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Werner Herzog – Ekstatische Wahrheit. Ein Dossier

Leuchtraketen und kleine Tode

| Dominik Graf |
Werner Herzog: Wahn-Findling unter tropfendem Regenwald-Ochsenblut.

Als deutscher Film-Regisseur schreiben zu wollen über einen anderen, noch dazu einen derart großen deutschen Film-Regisseur, das beinhaltet ein Problem, das sich anfühlt, als würde man mit einem Vier-Zentner-Mann auf einem Baumstamm sitzen und wippen wollen. Angesichts von Werner Herzogs Filmen, die einem fast allesamt wie geborstene Lavanadeln im Urwald der letzten 50 Jahre Filmgeschichte erscheinen, fühlt man sich erstmal schlicht in jeder Hinsicht zu leicht. Deshalb sollte man natürlich auch besser die Klappe halten. Aber die Bewunderung für – und die gleichzeitige Verwunderung über – sein Werk treiben die Worte sozusagen aus einem heraus. Ich durfte mal mit ihm Fußball spielen, es gibt ein Foto davon, 1982, in Hof. Vorne er, dahinter die anderen, ich ganz hinten, unscharf. Ich bin stolz darauf. Ich spielte 20 Minuten, es regnete in Strömen, Herzog-Wetter sozusagen. Ich bekam Gottseidank nur zweimal den Ball, richtete kein Unheil an, und wir verloren trotzdem.

Die größten filmischen Momente sind meist wie Messerstiche, Augenblicke der Wahrheit wie es beim Stierkampf heißt. Auf den Zuschauer wirken sie – wenn sie gelingen – wie kleine Tode. Herzogs frühes Werk ist reich an typisch filmisch-gestisch ganz groß ausholenden Situationen, mit immer gleichzeitiger Betonung der Quellen im kollektiven Unterbewussten. Später, mit mehr Geld und mit Weltstars ausgestattet, da gefror ihm mal sogar ein ganzes Projekt in eine einzige hochaufragende Behauptung. Jene des Fitzcarraldo-Monuments „Schiff über Berg“, die uns in den Achtzigern allein durch die Zusammenbringung dieser beiden Haupt-Wörter – verbunden mit der knappen örtlichen Konjunktion – wie elektrisiert Gigantischstes vermuten ließ. Diese Vermutung wurde dann auch bereits während der Dreharbeiten nachgerade ad hoc durch das bekannte Filmbild direkt aus dem Urwald bestätigt. Da war an ihm schon fast ein Strohheim`scher Mix aus Wahnsinn und cleverster Eigen-Propaganda zu beobachten. Dabei hat er mit Nichts und ganz und gar außerhalb des kommerziellen BRD-Filmsystems angefangen.

Vielleicht als Einstimmung auf die nun folgende kleine subjektive Diashow von Überwältigungen zuerst eine wernerherzogige Szene aus einem Film, der nicht von ihm ist: Brandos berühmter Monolog als Kellertheater-Kinski in Coppolas Apocalypse Now: „Das Grauen, das Grauen! …“, murmel, murmel. Dazu schöpft der alternde Weltstar sich Wasser über die Glatze wie ein Hindupriester, und Martin Sheen taucht kurz darauf aus einem dampfenden Ochsenblut-Tümpel auf. Der Roman des zögernd-skeptischen subtil-brillanten Kolonial-Stilisten Joseph Conrad wird im Coppola-Kino zu Nietzsche in your face. Deutsche Autoren-Großfilmer, die Francis Ford in den 70ern auf seine Veranda eingeladen hatte, haben ihren Abdruck in seinem Werk hinterlassen. Wenders` Hammett, Herzogs Nosferatu, und hier Brando als sozusagen schlechte Kinski-Imitation. Herzog hätte zu den meisten Zeiten seiner Karriere diese Szene besser hingekriegt. Aber das Kino braucht ja andererseits auch übertriebenes Schauspiel, es sehnt sich nach Eigendarstellung im Grenzbereich, jenseits des konsensigen Stimmigkeitgefühls bourgeoiser Geschmäcklerischkeit. Der deutsche Autorenfilm wusste das besonders gut, Fassbinders Welt besteht fast nur aus beinahe virtuos neben der Spur arrangiertem Schau- und Wort-Spiel. Und Herzogs Darsteller waren immer entweder Laien (Liliputaner auf Lanzarote, der unvergessliche Bruno S. etc.) oder Großstars, die er zu jener Spielweise verführte, die man in den USA hammy acting nennt. Zu expressiv-übertriebener, vermeintlich „falscher“, sich selbst geradezu entäußernder Mimik. In dieser Hinsicht sein bislang letzter erstaunlicher Coup: Nicholas Cage in The Bad Lieutenant. Wir kommen noch darauf.

1967: Die Kretischen Windmühlen. Man musste ganz von vorne beginnen im westeuropäischen Kino der Sechziger, man musste sich den Dingen neu nähern, sie neu sehen, den Aufnahmeapparat Kamera nochmal mittels der 16mm-Möglichkeiten überprüfen, den Filmstreifen sozusagen vorsichtig andersartig belichten, alles wie bei einem innovativ unschuldigen Schöpfungsvorgang. Weg mit dem Staub der alten Studio-Filme, weg mit dem Literaturkino und den Dialog-dröhnenden Bühnen-Schauspielern. Selbst die Nouvelle Vague begann damals bereits Falten zu werfen. Regisseure wie Jean Eustache, Wim Wenders, Jean-Marie Straub, vor allem die West-Schweizer Group cinque um Alain Tanner, Soutter und Goretta begannen wie stillschweigend verabredet zu gleicher Zeit aus ihrer finanziellen Armut eine fast archaische, radikale Anmut zu gewinnen, wie sie das Kino bis dahin kaum noch hervorgebracht hatte. Herzogs Lebenszeichen gehörte zu diesen Leuchtraketen. Von mir damals gesehen im Internats-Filmclub, eigentlich noch völlig Kino-desinteressiert, die im Titel nicht genannte romantische Achim-von-Arnim`sche Vorlage, die Herzog in den Zweiten Weltkrieg nach Kreta gebeamt hatte, als langhaariger Bildungsbürger bald erkennend. Dann eine Stunde lang gemeinsam leise Witze machend über die originellen Schauspieler, die sich hier ungewohnt mit Laien mischten, und über die kuriosen, bislang von uns im Kino ungesehenen Situationen im Bild. Und dann wurde unser ahnungsloses Abiturienten-Geflüster jäh unterbrochen von jenem Moment, der viele vor uns und nach uns zum Schweigen brachte. Natürlich der „Zehntausend-Windmühlen“-Blick mit der herzzerreißenden Kithara-Musik des berühmten Stavros Xarchakos. Die wacklige Hand-Kamera, die manchmal selbst zögernd, dann wieder anziehend, ihren Augen nicht zu trauen scheint bei diesem endlosen Schwenk! Die beiden schweigend, vorne im Bild unscharf ringenden deutschen Soldaten dazu, das tonlose Schießen der Hauptfigur in die Luft, weil der Blick in dieses Tal einst auch für den fünfzehnjährigen Herzog mal Grund gewesen war, zu glauben, er würde sofort „wahnsinnig werden“! Dieser Blick hat etwas Erlösendes, eine Schönheit, die völlig aussagefrei ist und absolut tröstlich. Die Windmühlen haben fast jeden von uns Klugscheißern damals für das Kino, sogar für das deutsche, gewonnen.

1974: Kaspar Hauser, auf seinem Sterbebett liegend, spricht: „Ich sehe eine große Karawane … durch die Wüste kommen … durch den Sand. Und diese Karawane … wird geführt von einem alten Berber. Und dieser alte Mann ist blind.“ Vor allem die Westberliner Diktion ist es, die den rührenden Hinterhofmusiker Bruno S. als Kaspar Hauser den Film in die Sterne katapultieren lässt, wenn er auf dem Totenbett die Texte von Herzog aufsagt wie eine leiernde Volksschul-Vorlesung und zugleich wie ein tief beseeltes Mantra.

Und wenn beim tödlich verletzten Kaspar dann Größen wie der damals aufsehenerregende „Männerrechtler“ Volker Elis Pilgrim und der epochale Filmhistoriker Enno Patalas (der das Münchner Filmmuseum zu einer Bedeutung hob, von der es auf ewig zehren wird) am Bettrand stehen, und wenn dann Patalas mit ebenfalls unnachahmlich eigenwilligem Singsang den Sterbenden beruhigt: „Aber Kaspar, das macht doch jetzt nichts. Erzähl ruhig die Geschichte, auch wenn‘s nur der Anfang ist …“, dann vermittelt einem der fremde un-schauspielerische und doch so authentische Ton dieser Texte einen Eindruck von der 140-jährigen Ferne des Geschehens. Das penetrante Sich-gemein-machen-Wollen des üblichen Kostümfilms mit der jeweiligen Jetzt-Zeit und mit möglichst jedweder öder Zeitgemäßheit ist in diesem Film einer strikten Verweigerung gewichen – die damals im Kino befreiend erschien. „Zurück in die Zukunft!“, schien einem Herzog zuzurufen. Wir müssen so etwas wie stattgehabte Geschichte nochmal völlig neu begreifen! Das außergewöhnliche Sammelsurium der Rollenbesetzungen, von Willy Semmelrogge über den Regisseur Reinhard Hauff bis hin zum unverwüstlichen Alfred Edel bezeugte eine herrliche Respektlosigkeit vor jeglicher bis dahin exekutierter „Historizität“ im Kino, und dieser Eigensinn wurde von allen dergestalt umgesetzt, dass einem heute noch das Herz lacht beim Zuschauen. Wenn am Schluss der wunderbare Stadtprotokollant nach erfolgreicher Sektion des Toten glückstrahlend ausruft: „Kutscher, nehme er meinen Hut und fahre er ihn mir voraus nach Hause. Ich will heute zu Fuß gehen – denn heute ist ein guter Tag“, dann wird der medizinische Befund bei der Leiche Kaspar Hausers in seinen Worten zu einem skurril-grausig falschen Happy End sondergleichen.

Die brutale Robert Altman´sche Behauptung, dass Filmregisseure nur zehn richtig gute Jahre am Stück haben, würde de facto bedeuten, dass vor dieser kurzen Blütezeit eines Chef-Regisseurs zumeist nur Dilettantismus und danach nur noch quasi Verwaltung des Oeuvres in Form von weiterem endlosem Gefilme stattfindet. David Thomson beklagt in seinem gewaltigen Filmlexikon lautstark, warum begabte Filmemacher nur immer weiter Filme machen müssen und nicht rechtzeitig aufhören – damit insinuierend, dass spätestens nach erster Einheimsung von Weltruhm bei den meisten nur noch repetierter Mist herauskommt. Und Fassbinder spottete ja auch kurz vor seinem Tod, seine Kollegen vom einstmals jungen deutschen Film seien inzwischen dazu übergegangen, ihre Kritiken zu verfilmen.

Bekanntlich hatte der berühmte Stückeschreiber Henrik Ibsen auf seinem Schreibtisch in einem Glas einen Skorpion, der regelmäßig sein Gift abspritzen musste, um nicht daran zugrunde zu gehen. 1982 musste Herzog seinen Traum von der großen Urwald-Oper Fitzcarraldo („Schiff über den Berg“, Sie wissen schon…) beinahe begraben, Jason Robards, der Hauptdarsteller, wurde krank, Mick Jagger musste zu einer Tournee. Der Film war halb fertig, die wenigen Szenen, die es davon heute noch zu sehen gibt, wirken sehr stark (vor allem Jagger!). Herzog drohte: „… Ich beende mein Leben mit diesem Projekt …“ Zur Re-Animation eilte Klaus Kinski herbei, bis dahin schon dreimal des Regisseurs geliebt-gehasster Star, und gab in weißblonder Punkfrisur à la Sting eine anrührende Performance. Am Ende war der Traum gedreht, war der Film geschafft – aber lebte er noch? War dieses Heldenenpos nicht doch eine Art Wiederholungstat gewesen, zwar höher und weiter als je zuvor, aber …?

Denn 1972 war Herzog mit Klaus Kinski ja bereits einmal in Südamerika gewesen, zu Aguirre – der Zorn Gottes. Damals schon Streit ohne Ende zwischen den beiden, mutwillige Toilettenbeschädigung im Urwald, Ballereien und Morddrohungen. In der tollen Fitzcarraldo-Doku Burden of Dreams wird behauptet, Herzog habe Kinski damals vor den Takes immer absichtlich provoziert, damit der sich dann sogleich bis zur Erschöpfung über ihn ereiferte, um schließlich angenehm entkräftet in die nächste Szene zu gehen.

„Ich, der Zorn Gottes, werde meine eigene Tochter heiraten und mit ihr die reinste Dynastie gründen, die je die Erde gesehen hat.“ Der Satz des irre gewordenen Aguirre/Kinski auf seinem Floss der Toten klingt uns natürlich nach allem, was wir heute wissen, noch befremdlicher als damals schon. Was hatte Herzog an Kinski? Der permanente Kontrollverlust des Stars war ja auch eine Variante von schauspielerischer Improvisation, jeder unwiederholbare Wutanfall war wie sein ganzes Spiel an sich, war sowohl Gift-Abspritzkur als auch Energiestoß für‘s Kräftemessen der beiden. Regisseur und Schauspieler fingen an, einander zu durchdringen. Herzog hatte sogar erwogen, den Fitzcarraldo selbst zu spielen. Weltschöpfer-Kontrolle und ersehnter Kontroll-Verlust direkt nebeneinander in seinen Filmen: Einmal ließ Herzog Darsteller – der junge Sepp Bierbichler darunter, aber auch Laien – unter Hypnose spielen.

Ich weiß ja gar nicht, wie man eine solche Filmografie von Großtaten hingebastelt bekommt. Die Energie-Reserven des Großmeisters sind einem TV-Konfektionär wie mir unerklärlich. Herzogs Filme werden weiter faszinieren für alle Zeiten, und man möchte trotzdem nicht in seiner Haut stecken. Denn diese Art Größe muss zu Lebzeiten ausdauernd gepflegt werden. Und ich vermute, das ist auch oft eine Mühsal. „Götterklein“ war jener Begriff, der dem großen Mythologen Aby Warburg angeblich bei einem Abendessen mit Freunden einfiel und ihn so zum Lachen brachte, dass er daran erstickte. „Götterklein“, eigentlich das Geschäft, das Herzog betreibt, Mythen wie auf einer Parmesanreibe zerhäckselt, dann wieder neu zusammengesetzt.

2009, als man schon glaubte, Herzog habe seine Regie-Aura endgültig aufs Dokumentierende verlegt, auf Grizzlymänner und jedwede Crazy-World-Filme, zwar immer wieder überraschend, aber wie einst Nicolas Roeg so schön sagte: „Auch das Unerwartete darf nicht erwartet werden“… – just da zeigte Herzog, wie man sich aus allen selbst gestellten Fallen befreien kann: Bad Lieutenant – Port of Call New Orleans war eine Independent-far-out-of-Hollywood-Spielfilm-Volte, war das scheinbar nutzlose Remake eines kaum besser hinzukriegenden Films von Abel Ferrara. Absurd, dachte man, als das Projekt auftauchte, was will Herzog damit? Ferrara schäumte – natürlich zu Recht. Aber der Film war eine faustdicke Überraschung. In giftigsten Sumpf- Farben (Kamera: WHs Best Man Peter Zeitlinger) und zu hypnotischen Klängen (Mark Isham) unterzog Herzog den Südstaaten-Cop-Thriller einer General-Revision, dabei unterstützt vom Wirbelsturm Kathrina, der New Orleans die passende biblische Untergangsstimmung verpasste. Und die Leguane und Alligatoren im Bild-Vordergrund bewegen sich hier schon manchmal vorausahnend wie im 3D der Höhle der vergessenen Träume von 2010.

Das „Making of“ dieses Films ist daher auch so ganz anders als andere Filmchen dieses Ettiketts, denn Herzog zeigt sich als Regisseur absolut in seiner eigenen Liga, und in First-Class-Form. „Ich bin der Letzte zwischen den Schauspielern und der Kamera“ sagt er zum Beispiel und schlägt deshalb auch immer die Klappe selber, egal in was für halsbrecherischen Situationen. Das sollte man mal all den Regisseuren zeigen, die sich hinter ihrer Video-Ausspielung verstecken und von dort aus mit den Schauspielern rufend kommunizieren. Und man muss auch Val Kilmer gesehen, nein, gehört haben wie er mit deutschem Akzent Herzogs Tonfall imitiert : „….Kathrina is like a tempest in a tea house compared to my inner monologue.“

Und auch in diesem Film: ein ganz wilder roher Moment, wie aus einem irren, vergessenen, primitivistischen Actionfilm der Sechziger ist der, wenn neben einem erschossenen Drogenbaron plötzlich ein Doppelgänger einen irrlichternden Break-Dance auf dem Kopf vollführt.   „Seine Seele tanzt noch“ erklärt man dem „bösen Leutnant“ Nicholas Cage, der uns vorher 110 Minuten lang mit einer verzweifelten Drogen- Performance erfreut hat. Genrekino wie aus einem filmischen Geisterreich. War natürlich sofort mein Lieblings-Herzog – was nach über 40 Jahren Filmemachen den Altman-Satz gewaltig Lügen straft.

Und so ist vielleicht die Grundbewegung des Großmeisters jene von Seite 33 aus „Vom Gehen im Eis“, dem Tagebuch vom Frühwinter 1974, als es ihn zu Fuß zur schwerkranken Lotte Eisner drängte, um sie mit seiner Wanderung zu retten: „Ach, es ist ein so harter Weg, und der Wind kommt so gerade mit dem brennenden Schnee ins Gesicht, ganz waagrecht. Und meist geht es aufwärts, aber auch abwärts tut alles weh. Ich bin ein Skiflieger, ich lege mich auf den Sturm, weit vorgelegt. Die Zuschauer ringsum sind ein Wald, zur Salzsäule erstarrt, der Wald reißt den Mund auf. Ich fliege und fliege und höre nicht auf.“