Die Viennale findet zum 61. Mal statt. Ein Überblick.
Nach dem sechzigsten Jubiläum im Vorjahr hat sich bei der Viennale nicht viel geändert – auch 2023 bringt das größte heimische Filmfestival unter der Direktion von Eva Sangiorgi wieder einen Mix aus ernsthaften Filmen mit sozialpolitischem Anspruch und Crowd-Pleasern. Ebenfalls gleich geblieben sind die Spielstätten, in die sich Wiens Cineasten zu Herbstbeginn begeben werden: Gartenbaukino, Stadtkino im Künstlerhaus, Urania, Österreichisches Filmmuseum und METRO Kinokulturhaus.
Ein Fixpunkt ist auch die traditionelle Retrospektive, die es ermöglicht, tief in das Werk von Filmkünstlern einzutauchen. Diesmal ist die gemeinsam mit dem Österreichischen Filmmuseum zusammengestellte Werkschau dem vielseitigen Regisseur Raúl Ruiz (1941–2011) gewidmet. Ruiz, der 1941 in Chile geboren wurde und 1973, kurz nach dem Putsch, nach Frankreich ins Exil ging, inszenierte über 100 Filme (darunter auch Kurzfilme, TV-Serien, Videos), war am Theater tätig, verfasste filmtheoretische Bücher und war mit seinen Spielfilmen regelmäßiger Gast bei renommierten Filmfestivals. Seinen Werken wohnt oftmals etwas Rätselhaftes, Verspieltes inne; politische und soziale Beobachtungen spiegeln sich darin ebenso wider wie Reflexionen über Genre und das Medium an sich. Ab den neunziger Jahren drehte Ruiz immer größere Filme mit prominenter Besetzung, darunter etwa der bei der Viennale laufende Généalogies d’un crime (ein kriminalistisches Vexierspiel aus dem Jahr 1997, das u. a. Hitchcock und Truffaut Reverenz erweist) mit Catherine Deneuve (die in dieser „ray“-Ausgabe übrigens gleich mehrfach auftaucht) und Michel Piccoli. Trotz seines Renommees sehen Viennale und Filmmuseum Ruiz – aufgrund des experimentellen Charakters seiner Kunst sowie der insgesamt geringen kommerziellen Verbreitung der Filme – als insgesamt zu wenig beachteten und oft nicht verstandenen Künstler. Die Retrospektive umfasst rund vierzig Arbeiten, darunter einige Raritäten, die dank des Engagements von Ruiz’ Weggefährten erst vor kurzem restauriert beziehungsweise vollendet werden konnten. Dazu gehört etwa der semi-dokumentarische, die politischen Gegensätze Chiles reflektierende Film El Realismo socialista considerado como una de las bellas artes (1973/2023), der lange nur in fragmentarischer Form vorhanden war.
Einen Blick in die Filmgeschichte unternimmt auch die aus zwei Schienen bestehende Reihe Kinematografie. Die eine trägt den Titel „Widerstand, Erinnerung, Neuerfindung“ und widmet sich, passend zur Ruiz-Retro, fünf Jahrzehnten chilenischen Kinos (der Putsch jährt sich heuer zum 50. Mal).
Außenseiter
Die andere, vom Filmarchiv Austria verantwortete Schiene ist mit „Keine Angst“ betitelt und steht im Zeichen des österreichischen Kinos der achtziger Jahre – jenem Jahrzehnt, in dem Filmförderung, noch junge Absolventen der Filmakademie und neu etablierte Programmkinos die hiesige Filmlandschaft veränderten. Aus dem Programm hervorgehoben sei besonders Angst (1983) von Gerald Kargl, den die Viennale in restaurierter Fassung zeigt. Der intensive Psychothriller basiert auf den Taten des 1946 geborenen Serienmörders Werner Kniesek, der während eines Hafturlaubs aus reiner Lust am Morden eine dreiköpfige Familie folterte und tötete. Der an der Psyche des Mörders interessierte Kargl und der polnische Kameramann Zbigniew Rybczyn´ski fingen die Ereignisse – mit dramaturgischen Freiheiten – innovativ ein: Eine subjektive Kamera versetzt sich in die Perspektive des von Erwin Leder dargestellten Mörders, dazu sorgen u. a. Kranaufnahmen und Seilsysteme für damals sehr ungewöhnliche Blickwinkel. Kargl finanzierte den Film, dem ein Budget von umgerechnet etwa 400.000 Euro zugrunde lag, selbst – und war aufgrund des finanziellen Misserfolgs, der dem Film im Kino widerfuhr, auf Jahre hinaus verschuldet. Allerdings konnte der visuell talentierte Kargl (der den Großteil des österreichischen Filmschaffens als nicht sehr interessant betrachtet und auch das Fehlen von Genrekino bemängelt) danach mehr als 100, oftmals preisgekrönte Werbe- und Unterrichtsfilme drehen, die ihn wieder sanierten. Angst, der aufgrund expliziter Gewaltszenen damals in England und Deutschland verboten wurde, aber etwa in Frankreich über die Jahre Kultstatus erlangte, ist bis dato leider Kargls letzter Spielfilm geblieben. Schade, lässt sich doch hierzulande durchaus ein Mangel an Mavericks mit Liebe zum Genrekino konstatieren. Dem Begleittext zum Programm, wonach die Achtziger nicht als die beste Zeit in die Geschichte eingehen, werden allerdings manche, die sie erlebt haben (und sich noch an sie erinnern können), widersprechen – nicht alles war Tschernobyl und Politskandal. „Keine Angst“ umfasst insgesamt fünfzehn Programme, wobei fünf davon auf der Viennale laufen.
Die diesjährige Monografie ist dem französischen Duo Nicolas Klotz und Elisabeth Perceval gewidmet, das in seinen Werken ein Herz für Außenseiter und marginalisierte Gruppen zeigt. Die philosophisch-politschen Filme entstehen dabei auf der ganzen Welt, u. a. in Flüchtlingslagern, wie der im „Dschungel von Calais“ gedrehte Dokumentarfilm L’héroïque lande (2017).
Nun zum Hauptprogramm: Dort ist der deutsche Altmeister Wim Wenders, Jahrgang 1945, gleich zweimal vertreten. Der preisgekrönte Regisseur hatte im Spielfilmbereich ja spätestens seit dem Science-Fiction-Epos Bis ans Ende der Welt (1991) oftmals Kritik einstecken müssen, vorgeworfen wurden ihm u. a. Inhaltsleere und Prätention. Wenders blieb davon unbeeindruckt – und produktiv. Die Anerkennung, die ihm beim Spielfilm mitunter versagt blieb, holte er sich in den Folgejahren auf dem Gebiet des Dokumentarfilms: Für Buena Vista Social Club (1999), Pina (2011) und Das Salz der Erde (2014) gab es jeweils Oscarnominierungen, dazu kam Lob für die technischen Aspekte der Filme. 2023 hat Wenders auch wieder einen Spielfilm gedreht, der auf einhellige Zustimmung der Kritik stieß und der nun bei der Viennale als Österreich-Premiere zu sehen sein wird: Der in Japan gedrehte Perfect Days, der Vignetten aus dem Leben eines Putzmannes zeigt, holte in Cannes den Preis für den Besten Hauptdarsteller Ko¯ji Yakusho sowie den Preis der Ökumenischen Jury für Wenders. Der Protagonist, der eine starke Leidenschaft für Musik und Literatur hegt und in seiner Freizeit gern Bäume fotografiert, ist die passende Figur für ein Werk, das sich Gedanken über die Suche nach Schönheit im Alltag macht – und vielleicht auch ein klein wenig ein Selbstporträt des ebenfalls gerne fotografierenden Regisseurs darstellt. Perfect Days wurde von Japan übrigens als Oscar-Kandidat auserkoren – dass das Land erstmals einen Film ins Rennen schickt, bei dem kein Japaner Regie führte, darf schon als besondere Ehre für Wenders gewertet werden.
Der zweite Wenders-Film im Programm ist eine noch deutlichere Reflexion über die Entstehung von Bildern: Im Dokumentarfilm Anselm – Das Rauschen der Zeit steht der deutsch-österreichische Maler und Bildhauer Anselm Kiefer, Jahrgang 1945, im Mittelpunkt. Der in 6K gedrehte 3D-Film ist ein bildgewaltiges Porträt des Künstlers, der sich in seinem vielfältigen Schaffen bevorzugt mit deutschen Mythen und deutscher Geschichte auseinandersetzt. Für das Porträt, das die Grenzen zwischen Film und Malerei verwischen will – der Übergang von der Leinwand zur Kinoleinwand ist fließend –, erhielt Wenders gleichfalls hervorragende Besprechungen. Ein ausführliches Interview mit Wim Wenders zu Anselm können Sie auf Seite 56 in diesem Heft lesen.
Ein mit 63 Fast-schon-Altmeister ist Christian Petzold, der in seinen komplexen Werken den Intellekt mit dem Herzen zu vereinen weiß: Im neuen Werk des Deutschen, Roter Himmel, gibt der Österreicher Thomas Schubert einen Schriftsteller in Schaffens- und Liebesnöten. Das ist an dieser Stelle natürlich allzu verknappend erzählt, daher können Sie im nächsten Heft ein ausführliches Interview mit Christian Petzold zum Film, der den zweiten Teil einer geplanten Trilogie markiert, lesen. Bei der Berlinale wurde Roter Himmel mit dem Großen Preis der Jury geehrt.
Ebenfalls von einem Altmeister (Jahrgang 1948) stammt Le grand chariot: Der Franzose Philippe Garrel erzählt am Beispiel einer prekären Puppenspielerdynastie ebenso von der Kraft wie von der Bürde, die Familie und künstlerische Ambitionen mit sich bringen. Viel Lob erhielt auch Kameramann Renato Berta, der die Magie des Puppenspiels mitreißend einfing. Noch nicht so alt (Jahrgang 1977), aber auch ein Meister ist der Rumäne Radu Jude, ein regelmäßiger Viennale-Gast. Mit dem Spielfilm Nu astepta prea mult de la sfârsitul lumii (Do Not Expect Too Much of the End of the World) spielt er ebenso auf den rumänischen Spielfilm Angela merge mai departe (1981, R: Lucian Bratu) um eine einsame Taxifahrerin an, wie er anhand einer unterbezahlten Produktionsassistentin, die ein Video über Sicherheit am Arbeitsplatz produzieren soll, von einem ausgebeuteten Rumänien erzählt.
An dokumentarischen Arbeiten dabei sind u. a. El Eco (Das Echo) – die salvadorianisch-mexikanische Regisseurin Tatiana Huezo begleitet drei Familien in einem abgelegenen nordmexikanischen Dorf, wobei vor allem das intensive Aufwachsen der Kinder im Mittelpunkt steht – und Notas para una película, in dem der Chilene Ignacio Agüero Piwonka von der Veränderung der Region Araucanía, auch bekannt als „chilenische Schweiz“, am Ende des 19. Jahrhunderts erzählt. Ein Fixpunkt des Viennale-Programms sind seit jeher Musikdokus: Diesmal ist etwa ein dokumentarisches Porträt der amerikanischen Musikerin und Aktivistin Joan Baez (Joan Baez – I Am a Noise, Regie: Karen O’Connor, Miri Navasky, Maeve O‘Boyle) mit dabei.
Einer der österreichischen Beiträge im Hauptprogramm ist Jessica Hausners Club Zero, der heuer im Wettbewerb von Cannes lief, dort aber leer ausging und von der Kritik recht verhalten aufgenommen wurde. Man wird sehen, wie das Publikum bei der Österreich-Premiere auf die Gesellschaftssatire um eine manipulative Lehrerin (Mia Wasikowska), die an einer britischen Eliteschule einen gefährlichen Kult aufbaut, reagiert. Dass Hausners Stamm-Kameramann Martin Gschlacht jedenfalls wieder gewohnt ästhetische Bildkompositionen gefunden hat, kann man dem Trailer entnehmen. Weitere österreichische Beiträge sind unter anderem Sudabeh Mortezais Drama Europa, in dem es um die Machenschaften eines fiktiven multinationalen Konzerns in Albanien geht und Pavel Cuzuiocs Dokumentarfilm Cosmosapiens, der eine Gruppe von Astrophysikern im Kaukasus beim Philosophieren einfängt. Ebenfalls vertreten ist Timm Krögers Die Theorie von allem – zur deutsch-österreichisch-schweizerischen Koproduktion, die in Venedig ihre Uraufführung erlebte, konnten Sie im September-„ray“ ein ausführliches Interview lesen.
Die Viennale-Zentrale, in der Filmfans gar nicht mal so selten Filmschaffenden begegnen können, schlägt ihre Zelte wieder in der Kunsthalle auf. Dort geben sich Musik-Events, Talks, Meetings und Branchentreffen ein Stelldichein.
Das Festival-Sujet ist diesmal übrigens dem Thema Licht gewidmet – vielleicht bietet das filmische Programm ja durchaus den einen oder anderen „erhellenden“ Moment.