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Letters from Iwo Jima

Letters from Iwo Jima

Paths of Glory

| Michael Pekler |

Mit „Flags of Our Fathers hat Clint Eastwood nur ein erstes Kapitel einer außergewöhnlichen Erzählung über die Schlacht von Iwo Jima aufgeschlagen. Mit „Letters from Iwo Jima“, der das Geschehen aus japanischer Perspektive schildert, wird dieses Bild nun komplettiert: Zwei Ausnahmefilme vereinigen sich zu einem einzigartigen Diptychon.

Vielleicht ist der richtige Ort, eine Geschichte beginnen zu lassen, immer jener, an dem eine andere Erzählung geschlossen wurde. Clint Eastwoods Flags of Our Fathers endet mit einem Blick über ein Kriegerdenkmal hinweg, das zu Ehren der amerikanischen Gefallenen auf der kleinen Pazifikinsel Iwo Jima errichtet wurde – ein Blick, der die Sicht auf den schwarzen, verlassenen Strand freigibt. Die amerikanischen Soldaten, die hier am Ende des Films im Meer baden, um dann wie Geister aus dem Bild zu verschwinden, sind längst abgezogen, haben ihre traumatischen Erfahrungen mit in die Heimat genommen. Sie kehren nur in ihren Albträumen nach Iwo Jima zurück, wie der Soldat John Bradley, dessen Erinnerungen in Flags of Our Fathers die Ausgangslage bilden für die Rekonstruktion jener Geschehnisse, die hier im Februar und März 1945 stattfanden.

Doch es gibt noch andere Erinnerungen, die nicht den Moment der legendären, zum amerikanischen Mythos erstarrten Flaggenhissung auf dem Gipfel von Iwo Jima umschließen: Es sind die Erinnerungen jener, die im unterirdischen Höhlensystem der Insel über mehrere Wochen lang den Angreifern trotzten, das für die Heimatinsel strategisch wichtige schwarze Vulkaneiland tatsächlich beinahe bis zum letzten Mann verteidigten. Denn den über 80.000 amerikanischen Marinesoldaten standen, oder besser gesagt: lagen, eingebunkert in der Tiefe des Berges, rund 20.000 japanische Verteidiger gegen-über, von denen nur knapp 1.800 die Schlacht überleben sollten. Ihre Sicht, die in Flags of Our Fathers bewusst fehlt, dort nur eine zu füllende Leerstelle öffnet, schildert nunmehr ein zweiter, auf Japanisch gedrehter und nicht minder gewichtiger Film: Letters from Iwo Jima.

Dieser Film ist mehr als nur die Kehrseite einer Medaille, mehr als nur die japanische Perspektive auf dasselbe Geschehen, sondern ist mit Flags of Our Fathers gleichsam untrennbar verbunden. Denn wie Flags of Our Fathers leistet auch Letters from Iwo Jima archivarische Arbeit, und wie dieser bemüht er sich, Vergrabenes, Verschüttetes buchstäblich ans Tageslicht zu bringen. Den archivarischen Blick, den auf amerikanischer Seite der Sohn eines der Flaggenhisser, John „Doc“ Bradley, im Zuge seiner journalistischen Recherchearbeit einnimmt, übernehmen hier japanische Archäologen, die bei der Erforschung des verzweigten Tunnelsystems die Briefe ihrer gefallenen Landsleute freilegen. Es sind Stimmen aus dem Inneren des Berges, die sich hier Gehör verschaffen und die der amerikanischen Geschichtsschreibung weniger gegenüber stehen als vielmehr die „blinden Flecken“ in dieser mit Bildern auffüllen. Wenn etwa die amerikanischen Landungstruppen in Flags of Our Fathers in die dunklen Höhlen blicken, aus denen man zu diesem Zeitpunkt nur Gewehrläufe herausragen sieht, so werden in Letters from Iwo Jima diese schwarzen Löcher mit Leben gefüllt. Mehr noch: Sie werden zu einem Teil eines umfassenden, im aktuellen Kino einzigartigen Gebildes, mit dem Eastwood wie derzeit kein anderer nicht nur über amerikanische Geschichte, sondern eben vor allem über die damit einhergehenden Lücken im kollektiven westlichen Gedächtnis zu erzählen weiß.

Lebendig Begraben

„Wir werden tot sein, bevor die Amerikaner überhaupt kommen“, meint ein junger japanischer Soldat zu Beginn, und tatsächlich scheint es, als ob diese Männer keine Verteidigungsanlagen, sondern bereits ihre eigenen Gräber schaufelten. Der zu erwartenden Invasion ist nichts entgegenzusetzen, und es ist ein Leben auf Zeit im Ausnahmezustand, das Eastwood hier bereits mit wenigen Einstellungen entwirft: entmutigte Soldaten, die unter sengender Hitze, verdorbenem Wasser und schlechter Moral leiden, die selbst von strenger hierarchischer Disziplin nicht unterdrückt werden kann. Dieses Szenario rückt bereits das kommende Geschehen bzw. den Kampf selbst in ein völlig anderes Licht, als es Flags of Our Fathers tut: Vielleicht ist der japanische Soldat, der in Flags of Our Fathers von John Bradley getötet wird, gerade jener, der in einem letzten Akt der Verzweiflung in eines der kraterähnlichen Löcher stürmt; oder jener Offizier, der von der Militärakademie nach Iwo Jima strafversetzt worden ist, weil er den sinnlosen Befehl seines Vorgesetzten, einen Hund zu töten, nicht ausführen konnte.

Es sind die Schicksale der einfachen Soldaten ebenso wie der Offiziere, für die sich Eastwood interessiert, nicht für die militärischen und strategischen Umstände der Schlacht, die ohnehin in unzähligen historischen Werken nachzulesen sind (so erfahren die japanischen Befehlshaber auf Iwo Jima zufällig von der verheerenden Niederlage jener Streitkräfte, die für die Verteidigung der Insel unabdingbar gewesen wären). Selbst der Verlauf des Kampfes gerät irgendwann zur Nebensache, und als der japanische Kommandant aus der Ferne die US-Flagge auf dem Berg Suribachi wehen sieht, mutet dies aus dieser Perspektive beinahe wie eine Randnotiz an; und ob es die erste oder zweite Fahne ist, die die Amerikaner hochziehen, erscheint in diesem Moment schlicht lächerlich.

Eastwood bleibt fest im Genre des amerikanischen Kriegsfilms verhaftet, wenn auch er aus dem zahllosen Personal ausgewählte Persönlichkeiten in den Mittelpunkt stellt: den jungen Soldaten, der sein Kind zu Hause noch nie gesehen hat; den Offizier und Edelmann, der als olympischer Springreiter Mary Pickford und Douglas Fairbanks zu seinen Freunden zählte; oder den stillen, Briefe schreibenden Soldaten, der von den Kameraden als Spitzel verdächtigt wird. Buchstäblich im Zentrum jedoch steht der Kommandant Kuribayashi (dargestellt vom japanischen Star Ken Watanabe), der verspätet nach Iwo Jima geschickt wird, und die Abwehrschlacht – gegen den Willen seiner Offiziere – in eine neue Richtung lenkt. Umgehend befiehlt er den Bau des Tunnelsystems (die Dreharbeiten fanden in einer aufgelassenen Mine in Kalifornien statt), und obwohl auch er insgeheim weiß, dass dadurch das langsame Sterben nur verlängert wird, zählt doch einzig jeder gewonnene Tag für Tokyo. Der Kosmopolit Kuribayashi, der die amerikanische Lebensweise durch einen längeren Aufenthalt in Kalifornien vor dem Krieg kennen lernte, repräsentiert eine mit diesem Krieg verschwindende Figur: den Befehlshaber, der Achtung vor dem Feind mitbringt, weil er ihn respektiert, und dessen Taten auch angesichts militärischer Aussichtslosigkeit von Ehrenkodex und Pflichtgefühl geleitet sind.

Dieser japanische Soldatenkodex, geprägt von blindem Gehorsam, Mut, Respekt vor dem Vorgesetzten und fanatischer Unterordnung unter die militärische (und kaiserliche) Autorität, kollidiert jedoch mit den Anforderungen moderner Kriegsführung im 20. Jahrhundert. Eastwood (und natürlich vor allem seine Autorin Iris Yamashita) wissen um dieses Dilemma sehr genau Bescheid: Die ohnehin großen Spannungen innerhalb des militärischen Systems finden durch die Ankunft des Feindes ein zusätzliches Ventil. Mehr als einmal setzt Kuribayashi die nach dem Ehrenkodex tatsächlich straffällig gewordene Züchtigung für einzelne Soldaten aus. Und untersagt auch den Weg in den Freitod, weil er genau weiß, dass selbst ein feiger Soldat ohne Ehre immer noch besser schießen kann als ein toter. Das Schicksal der lebendig begrabenen Japaner ist von Anfang an unausweichlich, doch aufgrund der Vorgaben von Ehre und Moral umso tragischer. Der Schlachten-Regisseur Kuribayashi ist nicht nur jener Charakter, der dies am deutlichsten erkennt, sondern der deshalb dem Kino-Regisseur Eastwood auch am nächsten steht.

Im Glauben an die gute Sache

Die Schlacht um Iwo Jima und der Zweite Weltkrieg sind – und das ist für Eastwood und seinen Koproduzenten Steven Spielberg ebenso maßgeblich wie für das Verständnis der beiden Filme – der letzte Krieg, der aus amerikanischer Sicht noch als „gute Sache“ betrachtet werden kann. Diese klar verteilten Rollen auf neuer Ebene zusammenzuführen, ist Aufgabe und Ergebnis von Flags of Our Fathers und Letters from Iwo Jima. Doch dafür genügt eben nicht ein einzelner Film, der an einem beliebigen Kriegsschauplatz bloß die Perspektive wechselt (wie etwa Christian Carions Joyeux Noël, 2005), sondern diese „Aufhebung“ kann logischerweise nur dann gelingen, wenn die Rollen neu verteilt werden. Anders formuliert: Wenn im modernen, so genannten asymmetrischen Krieg die Unterscheidung zwischen Gut und Böse nicht mehr eindeutig getroffen werden kann, ist es umso wichtiger, in der Re-Inszenierung des klassischen, symmetrischen Staatenkrieges diese Unterscheidung neu zu überprüfen. Auch und gerade auf Iwo Jima.

Im modernen Krieg der Interventionen und Einsätze, das haben die jüngeren Kriegsfilme von David O. Russells Three Kings (1999) bis Ridley Scotts Black Hawk Down (2001) mehrfach gezeigt, geht die Entscheidungshoheit nämlich nicht erst durch einen ungünstigen Verlauf der Schlacht verloren (wie Kuribayashi einen Gesandten nach dem anderen verliert, der von der Lage an der Front berichten soll), sondern in der Auflösung der Befehlskette, ja durch das Ende des „einfachen“ Soldaten an sich. Während jüngere Genrearbeiten durch die neuen, „unsichtbaren“ Kriege, von Serbien über den Irak bis Mogadischu, das Feindbild gerade deshalb moralisch umso klarer definieren – von den serbischen Schlächtern in John Moores Behind Enemy Lines (2001) bis zu den somalischen Gangster-Kämpfern in Black Hawk Down –, ist es bei Eastwood die bewusste, beinahe schon wieder anachronistische Zusammenführung vom Soldaten, der als Mensch Entscheidungen treffen muss (und nicht als Weltpolizist, Vermittler oder Friedensüberwacher). Dass Eastwood, wie unlängst in einem Gespräch nachzulesen war, sich der Gräueltaten der Japaner in China (und vor allem in Nanjing) durchaus bewusst ist, lässt diesen „guten“ Krieg, wie ihn etwa Spielberg in Saving Private Ryan (1998) zeichnet, noch einmal in einem anderen Licht erscheinen: der Glaube an die gute Sache, für die es sich zu kämpfen gelohnt hat, ist im Nachhinein – wie es etwa der britische Historiker Niall Ferguson in seinem jüngsten Buch Krieg der Welt eindrucksvoll darlegt – so wenig klar nachzuvollziehen wie jener an kriegerische Ursache und Wirkung.

Zeit- und Raumerfahrung

Ursache und Wirkung: genau darum geht es in Flags of Our Fathers und Letters from Iwo Jima gleichermaßen, und damit auch um die alte Frage, was Krieg eigentlich ist. Krieg ist die Ausschaltung des objektiven Blicks, die Orientierungslosigkeit an sich, ist die Subjektive in totaler Konfusion – das jedenfalls behaupten so gut wie einstimmig alle Kriegsfilme nicht erst, aber spätestens seit Saving Private Ryan. Und das behauptet auch Eastwood, doch wird hier Krieg nicht derart erklärt. Denn Krieg ist auch das, was neben diesen Bildern steht, was diese Bilder bewirken. So führen bei Eastwood die Kampfszenen, die Spielbergs als „realistisch“ und „authentisch“ gerühmter Landung in der Normandie durchaus nahe stehen, in beiden Filmen in jeweils unterschiedliche Richtung weiter: in Flags of Our Fathers in die Zukunft, wo sie wiederholt als traumatische Erinnerung auftauchen; in Letters from Iwo Jima in die unmittelbare Gegenwart, wo sie in den engen Gängen der Höhlen gespenstische Schatten an die Wände werfen. Die Erfahrungen des Krieges manifestieren sich, so könnte man sagen, einmal in der Zeit und einmal im Raum. Die amerikanische Perspektive ist jene der Zeit, die den historischen Moment der Flaggenhissung immer aufs Neue wiederholt und in unterschiedlichsten Formen nachstellt (vom Berg aus Pappmaché bis zur Briefmarke und am Ground Zero), sich also immer weiter ausdehnt; die japanische ist jene des Raumes, der von einem steten Verlust befallen ist und der die Japaner immer weiter zum Rückzug zwingt (von der Insel bis in das Innerste der Höhlen). Wo die amerikanische Perspektive das Chaos im erstarrten Moment, also in der Zeit, festhält (die Kampfhandlungen sind während der Flaggenhissung noch im Gange), verlieren sich die Erinnerungen der Japaner im Raum, wo die letzten Briefe in der Erde vergraben werden. Und so sind auch die Ausbrüche zu verstehen: Während sich John Bradley und Ira Hayes immer wieder zurück in die Vergangenheit flüchten, muss für Kuribayashi am Ende der Weg nach draußen führen – den Blick in die rote Sonne gerichtet.