Leviathan

Leviathan

| Alexandra Seitz |

Was Sie schon immer über die moderne Hochseefischerei wissen wollten, aber nie zu fragen wagten.

Worum geht’s? Was ist los? Was soll der Krawall? Kennt sich einer aus? Was genau passiert hier und warum?
Alles legitime Fragen, die einen spätestens nach, sagen wir mal, fünf Minuten befallen – und in der Folge immer drängender werden. Leviathan von Lucien Castaing-Taylor und Véréna Paravel fährt einem gleich zu Beginn, verzeihen Sie den Ausdruck, mit dem Arsch ins Gesicht. Audiovisuelle Kakophonie, Radau. Oben und Unten? Hinfällige Kategorien! Raum und Zeit? Haha! Erst einmal nämlich wird man einfach mitgerissen in einen machtvollen Taumel, einen gewaltigen Strudel aus einfach nur so da seienden Bildern und Tönen, die sich ganz allmählich, ganz, ganz allmählich erst zu etwas ordnen, das zum einen eine Arbeitswelt ist und zugleich ein mythischer Raum.
Begonnen hatte alles in New Bedford, Massachusetts, unsterblich geworden durch Herman Melvilles „Moby Dick“. Filmemacher Castaing-Taylor, studierter Anthropologe und Begründer des Sensory Ethnography Lab an der Universität Harvard, wollte der Legende der einstigen Welt-Hauptstadt des Walfangs in ihrer ärmlichen Gegenwart nachspüren. Dann begaben er und Kollaborateurin Paravel sich im Rahmen eines Fischzuges auf die hohe See 200 Meilen vor der Küste. Und änderten den Plan.
Auf mehreren Reisen von insgesamt zwei Monaten Dauer entstand das Material, das Leviathan ist. Gedreht mit vergleichsweise billigen, kleinen Digitalkameras, die einfach mitten ins Geschehen geworfen wurden. Sie wurden an Arbeitern befestigt und an auf Deck herumtreibendem Fang, sie wurden an Leinen geknüpft und über Bord gelassen, an Holzstangen genagelt und ins Wasser getaucht. Castaing-Taylor nennt dieses Verfahren der Bildherstellung (man könnte auch sagen: des Bilderfischens) „die Autorschaft verteilen“. Paravel meint, die Kamera verschiedene Rollen übernehmen zu lassen und die auf diese Weise entstehenden, unterschiedlichen Perspektiven anschließend miteinander zu verknüpfen, ermögliche die Darstellung der Totalität einer Erfahrung: die Vermittlung des Daseins an einem spezifischen Ort.
Ort des Geschehens ist der Fischkutter, dargestellt wird die Brutalität der Arbeit in der kommerziellen Fischerei. Müdigkeit und Erschöpfung, Kälte und Nässe. Ödnis. Das mechanische Töten und das massenhafte Sterben. Fressen und Gefressenwerden. Aus all dem entsteht schließlich ein atmender Organismus: das biblische Seemonster, das den Ozean durchpflügt und alles Leben mit sich reißt.