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LETZTES JAHR IN MARIENBAD / L’ANNÉE DERNIÈRE À MARIENBAD

DVD Classics

Letztes Jahr in Marienbad / L'Année Dernière à Marienbad (1961)

| Jörg Becker |
Von der sonderbaren Art eines zeremoniellen Irrealismus des Films „L’Année dernière à Marienbad“ (1961), prätentiös oder ästhetisch revolutionär, waren seine Produzenten zunächst entsetzt. Aber schließlich wurde der Film ein Modeobjekt.

In einem prunkvollen, in seinem Inneren wie von einem alle Räume versiegelnden Firnis überzogenen, kalten Barockschloss, Schauplatz einer mondänen Hotelgesellschaft, bestehend aus steifen, leblosen Wesen, wie vom Sockel gestiegenen Statuen, die eine scheinbar bereits existierende Handlung nachahmen, begegnen einander eine Frau (A) (Delphine Seyrigs erste richtige Kinorolle) und ein Mann (X); er erzählt ihr, dass sie sich bereits letztes Jahr kennengelernt und geliebt hätten, was sie bestreitet; er sei hier, um sie mit sich zu nehmen. Sie weigert sich anfangs, ihren Ehemann oder Geliebten (M) zu verlassen, willigt jedoch schließlich ein und begleitet den Unbekannten in „die stille Nacht“.

Neben der psychoanalytischen Deutung, die Geschichte, nach Freuds Strukturmodell, als einen im Traum stattfindenden Kampf zwischen Lust- und Realitätsprinzip aufzufassen, gibt es die mythologische Interpretation von X als dem Tod, der sein Opfer holt, sowie die Betrachtung der Szenenbilder – der Abfolge ineinander übergehender Hotelsäle oder Blickfluchten durch endlose Flure – als visuelle Metaphern für die durchgängige Differenz zwischen dem Imaginären und dem Wirklichen. Marienbad – „[E]ine Art Nullpunktfilm. Er wimmelt von unvollendeten Gesten, angehaltenen Bewegungen, halben Sätzen und Geschichten.“ (Frieda Grafe: „Alain Resnais’ praktische Filme“, „Filmkritik“ 6/1966) – kennzeichnet eine theatral choreografierte Bildgestaltung, extreme Tiefenschärfe, endlose Kamerafahrten sowie eine über Leitmotive, Wiederholungen und Variationen sichtbare musikalische Montagetechnik, über die sich Resnais der Abbildung des Bewusstseins, einer Vorstellung mentaler Bilder nähert. Das Reale und das Imaginäre, ebenso wie die unterschiedlichen Zeitstufen, lässt er in der Gegenwart des Bewusstseins nahtlos diffundieren, einander überlagern, ununterscheidbar werden, unterstützt von einem mächtigen Orgelklang, der den Film mit einer Aura sakraler Entrückung umgibt.

Der moderne Film ist durch die Krise des Aktionsbildes geprägt: L’Année dernière á Marienbad wurde, laut Gilles Deleuze, zu einem bedeutenden Augenblick dieser Krise. In Marienbad wisse man schon nicht mehr, was eine Rückblende ist, bemerkt der Philosoph in „Das Zeit-Bild. Kino 2“: „Wie lächerlich erscheint die Rückblende im Vergleich mit solch ausdrucksstarken Vorstößen in die Zeit, wie etwa dem lautlosen Gehen über die schweren Teppiche des Hotels in L’Année dernière à Marienbad, mit dem das Bild jedesmal in die Vergangenheit versetzt wird.“ Dagegen begegne man allen möglichen Formen des Imaginären sowie der Simultaneität der verschiedenen Gegenwarten: „Als ob das Reale und das Imaginäre hintereinander herliefen und sich beide im jeweilig anderen in der Nähe eines Ununterscheidbarkeitspunkts spiegelten.“ Man bemerkt die Absenz jeglicher Sukzession einer Handlung, dafür eine Vereinigung aller Phasen des Lebenszyklus – Sehnsuchts- und Angstbilder, Erinnerungsbilder aus paradoxen, hypnotischen und halluzinatorischen Schichten.

Die West-Berliner Ausnahme-Feuilletonistin Karena Niehoff schrieb im September 1961 in ihrem poetischen Venedig-Festival-Bericht „Marienbader Barcarole“: „Der Dichter [Alain Robbe-Grillet] wandert mit dem Regisseur von Hiroshima mon amour, Alain Resnais, in Bayern durch die vasten Hallen und die duftlos geordneten Schlösser von Schleißheim und Nymphenburg, durch die Labyrinthe von hundert Zimmern ohne Funktion; Marmor, Statuen im Park, ein dämonischer Park, scharf gespitzte Baumgnome und Kegel aus der Retorte, selbstherrliche Treppen, Gänge zu neuen Gängen, zu immer neuen lebensungeübten Sälen, Barockskulpturen erstickt in jubelndem Trunk. Warum Marienbad? Weil es fremd und starr und unerreichbar, vor allem: weil der Ort gleichgültig, nur ein Zeichen ist aus dem Geheimcode der eigenen Entdeckungen. (…) Der französische Film, der Film schlechthin, hat hier eine Geistigkeit erreicht, eine Sensibilität der Bildreflexe, des Rhythmus, der Schatten, der Kühle und Hitze, die ein Äußerstes ist: eine Insel, zu der kein Schiff führt, jeder Besucher muss selbst sehen, wie er hinkommt. (…) Ein großer Entschluss: kalt und kostbar.“