillers Film sehr nüchtern und umso wirkungsvoller.

Gary Gilmore wird, im Gegenteil, in The Executioner’s Song als nicht besonders angenehmer Zeitgenosse gezeigt. Darauf, dass er nach zwölf (von ursprünglich 16) Jahren auf Bewährung aus dem Gefängnis entlassen und der Obhut seiner Cousine Brenda überantwortet wird, nimmt er wenig Rücksicht. Er gerät wegen seines Temperaments schon bald in kleinere Streitereien und Handgreiflichkeiten. Als er die blutjunge Nicole kennenlernt, scheinen sich die Dinge zum Besseren zu wenden, doch das Glück ist – siehe oben – von kurzer Dauer. Als er eines Tages mit gestohlenen Waffen bei ihr auftaucht, zieht sie die Konsequenzen. Auch das Umfeld zwischen White Trash und US-amerikanischer Provinz-Tristesse erscheint in keinem sehr rosigen Licht; Perspektiven irgendeiner Art sind nicht in Sicht. Das können auch die stimmungsvollen Songs von Country-Star Waylon Jennings nicht beschönigen.

Der dokumentarische Stil des Films war für die damalige Zeit eher ungewöhnlich, und er wird noch dadurch unterstrichen, dass die Schauspielerinnen und Schauspieler (Christine Lahti als Cousine Brenda, Eli Wallach als Onkel Vern und Rosanna Arquette als Nicole) den echten Personen enorm ähnlich sahen. Bei Tommy Lee Jones war das nicht ganz der Fall; manche Leute monierten gar, dass Gilmore klare blaue Augen gehabt habe, Jones jedoch braune. Wie auch immer: Jones lieferte eine bewunderswerte Darstellung, die ihm zu Recht einen Primetime Emmy als bester Darsteller einbrachte, Mailer war als Drehbuchautor nominiert. Man ging übrigens beim Casting so weit, dass man die prominente Schauspielerin Debra Winger, die ursprünglich Nicole spielen sollte, letztlich nicht verpflichtete, weil sie „zu urban“ wirkte.

Sozusagen als später Beweis, wie bis in kleinste Details penibel der Film den wahren Geschehnissen nachempfunden war (auch gedreht wurde mehr oder weniger an Originalschauplätzen im ländlichen Utah), kann der Dokumentarfilm Gary Gilmore: Dead Man Talking gelten, den Lawrence Schiller 2017 zusammen mit Tom Jennings drehte, sozusagen zum 40-Jahre-„Jubiläum“ von Gilmores Hinrichtung. Darin kommt nicht nur die „echte“ Nicole Baker vor (in Aufnahmen aus den achtziger Jahren ist sie tatsächlich kaum von Rosanna Arquette zu unterscheiden), sondern auch die dokumentarischen Originalaufnahmen vieler Szenen aus dem Spielfilm. Was den Dokumentarfilm so besonders macht, ist, dass er vieles beinhaltet, was in The Executioner’s Song nicht (oder nicht mehr, die 200-minütige Fernsehfassung ist nicht greifbar) zu sehen ist: Hinweise auf Gilmores schwierige Kindheit, auf seine Zeit im Gefängnis und besonders auf seine von niemandem geförderten Ambitionen, Künstler zu werden. Offenbar hatte er durchaus zeichnerisches Talent. Auch die vielen Briefe, die Nicole und er einander schrieben, sind zu sehen und Ausschnitte daraus zu hören.

Während Lawrence Schiller also kaum, jedenfalls nicht bewusst, zur Mythenbildung um Gary Gilmore beigetragen hat, war die Populärkultur wieder einmal stärker. Angeblich inspirierte des Mörders legendärer letzter Satz vor der Hinrichtung, „Let’s do it“, den berühmten Nike-Slogan „Just do it“. Was ganz sicher ist: Die Tatsache, dass Gilmore einige seiner Organe, darunter auch die Hornhäute seiner Augen, für medizinische Zwecke spen-dete, animierte T.V. Smith, den Sänger der britischen Punkband The Adverts, zu dem eingangs zitierten Song mit dem catchy Refrain „looking through Gary Gilmore’s eyes“. Und ebenfalls sicher ist, dass sich aktuell eine TV-Serie in Vorbereitung befindet. Wie konnte eine solcher Stoff auch so lange brach liegen?